Noch ein paar CERN-Teilchen und ein Akronym

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Nicht nur die physikalische Materie lässt sich zertrümmern – das geht recht gut auch mit geistigem Material wie Sprache und Text. Bei einem Akronym beschreitet man den entgegengesetzten Weg: Aus den Kernteilchen der Schrift, den Buchstaben, entstehen neue Gebilde.

Im vorangehenden Beitrag habe ich mich mit den neuen Entdeckungen am CERN in Genf befasst. Dazu möchte ich noch etwas nachtragen, was das Schreiben angeht. Bei den physikalischen Versuchen im Teilchenbeschleuniger geht es ja darum, in den kleinstmöglichen Bereich der Materie vorzudringen. Etwas Ähnliches kann man auch mit der Sprache machen. Wo landen wir, wenn wir Texte gewissermaßen zertrümmern? Zuerst kommen wir zu dem, was ich GedankenModule* nenne; üblicherweise sind das in Büchern und Artikeln die Absätze. Diese lassen sich weiter zerlegen in Sätze, diese in Wörter, diese in Silben und diese schließlich in Buchstaben. Die Surrealisten haben das mit größtem Vergnügen gemacht – der dem Surrealismus verwandte Dadaismus bezieht genau aus diesem Effekt seinen Namen: “da da” ist eine im Grunde sinnlose Aneinanderreihung zweier Silben.
* GedankenModul – das ist ein zusammengesetztes Hauptwort, dessen zweiter Begriff mittem im Kompositum durch einen Großbuchstaben hervorgehoben wird. Mit solchen BinnenVersalien befasse ich mich ein andermal genauer. Manche Leute nerven solche BinnenVersalien. Ich verwende sie gerne. Auf jeden Fall lohnt sich ihr Einsatz gerade für Leute, die im Internet schreiben!

Man kann jedoch auch den umgekehrten Weg gehen. Das Akronym CERN ist dafür ein schönes Beispiel. Ein Akronym (aus griechisch: ákros =  die Spitze, der Rand und nomos = der Name, das Wort) ist ein Begriff, der aus den Anfangsbuchstaben anderer Wörter gebildet wird. Besonders eindrucksvoll ist es, wenn der neue Begriff in sich selbst auch noch einen (neuen) Sinn macht: CERN (Conseuil Européen pour la Recherche Nucléaire – frei übersetzt: Centrum Europas für Recherchen zur Nuklearphysik) hat in der Tat etwas mit Kernen zu tun – nämlich den Kernbausteinen der Materie.

 

Das Internet als Teilchenbeschleuniger für Gedanken

Ein ganz anderer Schatz von CERN, so denke ich, ist die von Tim Berners Lee entwickelte graphische Oberfläche des Internets mit dem html-Code: gewissermaßen das Psychosoziale Feld und der Teilchenbeschleuniger für Gedanken resp. Informationen. Für das Schreiben, speziell im Internet, war das ab den 1990er Jahren so etwas Ähnliches wie die Kambrische Explosion (s.u.) für die Evolution des Lebens.

Mein CERN-Experiment

Nun ein kleines Schreibspiel, wie ich es in meinen Seminaren gerne mache. Es soll zu Beginn das Kenenlernen erleichtern:
° Die Teilnehmer schreiben auf einem großen Blatt ihren Namen (Vornamen und so viele Buchstaben vom Familiennamen, dass zehn Lettern verfügbar sind) senkrecht hin.
° Danach lassen sie sich, ohne viel nachzudenken, zwei oder drei neue Begriffe zu jedem der Anfangsbuchstaben einfallen, die mit dem selben Buchstaben beginnen.
° Aus diesen neuen Begriffen wird dann ein minimalistischer kurzer Text improvisiert. Minimalistisch insofern, als außer den vorgegebenen Wörtern möglichst wenig zusätzliche Verben etc. eingeführt und möglichst auch die Reihenfolge der Wörter beibehalten werden soll.

