Denken Hochbegabte differenzierter? – g und Spearmans “Law of Diminishing Returns”

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Intelligenz, Sonntagskinder und Schulversager
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Befunde zur Struktur der Intelligenz legen recht übereinstimmend nah, dass es so etwas wie eine übergeordnete “allgemeine” Intelligenz (auch “g-Faktor” genannt) gibt. Dieser trägt der Tatsache Rechnung, dass verschiedene Teilbereiche der Intelligenz statistisch positiv miteinander zusammenhängen – Personen, die gut im Lösen von Matrizenaufgaben (kleines weißes Dreieck verhält sich zu großem schwarzen Dreieck wie kleines weißes Viereck zu …?) sind, werden in der Regel auch in anderen Bereichen, z. B. sprachlichen Analogien oder Zahlenreihen, nicht unbedingt schlecht abschneiden. Allerdings gibt es auch Hinweise, dass es durchaus Unterschiede in der Intelligenzstruktur gibt – und dass die Zusammenhänge zwischen einzelnen Teilbereichen mit steigender Intelligenz immer geringer werden. Denken Hochbegabte also tatsächlich differenzierter?

Schon 1927 postulierte Spearman, dass die statistischen Zusammenhänge zwischen einzelnen Teilbereichen der Intelligenz mit steigender Gesamtintelligenz abnähmen, dass also g eine um so geringere Rolle für die einzelnen Teilfähigkeiten spielt, je intelligenter jemand ist. Man kann sich das vorstellen wie einen Baum, der sich mit zunehmender Höhe immer mehr verästelt: Je höher man kommt, desto geringer ist der Anteil, den der Baumstamm hat. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass spezifischere Fähigkeiten bei intelligenteren Menschen relativ betrachtet eine wichtigere Rolle spielen. Spearman nannte diese Gesetzmäßigkeit Law of Diminishing Returns. Er verwendete damit einen Begriff, der bereits aus der Ökonomie und den Naturwissenschaften bekannt war und der im Wesentlichen besagt, dass mehr nicht immer besser ist. Mit dem Sprichwort “Viele Köche verderben den Brei” drückt der Volksmund diesen Sachverhalt etwas weniger technisch aus. Im Kontext Intelligenz: Höhere allgemeine Intelligenz heißt nicht, dass sie auch automatisch mehr Bedeutung hat – im Gegenteil.

Rechnerisch geht man das mit einem Verfahren an, das “Faktorenanalyse” heißt und das dazu dient, den Datenwust aus den einzelnen Aufgaben, aus denen Intelligenztests bestehen, auf ein überschaubares Maß zu reduzieren. Dabei geht man so vor, dass man als erstes den Datenwust um die “Hauptkomponente”, die allen Aufgaben gemeinsam ist, “bereinigt” – diese Hauptkomponente lässt sich als g interpretieren. Wie oben geschrieben, hängen die einzelnen Teile eines Intelligenztests positiv miteinander zusammen. Genau diese gemeinsame Varianz zieht man so aus der Gesamtvarianz heraus; übrig bleiben dann die spezifischen Komponenten (beispielsweise inhaltsspezifische Aspekte wie sprachliche oder rechnerische Anteile, spezifische Gedächtnisaspekte, visuelle Wahrnehmungsfähigkeiten o. ä.).

Nun kann man verschiedene Gruppen – etwa Hochbegabte und durchschnittlich Begabte – daraufhin vergleichen, welchen Anteil g jeweils an der Gesamtvarianz hat. Und in der Tat gibt es einige Indizien dafür, dass die Intelligenzstruktur bei intelligenteren Menschen differenzierter ist. Detterman und Daniels (1989) konnten Spearmans Befund anhand der Normierungsstichproben der Wechsler-Tests für Kinder und für Erwachsene replizieren. Reynolds und Keith (2007) nutzten die Normierungsstichprobe des bekannten “Kaufman-ABC” (2. Auflage), einem Intelligenztest für Kinder. Sie teilten die Stichprobe genau in der Mitte und verglichen dann die beiden Gruppen: In der weniger intelligenten Gruppe erklärte g 90 % der Gesamtvarianz, in der intelligenteren hingegen nur 30. Zu ähnlichen Resultaten kommt Tucker-Drob (2009). Diese sehr umfassende Studie, in der eine US-repräsentative Stichprobe aus Kindern und Erwachsenen unterschiedlichen Alters untersucht wurden, fand durchweg Indizien für Spearmans Gesetz. In dieselbe Richtung gehen die Ergebnisse Studie von Legree, Pifer und Grafton (1996), die Rekruten der amerikanischen Armee untersuchten und den Effekt auch für Gruppenintelligenztests nachweisen konnten. Trotz der überwiegend positiven Befunde: Eindeutig “bewiesen” ist das Law of Diminishing Returns bislang nicht. Ergebnisse von Hartmann und Teasdale (2004), die eine repräsentative dänische Stichprobe junger Erwachsener untersuchten, fanden beispielsweise keine Bestätigung für Spearmans Gesetz, sondern eher das umgekehrte Phänomen – einen höheren g-Anteil bei intelligenteren Menschen.

