Halb voll oder halb leer? – Frag‘ doch mal die Maus

Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2021 in der Kategorie Biologie veranschaulichte Viktoria Siewert, was sie in ihrer Promotion erforscht hat.


„Ist das Glas halb voll oder halb leer?“ Die Antwort auf diese Frage verrät uns, wie unser Gegenüber die Welt sieht: optimistisch oder pessimistisch. Mit ein paar Tricks können wir dies nun auch Tiere fragen – und ihre Antwort gibt uns bislang unbekannte Einblicke in die tierische Gefühlswelt.

Tiere können uns nicht einfach sagen, wie es ihnen geht. Wer ein Haustier besitzt, ist sich wohl trotzdem sicher: Auch unsere tierischen Begleiter haben Gefühle! Mittlerweile kommt die Wissenschaft zum gleichen Schluss: Tiere haben ganz ähnliche Emotionen wie wir Menschen – sie können ängstlich sein, sie können sich freuen, und manche lieben es sogar, wenn wir sie am ganzen Körper kitzeln. Die große Herausforderung liegt allerdings darin, zu erkennen, wann es einem Tier tatsächlich gut, und wann schlecht geht. Genau das ist die Aufgabe der so genannten Wohlergehensdiagnostik.

©Abteilung für Verhaltensbiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Stellen wir uns einmal vor, eine männliche Ratte begegnet einem Eindringling in ihr Territorium – eine eindeutig stressige Situation. Wie können wir mit wissenschaftlichen Mitteln feststellen, dass die Ratte tatsächlich gestresst ist? Wir könnten zunächst ihre Pulsfrequenz messen. Diese dürfte stark erhöht sein – wir kennen wohl alle das Gefühl, dass unser Herz in stressigen Situationen schneller pocht. Auch können wir die Konzentration von „Stresshormonen“ im Blut der Ratte messen. Bestimmte Hormone, darunter Kortikosteron und Adrenalin, schüttet der Körper nämlich in aufregenden Situationen vermehrt aus – man denke an den „Adrenalin-Kick“ bei einer Achterbahnfahrt. Diese „Stresshormone“ helfen dem Körper der Ratte dabei, Energiereserven zu mobilisieren, die sie für einen bevorstehenden Kampf mit dem feindlich gesinnten Artgenossen benötigt. Wir fassen also zusammen: Sind Pulsfrequenz und Konzentration von „Stresshormonen“ erhöht, können wir darauf schließen, dass die Ratte gestresst ist – oder etwa nicht? Leider ist es nicht ganz so einfach! Stellen wir uns einen anderen Fall vor: Unsere Ratte begegnet nun einer besonders attraktiven, paarungsbereiten Ratten-Dame. Das Herz hüpft jetzt ebenfalls höher – allerdings eher vor Freude als vor Angst. Würden wir zudem die „Stresshormon“-Konzentration messen, dann wäre diese stark erhöht, denn auch der Paarungsakt verlangt unserer Ratte eine Menge Energie ab. Zusammenfassend bedeutet das: Wenn wir nicht genau wissen, ob eine Situation für ein Tier gerade angenehm oder stressig ist, dann können wir das anhand der Pulsfrequenz oder der „Stresshormone“ nicht eindeutig bestimmen.

Um dieses Problem zu überwinden, hat sich der britische Verhaltensforscher Michael Mendl im Jahr 2004 ein ausgeklügeltes Testverfahren überlegt. Um den zu verstehen, müssen wir aber einen kurzen Abstecher in die Humanpsychologie machen, denn daher stammt die Methode eigentlich. Wir alle kennen vermutlich die berühmte Frage: „Ist das Glas halb voll oder halb leer?“ Anhand unserer Antwort verraten wir schnell, ob wir die Welt eher optimistisch oder pessimistisch sehen. Jahrzehntelange psychologische Forschung hat gezeigt, dass unsere Antwort keineswegs reiner Zufall ist. Geht es uns nämlich gut, dann sagen wir: „Das Glas ist halb voll!“ – wir sind optimistisch. Sind wir jedoch schlecht gelaunt, ängstlich, oder gar depressiv, dann sagen wir: „Das Glas ist halb leer!“ – wir sind also eher pessimistisch. Das macht deutlich: Unsere Gefühle haben einen sehr großen Einfluss darauf, wie optimistisch oder pessimistisch wir durch unser Leben gehen. Spannend wird es, wenn man diese Logik umdreht: Wissen wir nämlich, wie ein Mensch das metaphorische Wasserglas, einen sogenannten ambigen Stimulus, bewertet, erlaubt dies im Gegenzug Rückschlüsse über das Gefühlsleben dieser Person.

