Kann das Waisenhaus geschlossen werden?

Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2020 in der Kategorie Biologie veranschaulichte Alexander Hauser, was er in seiner Promotion erforscht hat.


Auf der Suche nach neuen Hormonen und ihren Rezeptoren.

Hormone dirigieren unser Leben: Diese weitverbreiteten Botenstoffe prägen unseren Tagesrhythmus, versorgen uns mit Energie und bestimmen unsere emotionalen Bindungen. Doch die Entschlüsselung des menschlichen Genoms hat gezeigt – es gibt noch viel zu entdecken. Trotz jahrelanger Forschung gibt es im Menschen noch mehr als hundert sogenannte Waisen-Rezeptoren – Rezeptoren, von denen wir weder wissen welche körpereigenen Signalstoffe an sie binden noch welche Funktionen sie erfüllen. Neue Algorithmen haben nun dazu beigetragen Bereiche des Genoms zu beleuchten, die den Bauplan für eine Reihe von Hormonen bereitstellen. Die Entdeckung von neuen Hormonen mit ihren jeweils zugehörigen Rezeptoren hat unser Verständnis der Humanbiologie tiefgreifend beeinflusst und eröffnet letztendlich Möglichkeiten für die Entwicklung von neuen Medikamenten.

Alle vielzelligen Organismen sind darauf angewiesen zwischen verschiedenen Organen und Geweben zu kommunizieren. Nur so können sie komplexe biologische Prozesse wie Wachstum, Entwicklung, Verdauung und Fortpflanzung organisieren. Es gibt hunderte dieser körpereigenen Hormone und Signalmoleküle, die diese Botenfunktion zwischen unterschiedlichsten Geweben ausüben. Die Bezeichnung „Hormon“ kann aus dem Griechischen mit „Antriebsstoff“ übersetzt werden, da sie unseren Körper sprichwörtlich auf Tour bringen. Dies ist ganz besonders deutlich beim Adrenalin, welches einen durch Blutgefäßverengung bewirkten Blutdruckanstieg vermittelt und uns somit auf Gefahrensituationen vorbereitet.

Verschiedene Drüsen sekretieren Hormone in den Blutkreislauf, welche dort Rezeptoren an der Zelloberfläche aktivieren – meistens sogenannte G protein-gekoppelte Rezeptoren (GPCRs). Alle Körperzellen haben Rezeptoren, die auf bestimmte Hormone wie zugeschnitten sind. Dabei wirken Hormon und Rezeptor nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip – passt das Molekül nicht in die Einbuchtung des Rezeptors, so kann er auch nicht aktiviert werden. Je nach Rezeptor, Signalmolekül und Zelltyp werden verschiedene Reaktionen in Gang gesetzt: Stoffwechselprozesse eingeleitet, Enzyme produziert, Signale weitergeleitet, Zellwachstum oder Bewegung veranlasst. Rezeptoren sind also die Pförtner der Zellen und bestimmen damit fundamental über das Schicksal des Organismus. Die Erkenntnis in diese Hormonsysteme einzugreifen, anzupassen, und neu auszubalancieren hatte fundamentale Auswirkungen in der Medizin: Von Verhütungsmittel bis Schmerzmittel, sind sie Grundlage vieler Therapieansätze.

Hormone können unterschiedliche chemische Strukturen aufweisen: von niedermolekularen Verbindungen, zu Aminosäuren, Steroiden, Peptiden und ganzen Proteinen. Insulin, Oxytocin, Cortisol, Serotonin und Melatonin sind einige der Bekanntesten. Peptid-Hormone sind die häufigsten Botenstoffe zwischen Organen, von denen mindestens zweihundert bekannt sind und an mehr als hundert unterschiedliche Rezeptoren binden. Bevor Peptide jedoch auf ihre Reise durch den Blutkreislauf geschickt werden, durchlaufen sie einen Reifungsprozess in der Zellmaschinerie. Jedes dieser Peptidhormone besteht aus einer Reihe von Aminosäuren. Die Information zu der richtigen Bauanleitung liegt in unseren Genen. Wird ein Gen gelesen, werden Aminosäuren verkettet, die sich zu einem Protein falten. Diese sogenannten Vorläuferproteine werden weiter modifiziert und in Peptide aufgespalten. Das fertige Peptidhormon wird schlussendlich aus der Zelle in die Blutbahn transportiert – von wo es noch einen langen Weg durch den Körper vor sich hat.