Passend zum Thema dieses Beitrags und damit das Ganze nicht zu umfangreich ausfällt, habe ich als Startwort “CERN” gewählt. Zuerst also die von mir dazu spontan assoziierten neuen Wörter:

C Circus Christus Cäsar
E Esel elegant Eros Erfolg Ethanol Ether Empörung
R Religion Rüstung Raumfahrt Resultat
N Nordpol Nadir Neugier

Im zweiten Teil des Experiments werden aus den Begriffen kurze Sätze gebildet, die durchaus sinnvoll sein dürfen – aber auch nonsense im britischen Sinne:

Im Circus rennt der Esel unaufhörlich im Kreis um die Arena.
Er sucht nach einer neuen Religion, die die Eiseskälte des Nordpols zusammenbringt mit dem Nadir des wärmelosen Kosmos.
Ist er Christus oder Cäsar?
Fraglos folgt er ruhelos seiner Neugier und dem Erfolg.
Aber Rüstung und Raumfahrt wecken elegante Empörung von Zeit zu Zeit.
Denn er vermisst den Eros.
So ersäuft er den Kummer seiner statistischen Kurven mit Ethanol und Ether.
Das nenne ich circuläres Resultat robuster religiöser Neugier.

Das ist doch schon was – sicher nicht schlechter, als manches Gedicht von Günter Grass, das in jüngster Zeit Furore machte. Ist es überhaupt ein Gedicht? Egal. Mir hat´s Spaß gemacht. Probieren Sie es auch mal!
Dieses Akronym-Spiel kann man übrigens gut einsetzen, wenn man mit einem Text oder Thema einmal nicht weiterkommt. Wenn die Schreibblockade nicht zu massiv ist, lässt sie sich hiermit recht effektiv auflockern.

 

Labyrinthologisches

Wie so oft hat der Zufall mir wieder etwas Eindrucksvolles geliefert. Noch unter dem Eindruck der Geschehnisse am CERN um die vermutliche Entdeckung des Higgs-Bosons, geriet ich am Sonntagabend in eine Sendung auf ARTE mit dem Neugier erregenden Titel “Big Bang im Labor”. Es handelte sich um eine Bericht über den aktuellen Stand der Kosmologie und Quantenphysik. Nach einem kurzen Blick nach Genf und dem aktuellen Hype, leitete man über zu einer komprimierten Tour de force durch die Entwicklung des Lebens im Universum:
° Vor 13,7 Milliarden Jahren Entstehung des Universums;
° vor 4,5 Miliarden Jahren Entstehung der Erde;
° vor 3,5 Milliarden Jahren Entstehung des Lebens auf der Erde;
° vor etwa 543 Millionen Jahren die Kambrische Explosion (das fast gleichzeitige, erstmalige Vorkommen von Vertretern fast aller heutigen Tierstämme binnen 5 bis 10 Millionen Jahren zu Beginn des Kambriums);
° vor 2,5 Millionen Jahren entstehen unsere ersten menschenähnlichen Vorfahren;
° vor frühestens 1,9 Millionen Jahren erscheint auf diesem Planeten der erste echte Mensch (Homo ergaster);
° vor 400.000 Jahren entwickelt sich daraus der Homo heidelbergensis, aus dem wiederum Neanderthaler und Homo sapiens entstehen – unsere unmittelbaren Vorfahren;
° vor 40.000 Jahren erfolgt der “kreative Urknall” (Spiegel), in dem alle Formen von Kultur entstehen resp. sich weiterentwickeln (Höhlenmalerei, Totenkulte, neue Waffen);
° vor rund 5.000 Jahren entstehen an mehreren Orten urtümliche Schriftsysteme – und vermutlich nahezu gleichzeitig  des Labyrinth-Symbol kretischen Stils (mit einem einzigen Gang).

Ich führe dies alles an, weil dann nämlich im Film, im Zusammenhang mit unseren unmittelbaren Vorfahren, dieser Satz fiel (zu dem als Illustration ein Irrgarten gezeigt wurde):

Die Geschichte unserer Herkunft ist nicht geradlinig, sondern ähnelt einem Labyrinth.