Das Team von Michael Mendl hat einen Weg gefunden, auch Ratten ein „halbgefülltes Wasserglas“ zu zeigen, und sie zu fragen, wie sie dieses bewerten. Anhand der Antwort der Tiere konnten die Forschenden klare Rückschlüsse auf deren Emotionen ziehen. Somit war ein neues Werkzeug gefunden, mit dem wir Emotionen messen können – zunächst allerdings nur bei Laborratten. Neben Ratten sind vor allem Mäuse wichtige Modellorganismen in der wissenschaftlichen Forschung. Sie sind sogar die am häufigsten zu Forschungszwecken eingesetzte Säugetierart weltweit. Doch bis zum Start meiner Doktorarbeit gab es noch keinen etablierten Test, mit dem man Mäuse fragen konnte, ob das Glas für sie halb voll oder halb leer ist. Genau das wollte ich ändern: Mein Ziel war es, einen „Optimismus“-/„Pessimismus“-Test für Mäuse zu entwickeln, um dadurch mehr über das Gefühlsleben der Nager zu erfahren.

Doch wie konnten wir einer Maus ein „halbgefülltes Wasserglas“ zeigen? Die Lösung war ein Touchscreen-Test. Dabei sitzen Mäuse in einer Kammer mit angenehm gedimmtem Licht vor ihrem eigenen kleinen Touchscreen. Im Gegensatz zu uns Menschen benutzen sie aber ihre Nase, um diesen zu bedienen. So können sie sehr gezielt Symbole berühren und Aufgaben lösen. Machen sie das richtig, bekommen sie eine Belohnung: einen Tropfen süßer Kondensmilch – die lieben sie ganz besonders.

Für meinen „Optimismus“-/„Pessimismus“-Test war es wichtig, dass die Mäuse zunächst die folgende Aufgabe verstanden: Sie mussten lernen, zwei Symbole, die auf dem Touchscreen angezeigt wurden, zu unterscheiden. Wenn ein Balken am oberen Rand des Touchscreens angezeigt wurde, mussten sie links davon „touchen“, um einen großen Tropfen süßer Milch zu erhalten, also eine besonders positive Belohnung. Wenn ein Balken am unteren Rand aufleuchtete, lernten sie, rechts davon zu „touchen“, bekamen aber nur einen kleinen Tropfen Milch, also eine weniger positive Belohnung. Während diese Lernaufgabe uns Menschen einfach erscheinen mag, mussten die Mäuse mehrere Monate lang täglich in den Touchscreen-Kammern trainiert werden, bis sie verinnerlicht hatten, welcher Balken die große, und welcher die kleine Belohnung ankündigte. Am Ende schafften es alle Mäuse, diese Verknüpfung herzustellen, wenn auch unterschiedlich schnell.

Sobald die Mäuse diese Aufgabe gemeistert hatten, startete der eigentliche Test: Wir zeigten ihnen einen Balken genau auf mittlerer Höhe, zwischen dem oberen und dem unteren. Dieser mittlere Balken entsprach sozusagen dem halbgefüllten Wasserglas. Nun wurde es spannend: wie bewerteten die Mäuse diesen ambigen Balken? Einige „touchten“ sofort links des Balkens, bewerteten ihn also wie den oberen. Diese Mäuse erwarteten die große Belohnung. Daher klassifizierten wir ihre Antwort als „optimistisch“. Einige Mäuse „touchten“ aber auch rechts des Balkens. Sie bewerteten den ambigen Balken also wie den unteren, der die weniger gute Belohnung ankündigte. Diese Antwort klassifizierten wir als „pessimistisch“. Um auszuschließen, dass es sich bei den Antworten um reinen Zufall handelte, zeigten wir jedem Tier den mittleren Balken nicht nur ein, sondern insgesamt zehn Mal. Aus den zehn Antworten jeder einzelnen Maus konnten wir dann einen Durchschnittswert errechnen, der das individuelle „Optimismus“-Level einer jeden Maus angab. Je höher das „Optimismus“-Level war, umso optimistischer die Maus. Das Antwortmuster der Mäuse entsprach genau unseren Erwartungen: es gab unter ihnen „Optimisten“, also Mäuse, die durchschnittlich häufiger „optimistisch“ antworteten und somit ein höheres Optimismus-Level erzielten, und „Pessimisten“, welche durch ein niedrigeres Optimismus-Level charakterisiert waren. Mit diesem Ergebnis hatten wir den ersten wichtigen Schritt geschafft: Wir hatten nun einen Test, mit dem wir Mäuse fragen konnten: „Ist das Glas halb voll oder halb leer?“

Das reichte uns aber noch nicht. Jetzt, da wir ein Werkzeug zur Hand hatten, um herauszufinden, ob eine Maus die Welt eher optimistisch oder pessimistisch sieht, wollten wir natürlich auch wissen, was wir dafür tun können, dass sie auf lange Sicht optimistischer wird – denn wir erinnern uns: Optimismus weist darauf hin, dass es den Tieren gut geht, und genau das wir wollen schließlich für unsere Mäuse!