Aufgrund der erfolgreichen Kartierung des menschlichen Genoms Anfang der 2000er Jahre wurden mehr als 800 G protein-gekoppelte Rezeptor Gene identifiziert. Für knapp hundert wurden bisher noch keine körpereigenen Botenstoffe gefunden und werden daher als Waisen-Rezeptoren bezeichnet. Diese Rezeptoren legen nahe, dass uns noch viele Entdeckungen in der Physiologie des Menschen bevorstehen. Die „Adoption“ von Waisen-Rezeptoren, also die Paarung von einem Rezeptor mit einem Botenstoff bzw. Hormon, erlebte seinen Höhepunkt in den späten 90er und frühen 2000er Jahren durch die massive Investition durch die Pharmazeutische Industrie. Insbesondere durch die Entwicklung von Hochdurchsatz-Screening Methoden von bekannten Stoffen und Sekreten, sowie der Entschlüsselung des menschlichen Genoms. In dieser Periode gab es mehrere bedeutende „Adoptionen“ pro Jahr. Darunter einige Erfolgsgeschichten: Von der Entdeckung bis zur Medikamentengabe in nur wenigen Jahren, wie zum Beispiel für Neurokinin- und Orexin- Rezeptoren, die heute gegen Übelkeit und Schlafstörung Verwendung finden.

Trotz der vielfältigen Erkenntnisse in der Forschung, haben sich jedoch die Fortschritte bei der „Adoption“ in den vergangenen Jahren stark verlangsamt. Waisen-Rezeptoren sind schwer zu erforschen, da diese schlecht charakterisiert sind oder sogar nichts weiter als der genomische Bauplan bekannt ist. Zudem wissen wir nicht welche Signalwege getestet werden müssen, um potentielle Hormone als Kandidaten zu erproben. Dementsprechend sind neue Strategien erforderlich, um die Hormone für die verbleibenden, schwer zu „adoptierenden“ Waisen-Rezeptoren, zu finden. Ziel meiner Untersuchungen war es daher neue analytische Methoden zu entwickeln, um mögliche Rückschlüsse auf Waisen-Rezeptoren abzuleiten und bisher unentdeckte Hormonkandidaten zu finden, die später in biochemischen Experimenten getestet werden können. Das Potenzial haben auch die Pharmafirmen erkannt: Von den mehr als 400 zugelassenen Medikamenten wirkt jedes Dritte allein über diesen Rezeptortyp. Eine ähnlich hohe Quote erhofft man sich auch bei den Waisen-Rezeptoren. Die Hoffnungen für neue Therapieansätze, vielleicht auch für bisher unheilbare Krankheiten wie Alzheimer oder Schizophrenie, sind daher groß.


Ein Hormon und sein entsprechender Rezeptor passen so genau zusammen wie ein Schlüssel zu seinem Schloss. Die Entdeckung von  Hormonen und ihren Rezeptoren ermöglicht die Erschließung von bisher unbekannten Körperfunktionen – (Illustration: Ella Maru Studio) ©Alexander Hauser/ Ella Maru Studio

Basierend auf der Hypothese, dass es unentdeckte Peptidhormone für Waisen-Rezeptoren geben muss, hat unser Team am Institut für „Drug Design und Pharmakologie“ in Kopenhagen, zunächst alle verfügbaren Informationen über bekannte Rezeptor-Hormon Systeme gesammelt. Unsere Analysen haben gezeigt, dass Peptidhormone weitaus zahlreicher sind als andere Klassen von Hormonen, schwerer sind und eine höhere Bindungsaffinität zu ihren jeweiligen Rezeptoren aufweisen. Im Laufe der evolutionären Geschichte haben sich Rezeptoren und Hormone gemeinsam entwickelt – in etwa wie die von Schlüssel und Schloss. Sobald man den Schlüssel zu seinem Schloss verliert, muss ein neues Schloss her. So ist es auch bei Lebewesen: Verliert oder verändert sich ein Hormon, so wird auch der Rezeptor nicht länger benötigt und verschwindet über die Zeit durch Negativauslese aus dem Genom. Evolutionärer Selektionsdruck wirkt quasi auf beide Interaktionspartner gleichzeitig. Verändert sich zum Beispiel zufällig ein Peptidhormon durch eine Mutation, führt dies häufig auch zu einer entsprechenden Veränderung des Rezeptors. Ausgehend von allen

Lebewesen zur Verfügung stehenden Genomdaten, konnten wir die evolutionäre Geschichte für alle Hormon-Rezeptor Systeme rekonstruieren. Damit konnten wir zeigen, dass Rezeptoren und ihre Peptidhormone gemeinsam evolvieren. Die lange evolutionäre Geschichte und Verbreitung in vielen biologischen Arten zeigen die Bedeutung und funktionale Relevanz dieses Schlüssel-Schloss Prinzips. Diese evolutionären Fingerabdrücke erlaubten uns Rückschlüsse darüber zu ziehen welche Hormon-Kandidaten zu welchem Waisen-Rezeptor passen könnten – nämlich die mit der ähnlichsten Evolutionsgeschichte.

Das menschliche Genom besteht aus ungefähr 20,000 Genen, die im Allgemeinen jeweils für mindestens ein Protein kodieren. Darunter sind sowohl alle bekannten als auch potentiell neue Peptidhormone. Basierend auf Ähnlichkeiten in der Synthese, Prozessierung und Sekretion von bekannten Hormonen, konnten wir systematisch Kandidaten für mögliche neue Hormone ausschließen. Eine Analyse von evolutionären Fingerabdrücken bekannter Peptidhormone zeigte, dass die Regionen, die später zu Hormonen werden wesentlich konservierter sind als andere Bereiche des Vorläufersproteins. Wir entwickelten ein statistisches Modell, das auf Trainingsdaten beruht, basierend auf den von uns bekannten Hormonen. Für ausgewählte Genombereiche berechneten wir evolutionäre Parameter und Konservierungsmuster, die durch maschinelles Lernen neue Hormon-Kandidaten aufzeigten. Dies ergab eine Liste von 218 Peptid-Kandidaten, die in ihrem Bauplan den von bekannten Hormonen sehr ähneln.

