Autonome Autos: Kein Fahrer, kein Stau?

Für seine Bewerbung um den KlarText-Preis für Wissenschaftskommunikation 2022 in der Kategorie Mathematik veranschaulichte Jan Friedrich, was er in seiner Promotion erforscht hat.


Selbstfahrende Autos werden auf den Straßen immer präsenter. Um ihr Fahrverhalten optimal an die Verkehrssituation anzupassen, nutzen sie mehr Verkehrsinformationen als ein klassischer Fahrer. Dies wird den Verkehr, wie wir ihn kennen, drastisch verändern. Mathematische Modelle helfen bereits heute, diese Entwicklung abzubilden.

Die mathematische Modellierung von Verkehr reicht weit zurück. Mit der Erfindung des ersten Autos durch Carl Benz im Jahre 1886 in meinem Studienort Mannheim hat der Vormarsch des Autos als vorrangiges Verkehrsmittel begonnen. Seit jeher beschäftigen sich Mathematiker damit, den Verkehr entsprechend zu beschreiben.

Für die Modellierung stehen verschiedene Betrachtungsweisen zur Verfügung. Es liegt nahe, die Bewegung eines jeden Autos einzeln zu beschreiben. Dafür sind sogenannte mikroskopische Modelle geeignet. Diese sind insbesondere dann nützlich, wenn Forschende an der Interaktion zwischen den verschiedenen Fahrzeugen interessiert sind. Bei einer großen Anzahl von Fahrzeugen stellen sich allerdings andere Fragen. So sind auf dem am stärksten belasteten Abschnitt auf der A3 täglich rund 170.000 Fahrzeuge unterwegs. Hier ist es relevant zu wissen, ob die Autobahn für dieses Verkehrsaufkommen geeignet ist und wie sich der Verkehr im Allgemeinen entwickelt. Dafür eignen sich makroskopische Modelle. Anstatt einzelner Fahrzeuge betrachten diese die Verkehrsdichte. Das ist die Anzahl an Fahrzeugen pro Kilometer. Wer das nächste Mal in einem Flugzeug sitzt und beim Start eine Autobahn betrachtet, kann die Verkehrsdichte gut wahrnehmen. Einzelne Autos werden aus größerer Höhe nicht mehr erkennbar sein, aber trotzdem lässt sich beobachten, ob der Verkehr gerade relativ dicht beieinander liegt oder nicht. Aber auch im Alltag begegnet uns die Verkehrsdichte immer wieder. Jedes Mal, wenn wir ein Navigationssystem nutzen, zeigt uns dieses den Verkehr in unterschiedlichen Farben an: „blau“ bedeutet wenig Verkehr und „rot“ bedeutet Stau. Diese Farben stellen nichts anderes als die Verkehrsdichte dar.

Dieses Bild veranschaulicht die Verkehrsdichte. Selbst wenn einzelne Fahrzeuge nicht klar erkennbar sind, so lässt sich doch wahrnehmen, ob der Verkehr gerade relativ dicht beieinander liegt oder nicht. Die farbige Hinterlegung stellt die Verkehrsdichte dar, wie sie in Navigationssystemen angezeigt wird. © Jan Friedrich

Für einen Verkehrsplaner ist es wichtig, wie sich die Dichte verhält. Entsteht ein Stau, so stellen sich die Fragen: Was passiert mit dem Stau? Wie lang wird er werden? Hierbei helfen makroskopische Verkehrsmodelle. Sie beschreiben nämlich die Entwicklung der Verkehrsdichte in Zeit und Ort. Das bekannteste Modell haben Michael Lighthill, Gerald Whitham und Paul Richards in den 1950er Jahren entwickelt. Es beruht auf einer partiellen Differentialgleichung. Aber was ist das genau?

Heutzutage gibt es in der Schule oft Aufgaben, in denen die Schüler x bestimmen müssen, wie z. B. x+5=8. Eine Differentialgleichung funktioniert ähnlich. Anstatt einer Zahl x wird allerdings eine ganze Funktion gesucht, hier also die Verkehrsdichte. Die Gleichung, die es jetzt zu lösen gilt, beinhaltet Informationen über die Änderung der Verkehrsdichte in der Zeit und im Ort. Dies sind die sogenannten partiellen Ableitungen der Verkehrsdichte, wodurch der Name der partiellen Differentialgleichung zustande kommt. Das Modell von Lighthill, Whitham und Richards beruht auf dem Grundprinzip der Massenerhaltung. Das bedeutet, dass die Änderung der Anzahl von Fahrzeugen in der Zeit genau der Differenz der hinein und hinaus fahrenden Autos am jeweiligen Anfang und Ende einer Straße entspricht. Aufgrund dieser Eigenschaft spricht man von Erhaltungsgleichungen.

