Hör‘ mal, wer da spricht

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Für ihre Bewerbung um den KlarText-Preis hat Claudia Roswandowitz in ihrem Beitrag in der Kategorie Neurowissenschaften veranschaulicht, was sie in ihrer Doktorarbeit erforscht hat:

Einige von uns erkennen keine Stimmen. Woran liegt das? Und wo im Gehirn sitzt sie, die Stimmerkennung?

„Man ärgert sich über sich selbst und denkt: Mensch, streng dich ein bisschen mehr an, merk dir die Leute besser. Dass man da wieder nicht richtig aufgepasst hat und Leute vor den Kopf stößt.“, so beschreibt es Anne Schulz* wenn sie wieder mit Stimmen kämpft. Was für die meisten Menschen unvorstellbar ist, ist für Anne Alltag: Sie kann selbst die Stimme der eigenen Tochter nicht erkennen. Spielt diese etwa mit einer Freundin im Nebenraum, kann sie nicht zuordnen, wer gerade spricht. Anne ist während einer Studienarbeit über Gesichterblindheit, bei der Betroffene keine Gesichter erkennen können, auf ihr Defizit aufmerksam geworden. Sie dachte: „So etwas Ähnliches könnte ich mit Stimmen haben“. Durch eine Internetrecherche ist sie auf unseren Onlinetest zur Stimmerkennung gestoßen. Ziel unseres Onlinetests ist es, Menschen wie Anne zu finden – Betroffene mit Phonagnosie, der Unfähigkeit Stimmen zu erkennen.

Das war im Jahr 2011. Bis dahin gab es nur einen wissenschaftlichen Bericht über eine Frau, die Stimmen nicht erkennen kann. Auch für Kate Harries*, eine 62-jährige Britin, sind Telefonanrufer erst einmal Fremde. Jedoch fällt Kate das Verstehen von Gesprochenem generell schwer. Tritt ein Stimmerkennungsdefizit also immer mit einem Sprachdefizit auf oder gibt es ein reines Defizit in der Stimmerkennung?

Und tatsächlich, Anne schnitt in unserem Onlinetest, bei dem man sechs unbekannte Stimmen lernen und wiedererkennen muss, im Vergleich zu anderen Testteilnehmern auffällig schlecht ab. Auch Stefan Peters*, ein 32-jähriger Promotionsstudent, machte auffällig viele Fehler. Später erzählte Stefan: „Einmal rief ich eine Freundin Laura an. Wir plauderten eine Weile. Als Laura lachte, wurde ich stutzig. Das Lachen passte gar nicht zu ihr. Erst da merkte ich, dass ich aus Versehen eine andere Freundin angerufen habe, die auch Laura heißt.“ Stefans Anekdote beschreibt, was für viele Phonagnosiker zutrifft. Sie achten nicht auf die Stimme an sich, sondern auf Dialekte, Redewendungen oder eben auf ein markantes Lachen, um eine Person am Telefon zu erkennen.

Haben wir mit Anne und Stefan weltweit die ersten Phonagnosiker mit reinem Stimmerkennungsdefizit gefunden? Die Antwort lautet ja. Aber um das herauszufinden waren zahlreiche Untersuchungen am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig nötig. Ich entwickelte Computertests, in denen die Teilnehmer Stimmen, aber auch Gesichter, Sprache, Musik und Emotionen erkennen müssen. Interessanterweise hatten Anne und Stefan ausschließlich Probleme bei der Stimmerkennung. Bei Gesichtern und anderen stimmlichen Informationen, wie Sprache und Emotionen oder auch Musik hatten sie keine Schwierigkeiten. Es gibt es also wirklich: ein reines Defizit in der Stimmerkennung.

Doch wie nehmen die Betroffenen Stimmen wahr? Hören sich alle Stimmen gleich an? Oder hören sie stimmliche Unterschiede, aber können einer Stimme keine Informationen wie Name oder Beruf zuordnen? Ich entwickelte weitere Tests. In einem Versuch sollten die beiden entscheiden, ob zwei Sätze vom selben oder zwei unterschiedlichen Sprechern gesprochen werden. Zu meiner Überraschung hatte hier nur Anne Schwierigkeiten, Stefan hingegen konnte Stimmen problemlos unterscheiden. In einem anderen Experiment sollten sie Stimmen deutscher Berühmtheiten benennen. Und wieder unterschieden sich die Ergebnisse der beiden Kandidaten. Diesmal war es Anne, die vor allem markante Stimmen benennen konnte: „Darunter war Til Schweiger. Ich finde, dass er eine sehr hohe, fast weibliche Stimme hat“. Stefan konnte hingegen nur jeder dritten bekannten Stimme einen Namen zuordnen.