Nun hatten wir zwar eine vielversprechende Liste, aber diese konnten wir so nicht direkt an allen Waisen-Rezeptoren testen. Wieder basierend auf ein statistisches Modell wählten wir Waisen-Rezeptoren aus, die mit höchster Wahrscheinlichkeit Peptid-Hormone binden können. Die Rezeptoren winden sich siebenmal durch die Zellmembran und sind mit Schleifen miteinander verknüpft. Diese spezielle Orientierung lässt eine Bindungstasche für Signalmoleküle entstehen. Eine Analyse von hochauflösenden Bildern durch Röntgenstrukturanalyse ergab, dass Rezeptoren für Peptid-Hormone eine größere Bindungstasche aufweisen und damit längere Schleifen besitzen. Diese und weitere Strukturmerkmale konnten wir nutzen, um unter den verbliebenden Waisen-Rezeptoren die vorherzusagen, welche wahrscheinlich durch Peptid-Hormone aktiviert werden.

Nun konnten wir die Liste von den 218 potentiellen Peptid-Hormonen chemisch synthetisieren und gegen die ausgewählten Waisenrezeptoren testen. Um die Wahrscheinlichkeit der Erfassung der Signalaktivierung zu maximieren, haben wir unsere mutmaßlichen Peptid-Hormone in drei voneinander unabhängigen biochemischen Plattformen untersucht. Jedes dieser Experimente hatte Vor- und Nachteile, aber konnte unterschiedliche Aspekte der vielen möglichen Signalwege abdecken. In unserem Forschungsantrag hatten wir die Hoffnung geweckt ein Hormon für einen Rezeptor zu finden und damit zu „adoptieren“ – letztendlich fanden wir 17 Hormone für fünf Waisen-Rezeptoren. „Davon konnten wir nicht einmal träumen – das war völlig über unseren Erwartungen“, meinte David Gloriam, mein Doktorvater aus Kopenhagen. Unser interdisziplinärer Ansatz hat gezeigt, dass wir noch lange nicht alles verstehen und noch vieles in unserem Genom zu entdecken ist.

Kann das Waisenhaus also geschlossen werden? Vermutlich nicht, denn es gibt immer noch dutzende Waisen und viele Hormone zu entdecken. Jedoch eröffnet jedes neue Hormon-Rezeptor-Paar ein neues Forschungsgebiet, in dem es gilt zu untersuchen, wie das entdeckte Signalsystem die menschliche Physiologie beeinflusst.


Alexander Hauser wurde 1989 in Essen geboren. Er studierte Biowissenschaften und Biomedizin in Münster mit Aufenthalten und Praktika in Hamburg, Helsinki, Hyderabad und Sao Paulo. Im Anschluss forschte er in Kopenhagen und Cambridge an der Evolution und Genetik von Rezeptoren. In seiner Doktorarbeit mit dem Titel „Computational receptor biology – Data science approaches to physiological ligand discovery, G protein selectivity and pharmacogenomics“ beschäftigte er sich mit der Untersuchung von Rezeptoren, ihren Hormonen, und den Einfluss von genetischen Mutationen auf Medikamentenwirkung. Derzeit arbeitet er als Assistant Professor im Bereich der Personalisierten Medizin an der Universität Kopenhagen und am Institut für biologische Psychiatrie in Roskilde.

2 Kommentare

  1. Zitat aus obigem Beitrag:

    Kann das Waisenhaus also geschlossen werden? Vermutlich nicht, denn es gibt immer noch dutzende Waisen und viele Hormone zu entdecken.

    Das Schloss-Schlüssel Prinzip, welches jedem Rezeptor (dem Schloss 🔐) ein zugehöriges Hormon (den Schlüssel 🔑) zuordnet, gibt einen starken Hinweis darauf, wie man zu allen bekannten/vermuteten Hormonrezeptoren das entsprechende Hormon – in den meisten Fällen ein Peptid – finden kann: indem man bestimmt, wie gut ein Hormonkandidat zu einem Hormonrezeptor passt, indem man bestimmt, wie gut ein potentieller Schlüssel 🔑 (ein potenzielles Hormon) in ein bestimmtes Schloss 🔐 (einen Hormonrezeptor) passt. Und das bedeutet bei Peptidhormonen, wie gut die 3-dimensionale Faltung des Peptids, also seine Oberfläche in den Hormonrezeptor hineinpasst. Die 3-dimensionale Faltung eines Peptids kann man heute aber mit Alpha-Fold von Deep Mind bestimmen.

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