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Wahrnehmung: Meine Realität

Stell dir vor, du wärst ein Gehirn. Du sitzt im Dunkeln. Alles um dich herum ist schwarz und geräuschlos. Du weißt nicht, ob du dich bewegst, stillstehst oder welche Temperatur deine Umgebung hat. Du sitzt einfach in einer stillen, neutralen Box mit dicken stabilen Wänden aus Knochen. Die einzige Verbindung zur Außenwelt sind ein paar Stromkabel, die vor dir liegen und die dich unregelmäßig mit Signalen versorgen. Damit versuchst du zu erkennen, was dort draußen vor sich geht. Doch die meisten Signale sind kryptisch. Du bekommst weder Farben noch Formen noch Gerüche geschickt. Du bekommst nur eine Abfolge von elektrischen Signalen und ohne Interpretation in uns bekannte Werte sind die Signale wertlos.

Die Interpretation der Signale ist abhängig von deinen bisherigen Erfahrungen, Erinnerungen und Gefühlen. Du schaust dir die Impulse an und versuchst sie mit bisherigen Signalen zu vergleichen, um zu erraten, was dort draußen geschieht. Erst dann kannst du das Gefühl unter deinen Füßen dem Gefühl von Sand zuordnen, den Geruch in deiner Nase, dem Geruch von Meer und die vielen verschieden visuellen Reize bilden dann kleine Wellen, die den grauen körnigen Sand berühren. Zusammen bilden sie den Anblick der Ostsee. Vielleicht hat dein Großvater hier gelebt und du verbindest diese Kombination mit Entspannung und Familienzeit.

Das alles ist jedoch eine Interpretation. Schon der Mathematiker Hermann von Helmholtz (1821-1894) beschäftigte sich mit diesem Thema Wahrnehmung. Seiner Meinung nach basiert unsere Sinneswahrnehmung auf der besten Vermutung des Gehirns, was wirklich ist.

Unterschiedliche Wahrnehmung: das Kleid

Ein einfaches Beispiel, wie unterschiedlich wir die Welt wahrnehmen, ist das ominöse Kleid, das 2015 das Internet spaltete und eine neue Diskussion über Wahrnehmung von Farben entfachte. Sag mir ist dieses Kleid eher weiß und gold oder schwarz und blau?

Interessant ist hierbei, dass die meisten Menschen nur eine der Farbkombinationen sehen und es fällt ihnen sehr schwer, das Kleid auf eine andere Art und Weise zu sehen. Dies ist anders als bei anderen multistabilen Wahrnehmungen wie zum Beispiel dem Bild der „Gesichter und der Vase“. Hier bestimmt auch unsere Interpretation, welche der beiden Varianten wir sehen. Jedoch fällt es meisten Menschen hier leichter, zwischen den beiden Interpretationen hin und her zu wechseln.

Eine Umfrage mit 1401 Teilnehmern erfasste, dass die Rate an Personen, die sich eher für die Farben Weiß und Gold entschieden, höher unter Frauen und unter älteren Menschen war. Bedeutet dies, dass jeder Mensch Farben anders wahrnimmt? ….. ja …… wahrscheinlich [5,6].

Anzunehmen, dass unser Gehirn unsere Realität nur vermutet, kann uns auch dabei helfen, ungewöhnliche Bewusstseinszustände wie Schlaf, Narkose, Koma und ähnliche halluzinatorische Zustände zu verstehen.

Veränderte Wahrnehmung: Halluzination

Eine Halluzination ist eine Wahrnehmung, die ohne äußere Stimuli erzeugt wird[4]. Wenn wir vermuten, dass unser Gehirn ein Modell der Wirklichkeit entwickelt, indem es Signale interpretiert, könnten Halluzinationen eine falsche Interpretation dieser Signale sein. Zum Beispiel werden die Signale stärker als sonst mit unseren eigenen Erwartungen aufgefüllt und verändern. Deshalb sind häufig auftretende Halluzinationen das Sehen von geometrischen Mustern oder das Erkennen von Gesichtern in Objekten. Halluzination kann also als unkontrollierte Interpretation äußerer Reize gesehen werden.

Anil Seth, aktuell einer der bekanntesten Wissenschaftler über Wahrnehmung und unser Bewusstsein, beschreibt eine Halluzination als unkontrollierte Wahrnehmung und folgert, dass unsere alltägliche Wahrnehmung nichts anderes als eine kontrollierte Halluzination sein muss[1,2,3].