Für die Hochbegabtenforschung und -förderung bedeutet das vor allem eins: Hochbegabte sind nicht nur insgesamt eine heterogene Gruppe – sie sind hinsichtlich ihrer kognitiven Fähigkeiten auch noch einmal heterogener als durchschnittlich Begabte. Und dieser Vielfalt sollte auch durch verschiedene Förderprogramme Rechnung getragen werden – denn auch hier gilt, wie im übrigen Leben, dass nicht jedes Deckelchen auf jedes Töpfchen passt. Die eine ultimative Fördermaßnahme, die für alle Hochbegabten gleichermaßen geeignet ist, gibt es nicht.

Für die Intelligenzstrukturforscher bedeutet das, dass es uns auf absehbare Zeit nicht langweilig werden wird. Auch wenn es Indizien gibt, die dafür sprechen, dass Spearmans Gesetz nicht aus der Luft gegriffen ist, müssen einander widersprechende Ergebnisse auch erklärt werden; die Verallgemeinerbarkeit der bisherigen Befunde auf verschiedene Altersgruppen1, Kulturen etc. erfordert weitere Studien. Viele der bisherigen Ergebnisse beruhen auf querschnittlichen Vergleichen; hier ist noch eine weitere ungeklärte Frage, ob sich die Intelligenzstruktur Hoch- und durchschnittlich Begabter über die Zeit1 unterschiedlich entwickelt. Wie so oft in der empirischen Forschung: “More research is required.” Und das ist auch gut so.

 

1 Die “Altersdifferenzierungshypothese”, dass die Intelligenzstruktur mit zunehmendem Alter zunächst komplexer wird und sich erst im hohen Alter wieder dedifferenziert, habe ich hier ausgeklammert; hier sind die Ergebnisse noch einmal deutlich heterogener. Interessierte Leserinnen und Leser seien hier insbesondere auf Tucker-Drob (2009) und die Berliner Alternsstudie, etwa Baltes und Lindenberger (1997) und Li et al. (2004) verwiesen. Eine allgemeine (und sehr informative) Übersicht, die die verschiedenen “Differenzierungshypothesen” integriert, findet sich bei Deary et al. (1996).

 

Literatur:

Baltes, P. B. & Lindenberger, U. (1997). Emergence of a powerful connection between sensory and cognitive functions across the adult life span: A new window to the study of cognitive aging? Psychology and Aging, 12, 12–21.

Deary, I. J., Egan, V., Gibson, G. J., Brand, C. R., Austin, E. & Kellaghan, T. (1996). Intelligence and the differentiation hypothesis. Intelligence, 23, 105–132.

Detterman, D. & Daniel, D. (1989). Correlations of mental tests with each other and with cognitive variables are highest for low ability groups. Intelligence, 13, 349–359.

Hartmann, P. & Teasdale, T. W. (2004). A test of Spearman’s “Law of Diminishing Returns” in two large samples of Danish military draftees. Intelligence, 32, 499–508.

Jensen, A. R. (1998). The g factor. The science of mental ability. Westport, CT: Praeger.

Legree, P. J., Pifer, M. E. & Grafton, F. C. (1996). Correlations among cognitive abilities are lower for higher ability groups. Intelligence, 23, 45–57.

Li, S.-C., Lindenberger, U., Hommel, B., Aschersleben, G., Prinz, W. & Baltes, P. B. (2004). Transformations in the couplings among intellectual abilities and constituent cognitive processes across the life span. Psychological Science, 15, 155–163.

Reynolds, M. R. & Keith, T. Z. (2007). Spearman’s law of diminishing returns in hierarchical models of intelligence for children and adolescents. Intelligence, 35, 267–281.

Spearman, C. E. (1927). The abilities of man. London, UK: Macmillan.

Tucker-Drob, E.M. (2009). Differentiation of cognitive abilities across the life span. Developmental Psychology, 45, 1097–1118.