Die unterschiedlichen Testergebnisse deuten darauf hin, dass Phonagnosie nicht gleich Phonagnosie ist. Für Anne scheinen sich alle Stimmen mehr oder weniger gleich anzuhören. Stefan hört zwar stimmliche Unterschiede, kann einer Stimme jedoch keinen Namen zuordnen. Fällt eine der beiden Aspekte der Stimmerkennung aus, tritt offenbar Phonagnosie auf.

Das Entscheidende dabei: Bei beiden waren sowohl die allgemeine kognitive Leistung als auch die Hörfähigkeit unauffällig, keiner der beiden erlitt jemals eine Hirnschädigung. Wie lässt sich also dann ihr sehr spezifisches Defizit in der Stimmerkennung erklären? Funktioniert die Hirnregion nicht, die zuständig für die Stimmerkennung ist?

Aus früheren Studien mithilfe der sogenannten funktionellen Magnetresonanztomographie, kurz fMRT, an Menschen ohne Phonagnosie weiß man, dass eine bestimmte Region im Temporallappen der rechten Gehirnhälfte wichtig für die Stimmerkennung ist: der Gyrus/Sulcus temporalis superior, kurz STG/S. In fMRT-Untersuchungen werden Hirnregionen sichtbar gemacht, die während einer bestimmten Aufgabe mehr Sauerstoff verbrauchen, also besonders ‚aktiv’ sind, etwa beim Erkennen von Stimmen.

Und in der Tat entdeckte ich einige Besonderheiten und zwar ganz unterschiedliche. Bei Anne, die keine Stimmen unterscheiden kann, war der rechte STG/S weniger aktiv als bei anderen ohne diese Schwierigkeiten. Bei Stefan hingegen, der Stimmen nicht benennen kann, entdeckte ich eine fehlerhafte Verbindung zwischen dem stimmspezifischen STG/S und Hirnregionen, die Informationen über Personen speichern. Individuelle Schwierigkeiten scheinen sich also ganz individuell im Gehirn widerzuspiegeln.

Für Neurowissenschaftler, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Gehirn und seine Funktionsweise zu entschlüsseln, sind Fälle wie Anne und Stefan ein Glücksfall. Da die beiden ausschließlich ein Defizit in der Stimmerkennung haben, können abweichende Hirnfunktionen recht eindeutig mit dem Defizit in Verbindung gebracht werden. Aber eben nur recht eindeutig; das liegt in der Natur der fMRT-Methode. Den zuverlässigsten Beweis liefern letztlich Studien, in denen Hirnareale ‚ausgeschaltet‘ sind, etwa Untersuchungen an Patienten mit Hirnverletzungen. Ist eine bestimmte Region des Gehirns verletzt und fällt dadurch eine bestimmte Fähigkeit aus, lässt sich beides eindeutig einander zuordnen.

Bereits seit 1976 weiß man, dass nach Hirnverletzungen auch Probleme in der Stimmerkennung auftreten können. Uneinigkeit bestand jedoch seitdem darüber, welche Hirnregion nicht nur nützliches Beiwerk, sondern unerlässlich für das Erkennen von Stimmen ist.

In einer umfangreichen Studie mit 58 Patienten mit Hirnschädigungen, vor allem Schlaganfall-Betroffenen, konnte ich diese Frage schließlich beantworten: In einem Experiment lernten unsere Patienten, Stimmen mit einem Namen oder Gesicht zu verknüpfen und diese wiederzuerkennen. Die Ergebnisse waren recht verschieden und verrechnet mit hochaufgelösten Hirnbildern ihrer Verletzungen, konnte ich schließlich wieder eine Region um den rechten STG/S als das Stimmerkennungsareal identifizieren. Haben also Patienten Läsionen in dieser Region, hatten sie signifikant schlechtere Testergebnisse als Patienten mit Läsionen anderswo. Es ist also tatsächlich die Hirnregion um den rechten STG/S, die auch bei Anne und Stefan auffällig war. Hier, schräg oben hinter unserem rechten Ohr verborgen im Temporallappen liegt er also – unser persönlicher Stimmerkennungsassistent. Was als neueste technische Errungenschaft von Firmen wie Amazon und Apple als Alexa und Co. gefeiert wird, ist bei den meisten von uns ganz natürlich im Gehirn verankert. Fällt er jedoch aus, erscheinen uns alle Stimmen fremd.

