Die Depression und das Serotonin

Serotonin

„Ich hab einfach zu wenig Glückshormone. Darum geht es mir so schlecht!“ Wenn es euch geht so wie mir, dann habt ihr diese Erklärung schon häufiger gehört. Viele gehen davon aus, dass depressive Symptome oder auch depressive Verstimmungen aus einem Mangel an bestimmten Botenstoffen im Hirn resultierten. Diese Vorstellung klingt auf den ersten Blick auch sehr plausibel. Jedoch haben die letzten Jahre gezeigt, dass die Geschichte nicht so einfach ist.

Disclaimer:

In diesem Blogeintrag werden Depression, Antidepressiva und mögliche Neurobiologische Hintergründe der Erkrankung besprochen. Die hier dargestellten Informationen sind Gegenstand einer weitreichenden Debatte in der neurowissenschaftlichen Forschung und rechtfertigen momentan keine eindeutigen medizinischen Rückschlüsse. Solltet ihr momentan Antidepressiva einnehmen und Bedenken dazu haben, dann besprecht dies dringend mit euren behandelnden Ärztinnen oder Ärzten und setzt eure Medikamente unter keinen Umständen eigenständig ab!

Die Serotoninhypothese

Die Depression ist die häufigste aller psychischen Erkrankungen und dementsprechend ein ständiger Gegenstand von pharmakologischer und klinisch-psychologischer Forschung. Wie wahrscheinlich viele von euch wissen, gibt es auch bereits eine Vielzahl zugelassener Medikamente, die Abhilfe bei den typischen Symptomen der Depression verschaffen sollen. Die am häufigsten verschriebenen Medikamente gegen die Depression sind dabei die sogenannten SSRIs, was für „selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer“ oder „selective serotonin reuptake inhibitor“ steht. Diese Medikamente hemmen ein Protein namens SERT, den Serotonin Transporter. SERT ist in unserem Nervensystem dafür zuständig, aktives Serotonin zu binden und in die Zelle zurückzuführen. Somit wird verhindert, dass der Botenstoff erneut an die Rezeptoren einer nachgeschalteten Zelle bindet. Das Hemmen des Transporters sorgt folglich dafür, dass mehr Serotonin in unserem Gehirn verfügbar ist. SSRIs unterscheiden sich in dieser Hinsicht übrigens nicht grundsätzlich von den trizyklischen Antidepressiva. Diese waren vor der Entwicklung und Popularisierung der SSRIs die typischsten antidepressiven Medikamente und hemmen unter anderem die Wiederaufnahme des Serotonins. Wir behandeln die Depression also schon seit Jahrzehnten mit Strategien, die für mehr verfügbares Serotonin im Hirn sorgen.

Depressionen
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Dieser Umstand legt natürlich die Vermutung nahe, dass der neurobiologische Hintergrund einer Depression mit einem Mangel an Serotonin verbunden sein muss. Schließlich führt mehr Serotonin zumindest zu einer Besserung der Symptome, nicht wahr? „Nein!“, sagen Moncrieff et al.  in ihrer sowohl wissenschaftlich als auch medial breit diskutierten Veröffentlichung aus dem letzten Jahr [1].

Die eben umschriebene Denkweise wäre eine rudimentäre Version dessen, was man in den Neurowissenschaften gerne die „Serotoninhypothese der Depression“ nennt. Diese Hypothese wurde ursprünglich in den 1960ern aufgestellt und in den 1990ern popularisiert. Die Idee, dass Depression eine Folge von Serotoninmangel sei, wurde daraufhin in diversen psychiatrischen und klinisch-psychologischen Lehrbüchern gedruckt und gelehrt [2]. Auch hat die Aussage, dass depressive Symptome von chemischen Mängeln im Gehirn herrühren im Volksmund einige Popularität.