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Dr. rer. nat. Tanja Gabriele Baudson ist Diplom-Psychologin und Literaturwissenschaftlerin. Seit Oktober 2017 vertritt sie die Professur für Entwicklungspsychologie an der Universität Luxemburg und ist als freie Wissenschaftlerin mit dem Institute for Globally Distributed Open Research and Education (IGDORE) assoziiert. Ihre Forschung befasst sich mit der Identifikation von Begabung und der Frage, warum das gar nicht so einfach ist. Vorurteile gegenüber Hochbegabten spielen hierbei eine besondere Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil sie sich auf das Selbstbild Hochbegabter auswirken. Zu diesen Themen hat sie eine Reihe von Studien in internationalen Fachzeitschriften publiziert. Sie ist außerdem Entwicklerin zweier Intelligenztests. Als Initiatorin und Koordinatorin der deutschen „Marches for Science“ wurde sie vom Deutschen Hochschulverband als Hochschullehrerin des Jahres ausgezeichnet. Im April 2016 erhielt sie außerdem den SciLogs-Preis "Wissenschaftsblog des Jahres".

11 Kommentare

  1. wozu Intelligenz?

    ich weiß wohl, wozu man gut augestattetes Wissen und Erkenntnisfähgkeit gebrauchen kann.

    Aber ist es in der heutigen Zeit nicht eher so, dass wirklich intelligente Menschen nicht wirklich in der Gesellschaft verwendet werden können? zumindest muß einem der Gedanke kommen, wenn man sich diese Welt und ihre Strukturen ansieht.
    Alles ist derart eingerichtet, dass man sich auf individuelle Leistungen nicht verlassen muß, sondern fast alles von fast jedem machen lassen kann. Es ist dafür nur eine kleine bis größere “Ausbildung” nötig. Wirkliche Intelligenz sei doch in fast allen Bereichen des modernen Lebens eigendlich vielmehr ein Störfaktor. Etwa mit ständigen Zweifeln an einer Begebenheit oder ähnlichem.
    Haben sich doch vermeindlich intelligente Leute erst Systeme ausgedacht, damit niemand mehr besondere Denkleistungen vollbringen muß. Der Rest ist dann weitestgehend eben “Auswendiglernen”, Denkstrukturmuster entwickeln und daran bis zur Vollendung üben.

  2. @chris

    Bei kreativen Tätigkeiten ist vielfältiges Wissen definitiv von Vorteil. Ich würde Ihnen aber zustimmen, dass man mit Auswendiglernen in unserem Bildungssystem sehr weit kommen kann. Von einer Herrschaft der Philosophen sind wir leider weit entfernt.

  3. Differenzierung

    Ich denke, die Abnahme der statistischen Zusammenhänge zwischen Teilfähigkeiten bei allgemein steigender Leistung findet man auch im Sport: Mit steigender allgemeiner Sportlichkeit nimmt die Differenzierung zu, weil die Leute ab einem gewissen Level anfangen, einzelne Disziplinen exzessiv zu trainieren, um genau dort besonders gut zu werden. Untrainierte sind dagegen in den meisten Disziplinen gleich gut bzw. schlecht.

    Die stärkere Differenzierung der Intelligenzstruktur bei intelligenten Menschen (sagen wir IQ > 110) könnte daher ebenfalls eine Folge von mehr spezifischem Training sein. Sie studieren häufiger als der Durchschnitt und trainieren dabei die üblichen Denkmuster ihres Fachs, lernen wie ein Ökonom, Jurist oder Mathematiker zu denken und differenzieren damit ihre Intelligenz aus.

    Im Bereich über IQ 130 könnte ich mir aber vorstellen, dass sich dieser Effekt abschwächt oder gar umkehrt, da die Leute dann oft mehrere Fächer studieren oder ihren Beruf mehrmals im Leben wechseln und damit immer wieder andere intellektuelle Teilfähigkeiten entwickeln. Dies würde dann zur Dedifferenzierung führen.

    Wer nach dem Studium eine Fachkarriere als Spezialist in einem Grosskonzern einschlägt, differenziert damit seine Intelligenzstruktur wahrscheinlich noch stärker aus als sie bereits durch das Studium differenziert wurde. Wer dagegen im Management einer Kleinfirma arbeitet oder sich selbständig macht und damit ein breiteres Aufgabenfeld bekommt, bei dem müsste eine Dedifferenzierung einsetzen. Das wäre zumindest meine Hypothese.

  4. @ Frau Baudson

    Frau Baudson, Sie meinen:

    “Von einer Herrschaft der Philosophen sind wir leider weit entfernt.”

    Und das ist auch gut so Frau Baudson.
    Nach meiner Auffassung ist es auch nicht Sinn und Zweck der Philosophie, Herrschaft ausüben zu wollen, oder Machtansprüche geltend machen zu wollen. Dann wäre die Philosophie nämlich überflüssig, dann bräuchte man sie nicht. 😉

  5. @Tanja Gabriele Baudson

    Gab es hier – wie es den Anschein hat – eine zeitweilige Unverfügbarkeit des Abgebots mit anschließendem Datenverlust oder wurde von Ihnen bewusst zensuriert?