Dieses Wissen ist nicht nur wichtig für Neurowissenschaftler und Mediziner, sondern in erster Linie für Betroffene: „Ach Phonagnosie heißt das, was mich ein Leben lang gequält hat! Schade, dass ich das nicht früher gewusst habe. Ich habe immer gesagt, das ist wie stottern, ich kann das nicht ändern. Geholfen hat das nicht.“, beschreibt Paul Sauer* seine Situation, vermutlich ein weiterer Phonagnosiker. Derzeitigen Schätzungen zufolge haben mindestens 0,2 Prozent der Bevölkerung eine angeborene Phonagnosie – das betrifft mindestens 160.000 Menschen in Deutschland. Eine Phonagnosie als Folge einer Hirnschädigung scheint noch häufiger zu sein: 9 Prozent unserer Patienten haben ihre Stimmerkennung als schlecht eingeschätzt.

Trotz dieser Häufigkeit ist das Phänomen bisher kaum bekannt. Selbst eine Vielzahl von Ärzten und Sprachtherapeuten kennt Phonagnosie nicht – oder ordnen es fälschlicherweise einer anderen Störung zu. Und das widerspricht genau dem, was Betroffenen helfen würde: Bereits das Wissen, dass es Phonagnosie gibt und die auftretenden Probleme keine Folge einer sozialen Kommunikationsstörung oder kognitiven Beeinträchtigung sind, kann helfen, mit dem Defizit umzugehen.

Anne hat gelernt damit umzugehen. Sie erklärt nun ihren Freunden, die sich mitunter vor den Kopf gestoßen fühlen, wenn sie selbst bei langjährigen Freundschaften immer noch fragt, wer am anderen Ende der Leitung spricht: „Ich nehme jetzt an einem Forschungsprojekt teil, bei dem herauskam, dass mein Defizit auf zerebraler Ebene ist.“ Anne lacht und fügt hinzu: „Ja, im Gehirn, meine ich natürlich. So kann man sich auf jeden Fall leichter entschuldigen und meine Freunde sind wieder beruhigt.“

*Name geändert

Claudia Roswandowitz wurde 1986 in Stendal geboren. Sie studierte Linguistik in Leipzig und Sprechwissenschaften in Halle (Saale). Im Anschluss forschte sie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. In ihrer Doktorarbeit mit dem Titel „Voice-Identity Processing Deficit: The Cognitive and Neural Mechanisms of Phonagnosia“ beschäftigte sie sich mit dem Phänomen der Phonagnosie, der Unfähigkeit Personen anhand der Stimme zu erkennen. Derzeit arbeitet sie als Postdoktorandin an der Universität Zürich.

1 Kommentar

  1. Zitat:

    Haben wir mit Anne und Stefan weltweit die ersten Phonagnosiker mit reinem Stimmerkennungsdefizit gefunden? Die Antwort lautet ja.

    Einerseits überrascht mich das, andererseits passt es ins allgemeine Bild, dass wir Menschen immer noch erstaunlich wenig über die kognitive Landschaft wissen, die uns Menschen ausmacht. Warum ist das so? Warum können wir kognitive Defizite nicht ebenso leicht diagnostizieren wie etwa eine Farbenblindheit? Meine persönliche Erklärung dafür geht in folgende Richtung: Es gibt meist keine klare Abgrenzung von kognitiven Fähigkeiten und viele Defizite können über andere Fähigkeiten ausgeglichen werden. Nur gerade extreme Formen von Ausfällen bemerken wir überhaupt und geben ihnen dann Namen wie Dyskalkulie, Dyslexie oder Prosopagnosie.

    Dieses Unwissen über die wahren kognitiven Fähigkeiten oder kognitiven Schwächen von einzelnen Menschen und von uns Menschen überhaupt ist bedauernswert und bemerkenswert angesichts tausender von (Wahrnehmungs-)Psychologen. Es bedeutet auch, dass eine Richtung der künstlichen Intelligenz, die nämlich, die kognitive Fähigkeiten des Menschen nachbilden will, in tiefen Schwierigkeiten steckt. Denn wie will man etwas nachbilden, dass man gar nicht kennt.

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