Das ist doch eine prächtige Verbindung von CERN über das Schreiben (des Akronyms) zum Labyrinth-Thema.

 

Zufälle

Noch eine kleine Anmerkung zu Zufällen. Im CERN will man ja möglichst ausschließen, dass die im Teilchenbeschleuniger gewonnenen Ergebnisse rein zufälliger Natur sind. Als Maß für Zufall (siehe den vorangehenden Beitrag) gilt ein Wert, der geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, neunmal hintereinander die selbe Zahl zu würfeln.

Wie sieht es mit der Wahrscheinlichkeit aus, zweimal sechs Richtige im Lotto zu gewinnen? Das sollte man mal ausrechnen (ich bin kein Mathematiker). Jedenfalls ist das schon mehreren Lottospielern gelungen, darunter einem Münchner Rentner. Ein extrem unwahrscheinlicher Vorgang – aber er kam schon mehrere Male vor.

Aber so richtig unwahrscheinlich ist es, dass auf irgendeinem Planeten im Universum intelligentes Leben entstehen konnte und dass deshalb Sie (ja Sie!) diese Zeilen lesen und verstehen können. Mit diesem Problem quälen sich die Kosmologen und versuchen, mit der Annahme des Anthropischen Prinzips ihren grübelnden Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Ist aber gar nicht so einfach. Deshalb dachten sich die String-Theoretiker etwas ganz Feines aus: Parallele Universen. Im Multiversum ist einfach alles wahrscheinlich und möglich. Man braucht nur genügend Dimensionen und Würfelversuche. Man darf nur nicht darüber grübeln, worin dies alles enthalten sein könnte. Dann klappt das schon.

Ich kann es nicht nachrechnen – aber die Wahrscheinlichkeit für unsere Evolution ist nach meiner groben Schätzung weit geringer, als neunmal hintereinander dieselbe Zahl zu würfeln. Ob das die 5.000 Physiker beim CERN wissen? Nachgerechnet hat das übrigens Reinhard Breuer in seinem Buch “Das Anthropische Prinzip”. Aber da dieses Werk beim Umzug zunächst einmal in ein Schwarzes Loch gefallen ist, kann ich das jetzt leider nicht nachrecherchieren.

Quellen
Berners-Lee, Tim: Der WEB-Report. (San Francisco 1999). München 1999 (Econ)
Breuer, Reinhard: Das anthropische Prinzip. München 1981 (Meyster)
Guerin, Franck und Emmanuel Leconte: (Regie): “Big Bang im Labor”. ARTE*-Sendung am 24. Juli 2012, 20:15-21:00 Uhr

Auch ARTE ist ein sehr hintersinniges Akronym. Es ist die Zusammenziehung des französischen Namens “Association Relative à la Télévision Européenne” = “Zusammenschluss bezüglich des europäischen Fernsehens”). ARTE wurde gegründet, um auf hohem Niveau deutsche und französische Sendungen zu verbreiten, die sich Kultur und Kunst (französisch “l´art“) widmen. ARTE ging am 30. Mai 1992 auf Sendung.

Schauen Sie bitte gelegentlich auch mal in die früheren Beiträge dieses Blogs rein! Hilfreich sein könnten vor allem Willkommen im Labyrinth des Schreibens und die Zeittafel. Die wichtigsten Personen und Begriffe werden erläutert in Fünf Kreise von Figuren sowie im Register dieses Blogs.

211 / #776 / 1336 / BloXikon: Akronym / Zufall

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

1 Kommentar

  1. Zufall

    Als Maß für Zufall (siehe den vorangehenden Beitrag) gilt ein Wert, der geringer ist als die Wahrscheinlichkeit, neunmal hintereinander die selbe Zahl zu würfeln.

    Man kommt hier wohl mit Sigma 5-6.
    Zudem ist die Modellierung nicht unproblematisch, d.h. man muss mehrfach “springen”.

    BTW, hierzu wollte der Schreiber dieser Zeilen immer schon mal ein Lob aussprechen.

    MFG
    Dr. Webbaer

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