    MFG
    Dr. Webbaer

  6. Intelligenzentwicklung bei Schülern

    Ist es möglich, dass ein getesteter und für hochbegabt befundener Schüler dieses Potenzial im Laufe der Schulzeit wieder verliert, obwohl er gezielt begabungsförderndem Unterricht ausgesetzt ist?
    Kann sich der IQ abschwächen bzw.
    zurückentwickeln und wenn ja, warum, was passiert da im Gehirn?

  7. @ Silke Moeske Intelligenzentwicklung bei Schülern 05.09.2012, 22:49

    -> Davon muß man normalerweise ausgehen. Mir scheints, das “Hochbegabung” sich nicht mit dem allgemeinen (Aus-)Bildungssystem vertragen kann – so es Hochbegabung überhaupt gibt.

    Dagegen spricht auch, dass wir quasi Zielgerichtet ausgebildet werden, was irgendwann erzwingt, dass wir uns zu etwas entscheiden müssen, damit eine “Hochspezialisierung” auf ein Fachgebiet erst begonnen werden kann – wie es in der modernen zeit erforderlich zu sein scheint.

    Für Hochbegabungg also scheint es keine Zukunft in dieser Gesellschaft zu geben.

  8. @ Silke

    Nein, denn das würde implizieren, dass der IQ allein durch die Umwelt determiniert und nicht durch Vererbung weitergegeben wird. Wer einmal intelligent ist, der bleibt es auch. Die einzige Ausnahme wäre ein (teilweiser) Verlust der kognitiven Fähigkeiten durch äußere Einwirkung i.e. einer Krankheit oder einem Unfall.

  9. @Silke Moeske

    Gewisse Schwankungen gibt es zwar; der Bereich, innerhalb dessen die Werte schwanken, wird jedoch mit zunehmender Entwicklung etwas enger. Was in dem Zusammenhang wohl eine wichtige Rolle spielt, ist die Motivation: Es reicht ja nicht nur, die IQ-Test-Aufgaben grundsätzlich lösen zu können, man muss auch die Anstrengungsbereitschaft mitbringen, diese lösen zu wollen. Auch ist nicht jede Fördermaßnahme für jede/n geeignet: Nur, weil “Hochbegabtenförderung” draufsteht, passen nicht alle Hochbegabten rein – denn diese sind eine hochgradig facettenreiche und vielfältige Gruppe. Gerade das Jugendalter ist außerdem eine Phase der Abgrenzung und Positionierung, in der vieles in Frage gestellt wird, um den eigenen Platz in der Welt zu finden. Insofern ist es natürlich auch möglich, dass die Werte deutlich schlechter sind, als sie sein könnten, wenn die Testung gerade in eine solche Phase der Ablehnung des gesellschaftlichen Leistungsdenkens fällt. Ein extremes Absinken der tatsächlichen Fähigkeit hat – da stimme ich Bernd zu – in der Regel eher pathologische Gründe.

  10. @chris

    So negativ würde ich das definitiv nicht sehen! Gerade, um Ideen zusammenzubringen und das ganze Spezialwissen sinnvoll zu integrieren, braucht man die Hochbegabten. Hohe Begabung ist eine großartige Voraussetzung zum Lernen; und Wissen in vielfältigen Bereichen ist wiederum sehr hilfreich, um eine solche Integrationsleistung erbringen zu können.

    Womöglich hat man es allerdings nicht so leicht, seinen Platz zu finden, in dem man sein Potenzial auch ausleben kann. Meines Erachtens ist die Frage aber auch, inwieweit man seine Umwelt gestalten kann und will. Wenn ich beispielsweise mit Leuten zusammenarbeiten muss, die neidisch sind und meine Arbeit nicht wertschätzen, kann ich etwa versuchen, den Kontakt zu minimieren, Einfluss darauf zu nehmen, wenn neue Mitarbeiter eingestellt werden, Ausgleich in der Freizeit zu finden, oder sogar den Job zu wechseln, wenn es gar nicht anders geht. Oft gibt es mehr an Möglichkeiten, als man auf den ersten Blick wahrnimmt.

  11. @Bernd, noch eine Differenzierung

    Was bei der Erblichkeitsdebatte nicht übersehen werden sollte: Gene und Umwelt verhalten sich nicht additiv, sondern können einander auch beeinflussen. Manche Gene benötigen beispielsweise bestimmte Umweltbedingungen, um aktiviert zu werden. Das noch zur Ergänzung.

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