Dieses Modell bildete nun fast 60 Jahre lang die Grundlage für die meisten makroskopischen Verkehrsmodelle. Aber sowohl Michael Lighthill, Gerald Whitham und Paul Richards als auch Carl Benz konnten nicht ahnen, wie weit die Technologie bis zum heutigen Tage fortgeschritten ist und weiterhin fortschreiten wird: Autos sind schneller und sicherer geworden, Hilfsmittel wie Navigationssysteme liefern uns mittlerweile nicht nur die richtige Route, sondern auch Informationen über den Verkehr vor uns und automatisierte Fahrzeuge drängen immer mehr auf die Straßen. Bezeichnend für diese Entwicklung ist ein Zitat der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel:

„Wir werden in 20 Jahren nur noch mit Sondererlaubnis selbstständig Auto fahren dürfen.“

Selbstfahrende Fahrzeuge sind in dem Modell aus den 50er Jahren nicht berücksichtigt. Deshalb haben Wissenschaftler dieses in den letzten Jahren erweitert. Die Grundidee ist, dass Fahrzeuge nicht nur über Informationen bezüglich des Verkehrs direkt vor sich, sondern auch um sich herum verfügen. Die Modelle schauen voraus und betrachten mehr als nur ein Fahrzeug vor sich. Mathematisch drückt sich dies dadurch aus, dass in der Erhaltungsgleichung noch ein Integral mit eingebaut wird. Diese Integralauswertung berechnet die mittlere Verkehrsdichte vor einem Fahrzeug. Diese Dichte wird dann genutzt, um daraus die Geschwindigkeit zu bestimmen. Da die Geschwindigkeit hier also einen nichtlokalen Einfluss hat, spricht man von nichtlokalen Verkehrsmodellen.

Das Autobahnnetz in Deutschland besteht aus einer Vielzahl von Verzweigungen mit Baustellen und unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen. Deshalb ist es wichtig, dass Modelle den Verkehr nicht nur auf einer einzelnen Straße, sondern ebenfalls auf komplexeren Straßennetzwerken abbilden können. Dies geschieht normalerweise, indem man den Übergang von einer Straße zur nächsten genauer betrachtet. Für das ursprüngliche Modell aus den 50er Jahren weiß man, wie man diese Übergänge beschreiben kann. Für nichtlokale Verkehrsmodelle war dies aber noch nicht bekannt. Genau hier setzt meine Dissertation an. Ich habe mich damit beschäftigt, wie ich diese Lücke füllen kann. Die Herausforderung bei nichtlokalen Verkehrsmodellen besteht darin, dass das Fahrverhalten bereits mit einigem Abstand zur neuen Straße beeinflusst wird und somit der Übergang früher beginnt.

Um dies korrekt zu modellieren, habe ich zunächst ein neues, nichtlokales Modell eingeführt.  Dieses beruht auf folgender Idee: Wenn ich in meinem Sichtfeld vor mir langsame und schnelle Fahrzeuge sehe, so passe ich meine Geschwindigkeit dementsprechend an. Dabei ist die Geschwindigkeit des Fahrzeuges direkt vor mir wichtiger als die von denen weiter weg, damit ich nicht in dieses Fahrzeug hineinfahre. Sollte sich weiterhin ein Auto in meinem Sichtfeld schon hinter einem Geschwindigkeitsbegrenzungsschild und somit auf einem neuen Straßenabschnitt befinden, ist dies direkt berücksichtigt, da ich nur auf die tatsächliche Geschwindigkeit achte.

Die fahrende Person des roten Autos beobachtet für ihr Fahrverhalten die gelben Fahrzeuge. Dabei berücksichtigt sie die Geschwindigkeiten der Fahrzeuge, welche sich unterscheiden können, da die Fahrzeuge unterschiedlichen Geschwindigkeitsbegrenzungen unterliegen. © Jan Friedrich

Mein Modell wird wie zuvor durch eine nichtlokale Erhaltungsgleichung beschrieben. Es stellt sich nun aber die Frage, ob die Gleichung überhaupt lösbar ist. So besitzt die Gleichung x+5=8 nur die Lösung x=3. Im Gegensatz dazu hat x^2=1 die Lösungen x=1 und x=-1. Für x^2=-1 lässt sich in den reellen Zahlen keine Lösung bestimmen. Bei einer partiellen Differentialgleichung ist die Situation ähnlich. Hier habe ich gezeigt, dass mein Modell nur eine einzige Lösung besitzt. Diese lässt sich aber nicht mehr per Hand bestimmen. Um die Lösung näherungsweise auszurechnen, braucht man die Hilfe des Computers und bestimmte Verfahren, auch Algorithmen genannt. Ich habe aus bekannten Algorithmen ein neues Verfahren für nichtlokale Erhaltungsgleichungen hergeleitet und auf mein Modell angepasst, sodass ich damit nun Lösungen berechnen kann. Dabei werden die Lösungen etwas genauer bestimmt, als bei den bisher bekannten Algorithmen.