Aus der Humanforschung wissen wir, dass vor allem die soziale Umwelt einen großen Einfluss darauf hat, ob es uns Menschen gut geht – und demnach auch darauf, ob wir eher optimistisch oder pessimistisch sind. Würde das auch bei Mäusen funktionieren? Und wenn ja, was könnte eine positive soziale Erfahrung für Mäuse sein? Wahrscheinlich die Begegnung mit einem paarungsbereiten Artgenossen – ein Date! Um eine solche Begegnung zu simulieren, ließen wir männliche Mäuse wiederholt an frischem Urin von Mäuse-Weibchen schnuppern. Wir erwarteten daraufhin einen Anstieg ihres Optimismus-Levels. Umso überraschender war das Ergebnis: Im Vergleich zur Kontrollgruppe hatte sich das Optimismus-Level der Mäuse nach dem Schnüffeln am Weibchen-Urin kaum verändert. Mäuse optimistisch zu machen, schien also komplizierter zu sein, als gedacht.

Natürlich stehen wir noch ganz am Anfang unserer Forschung. In Zukunft gilt es, herauszufinden, was Mäuse tatsächlich optimistischer macht. Ist es vielleicht ein außerordentlich reich strukturierter Käfig, eine bestimmte soziale Gruppenstruktur, oder gar ein bestimmtes Spielzeug zur Beschäftigung? Mit unserem neuen Touchscreen-Test können wir all diesen Fragen endlich nachgehen. Damit sind wir unserem Ziel einen wichtigen Schritt nähergekommen: Wir haben nun ein wichtiges Werkzeug zur Hand, welches uns einen Einblick in die Gefühlswelt von Tieren ermöglicht.

©Abteilung für Verhaltensbiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster

Viktoria Siewert studierte Biowissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit ihrer Bachelorarbeit forscht sie am Institut für Neuro- und Verhaltensbiologie und interessiert sich dabei besonders für die tierische Emotionswelt. Während ihrer Doktorarbeit entwickelte sie ein automatisiertes Verfahren zur Erfassung optimistischer und pessimistischer Bewertungstendenzen, so genannter „Cognitive Biases“, bei Mäusen. Seit 2020 konzentriert sie sich als Postdoktorandin auf die Frage, wie Optimismus und Pessimismus mit Tierpersönlichkeiten und Wohlergehen zusammenhängen.

3 Kommentare

  1. Sehr nett, danke, es fehlten noch die Definitionen von Optimismus und Pessimisus, Dr. Webbaer versucht sie für Ratten und Tiere generell beizubringen, stellvertretend :

    Optimismus liegt vor, wenn eigenen Erfahrungen getraut wird, sich darauf verlassen wird,
    Pessimismus liegt vor, wenn das gute Tier seinen Erfahrungen nicht ganz traut, skeptisch bleibt.

    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer (“Realist”, also irgendwas dazwischen)

  2. Ich denke es gibt noch sehr viel mehr nonverbale Signale, die sowohl bei Menschen wie auch bei Tieren Auskunft über ihre innere Gestimmheit geben.
    Neben Verhaltens- und Entscheidungstest könnte etwa das Schlaf- und Essverhalten, die Lust am sich Bewegen oder am Erforschen einer unbekannten Umgebung und vieles mehr dazu dienen, Auskunft über die innere Gestimmheit zu geben.

    Vorschlag: Um nonverbale Signale bei Tieren richtig interpretieren zu lernen, schlage ich vor Tiere mit Video konstant zu überwachen und sie bekannten Stressoren und Antistressoren, bekannten enspannenden Situationen und bekannten Konfliktsituationen auszusetzen. Eine Programm der künstlichen Intelligenz lernt dann aus den vielen tausend Videos, die richtigen Signale herauszulesen (das Verhalten, welches eine bestimmte Gestimmheit kennzeichnet) und einmal trainiert, kann das KI-Programm dann Echtzeitanalysen an den Tieren vornehmen.

    • Ergänzung: Automated analysis of animal behaviour berichtet über eine ETH-Studie, die mittels künstlicher Intelligenz das Tierverhalten in objektiver Weise untersucht um es besser zu verstehen und um – unter anderem – Zoos dabei zu helfen, das Tierwohl zu verbessern. Man liest dort:

      Der Bildanalyse-Algorithmus, den sie entwickelt haben, nutzt Machine Learning. Es kann einzelne Tiere identifizieren (voneinander unterscheiden) und spezifische Verhaltensweisen identifizieren, die beispielsweise Neugier, Angst oder harmonische soziale Interaktionen mit anderen Mitgliedern ihrer Art signalisieren.

      Auch der Forschungsartikel Applications of machine learning in animal behaviour studies meint, die maschinelle Auswertung von Tiervideos bringe wertvolle Erkenntnisse:

      – Maschinelles Lernen (ML) bietet einen hypothesenfreien Ansatz zur Modellierung komplexer Daten.
      – Wir präsentieren einen Überblick über ML-Techniken, die für die Untersuchung des Tierverhaltens relevant sind.
      – Die wichtigsten ML-Ansätze werden anhand von drei verschiedenen Fallstudien veranschaulicht.
      – ML bietet eine nützliche Ergänzung zur analytischen Toolbox des Tierverhaltensforschers.

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