„Of course it is happening inside your head, Harry, but why on earth should that mean that it is not real?”

-Albus Dumbledore in Harry Potter and the Deathly Hallows by JK Rowling 

Bewusstsein

Auch das Gefühl, du zu sein, beschreibt er als eine Halluzination. Die meisten Menschen wissen, dass sie existieren. Wir können nicht genau begründen warum, aber wir wissen, wir sind da, haben einen Körper, einen Willen und eine Erinnerung an unsere Existenz. Wir haben eine Geschichte. Dieses Gefühl von „Ich“ wird Bewusstsein genannt.

Schon länger versuchen Wissenschaftler Bewusstsein zu messen und zu zeigen, wie wir das Bewusstsein zum Beispiel während einer Narkose verlieren. Allein Hirnaktivität zu messen, reicht nicht, um Bewusstsein nachzuweisen, denn Forschungen zeigen, dass unser Gehirn im wachen Zustand fast so aktiv ist wie im schlafenden Zustand. Stattdessen wird versucht, die Komplexität der Hirnaktivität nachzuweisen.

Patienten in Narkose weisen gleichmäßige Signale auf. Wie Wellen in einem Teich. Bewusste Patienten hingegen zeigen ein komplizierteres Muster. Diese Komplexität kann gemessen werden und damit vielleicht das Bewusstsein. So könnte man messen, ob ein Koma-Patient „wach“ ist oder nicht[7].

Foto von Pixabay von Pexels: https://www.pexels.com/de-de/foto/wassertropfen-220211/e

Zusammenfassung

Zusammengefasst kann man sagen das unsere Wahrnehmungen der Umwelt oder unserer Existenz wahrscheinlich Vermutungen sind und in Zuständen wie Narkose oder Halluzination ist diese Interpretation verändert.

“In fact, we are hallucinating all the time. […] Its just that when we agree about our hallucinations, we call that reality.”

Wir halluzinieren ständig. […] Nur wenn wir uns auf unsere Halluzinationen einigen können, nennen wir es Realität. – Zitat: Anil Seth

Quellen

  1. Seth A. The real problem. Aeon Media Group. 2016. https://aeon.co/essays/the-hard-problem-of-consciousness-is-a-distraction-from-the-real-one
  2. Seth A. Being You: A New Science of Consciousness. Faber/Dutton. 2021.
  3. Nature Careers Podcast. Marvelling at the mystery of consciousness through a scientific lens. 2023. https://www.nature.com/articles/d41586-023-00545-9
  4. Carter R. The Brain in Minutes. Quercus. 2018.
  5. Gegenfurtner KR, Bloj M, Toscani M. The many colours of ‘the dress’. Curr Biol. 2015;25(13):R543-R544. https://doi.org/10.1016/j.cub.2015.04.043
  6. Lafer-Sousa R, Hermann KL, Conway BR. Striking individual differences in color perception uncovered by ‘the dress’ photograph. Curr Biol. 2015;25(13):R545-R546. https://doi.org/10.1016/j.cub.2015.04.053
  7. Sarasso S, et al. Consciousness and complexity: a consilience of evidence, Neuroscience of Consciousness, 2021; niab023, https://doi.org/10.1093/nc/niab023
  8. Titelbild: https://commons.wikimedia.org/wiki/commons/c/c2/

Autorin des Artikels ist Ronja Völk.

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Ab und zu gibt es auch Gastbeiträge im Blog, die neben dem Team der Hertie-Stiftung aktuell verfasst werden von Carolin Haag, M.Sc. in Molekularbiologie, Doktorandin am Hertie-Institut für klinische Hirnforschung in Tübingen, Lale Carstensen, M.Sc. in Chemie, promoviert am Institut für Wasserchemie der Technischen Universität Dresden und Ronja Völk, M.Sc. in Molekulare Biotechnologie und ehemalige Autorin bei Hirn und Weg. HIRN UND WEG ist der Neuroblog der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung , der die Bandbreite und Facetten eines der faszinierendsten Organe zeigen, Erkenntnisse aus Wissenschaft einfach und gut erklären und geistreich und unterhaltsam begeistern möchte. Neben der Informationsvermittlung gehören die Förderung von Exzellenz und die Schaffung von Strukturen in den Neurowissenschaften zu den Zielen des Programmbereichs "Gehirn erforschen" der Stiftung.