Somit ist es mir möglich, den Verkehr abzubilden und den Übergang zu einer neuen Straße zu beschreiben. Ändert sich auf dieser das Tempolimit, wird in dem Modell direkt beschleunigt, wenn die Aufhebung einer Geschwindigkeitsbegrenzung sichtbar ist. Dies geschieht auch schon vor dem entsprechenden Verkehrsschild. Dasselbe gilt, wenn man bremst, um die Geschwindigkeit zu reduzieren. Das Modell beschränkt sich aber nicht nur auf Änderungen des Tempolimits, auch Einschränkungen durch Baustellen und die Übergänge an größeren Verzweigungen können beschrieben werden.

Letztendlich hat das nichtlokale Modell noch eine weitere interessante Eigenschaft: Hat man alle Informationen über den gesamten Verkehr, so bewegt sich dieser mit der maximal erlaubten Geschwindigkeit und es entstehen keine Staus. Aber sowohl dem menschlichen Fahrer als auch selbstfahrenden Autos liegen immer nur begrenzte Informationen über den Verkehr vor, sodass Staus wohl auch in Zukunft nicht vermieden werden können. Mein Modell zeigt aber, dass eine größere Menge an Informationen die Häufigkeit von Staus reduziert. Interessant, dass ausgerechnet Fahrzeuge ohne klassischen Fahrer über mehr Informationen verfügen und somit dazu entscheidend beitragen werden!


Jan Friedrich studierte an der Universität Mannheim Wirtschaftsmathematik. Schon in seiner Masterarbeit kam ihn die Idee für ein neuartiges Verkehrsflussmodell und einen zugehörigen Lösungsalgorithmus. Während seiner Promotionszeit vertiefte er diese Überlegungen dann, indem er sowohl das Modell als auch den Algorithmus auf mehrere Verkehrssituationen erweiterte und insbesondere die theoretischen Hintergründe ausarbeite. Seit Anfang 2022 befasst er sich als Postdoktorand an der RWTH Aachen mit Fragestellungen der optimalen Steuerung von Prozessen, die durch nichtlokale Gleichungen beschrieben werden.

1 Kommentar

  1. Jan Friedrich schrieb (28. Sep 2023):
    > […] ein neues, nichtlokales Modell eingeführt. Dieses beruht auf folgender Idee: Wenn ich in meinem Sichtfeld vor mir langsame und schnelle Fahrzeuge sehe, so passe ich meine Geschwindigkeit dementsprechend an. Dabei ist die Geschwindigkeit des Fahrzeuges direkt vor mir wichtiger als die von denen weiter weg, damit ich nicht in dieses Fahrzeug hineinfahre.

    Verkehrs-Praktizierenden dürften auch “nicht-kausale” bzw. “antizipative” Modelle vertraut sein, nämlich u.a., dasjenige vorausfahrende Fahrzeug besonders wichtig zu nehmen, dessen Geschwindigkeit man als von der eigenen am meisten abweichend einschätzt ;

    – entweder “(schon) schneller”, wenn es z.B. darum geht, im Konvoy (“gerade noch”) einen langsamen Verkehrteilnehmer zu überholen;

    – oder “(schon) langsamer”, wenn “vorausschauend-kraftstoffsparend” gefahren wird.

    Und auch: Wenn man die Kupplung schon mal beginnt loszulassen, wenn (“doch erstmal nur”) die Radfahrerampel von Rot auf Gelb (und danach vermutlich auf Grün) wechselt.

    > den Verkehr abzubilden und den Übergang zu einer neuen Straße zu beschreiben. Ändert sich auf dieser das Tempolimit, wird in dem Modell direkt beschleunigt, wenn die Aufhebung einer Geschwindigkeitsbegrenzung sichtbar ist. Dies geschieht auch schon vor dem entsprechenden Verkehrsschild.

    … sofern darauf vertraut wird, dass sich insbesondere das Fahrzeug direkt vor dem eigenen ähnlich verhalt.

    > Dasselbe gilt, wenn man bremst, um die Geschwindigkeit zu reduzieren.

    Im Prinzip schon. Aber die Ampel “gerade erst” von Grün auf Gelb gewechselt hat ? …

    > Letztendlich hat das nichtlokale Modell noch eine weitere interessante Eigenschaft: Hat man alle Informationen über den gesamten Verkehr, so bewegt sich dieser mit der maximal erlaubten Geschwindigkeit […]

    Ach. …
    (Anfänger! ;)

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