Die Kritik

Gerade im letzten Jahr wurde die Hypothese sowohl in der Forschungsgemeinschaft als auch in der Presse verschärft angegriffen. Auslöser dafür war eine sogenannte Umbrella-Review, die im letzten Jahr in der prestigeträchtigen wissenschaftlichen Zeitschrift Molecular Psychiatry veröffentlicht wurde [1].

Eine Umbrella-Review setzt es sich zum Ziel, alle bereits aufgestellten Meta-Analysen, also statistische Studien, die möglichst viele Experimente zu einem Thema zusammenrechnen, zu sammeln und gemeinsam auszuwerten. Die Forschenden bezogen dabei Ergebnisse aus verschiedensten Methoden mit ein. Diese reichten von genetischen Analysen über Messungen von Serotoninspiegeln im Blutplasma bis hin zu Messungen der Mengen von molekularen Bausteinen und Abbauprodukten des Serotonins im Körper depressiver Menschen.

Drei der fünf erhobenen Methoden konnten keinen Zusammenhang zwischen einem Mangel an Serotonin und depressiven Symptomen herstellen. Eine sprach sogar aktiv für das Gegenteil und ein letzter Fall unterstütze die Hypothese zwar, allerdings nur in der Gruppe der Teilnehmenden, bei denen neben der eigenen Erkrankung auch eine Familiengeschichte der Depression bestand.

Die Review erhielt nach ihrer Veröffentlichung eine für wissenschaftliche Publikationen eher ungewöhnliche Menge an Aufmerksamkeit. Auch in Teilen der klinisch-psychologischen Community wurde die Review aufgenommen. Auf ihrer Basis wurde ein Ruf nach Erneuerung in der Ausbildung neuer Behandelnder, der Forschung und der öffentlichen Kommunikation der Depressionsforschung formuliert [3].

Serotonin Synthese
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Die Antwort

Die Review erhielt allerdings auch einige Kritik. In einer Antwort auf die Review äußerten sich diverse Forschende. Darunter waren auch einige der größten Schwergewichte der psychopharmakologischen Forschung wie etwa Professor David Nutt, Leiter des Zentrums für Neuropsychopharmakologie am Imperial College oder Professor Phil Cowen in Oxford [4]. In den Beiträgen der Forschenden kamen vor allem drei Kritikpunkte zu tragen.

Erstens wurde angemerkt, dass es sich bei der Depression nicht um ein einheitliches Störungsbild handelt. Viel eher sollte man sie als ein breites Spektrum an Symptomen betrachten, die in verschiedenen Kombinationen auftreten können und keinen einzelnen einheitlichen Grund haben. Sowohl die Forschung an den Ursachen der Depression als auch die Behandlung derselben orientieren sich meist also nicht an einer einzelnen Hypothese. Vielmehr orientieren sie sich an komplexeren Ursprungsmodellen, die sowohl biologische als auch psychologische und soziologische Aspekte miteinbeziehen.

Zweitens merkten viele der Kritisierenden an, dass es sich bei den Messungen der von Moncrieff et al.  zusammengetragenen Studien ausschließlich um sogenannte Proxies handele. Dies bedeutet, dass es keine direkten Messungen der Menge von Serotonin an der Synapse sind. Eine solche Messung ist mit momentanen Mitteln im menschlichen Hirn auch gar nicht möglich (oder zumindest ethisch nicht vertretbar). Die Messungen sind beruhen also nicht auf der eigentlichen Serotoninaktivität im Gehirn, sondern nur auf deren Resultaten. Aus diesem Grund könnten die Messungen auch durch eine Reihe von körperlichen Prozessen mitbeeinflusst und verfälscht werden.

Der dritte Punkt der Kritik ist wahrscheinlich der schwerwiegendste. Hier wurde darauf aufmerksam gemacht, dass kurz nach dem Schluss der Datensammlung in der Umbrella-Review im Jahr 2020 eine Meta-Analyse veröffentlicht wurde, die Moncrieff et al. widerspricht. Zu allem Überfluss erschien diese Analyse ebenfalls in Molecular Psychiatry. Sie fand eine Verbindung zwischen L-Tryptophan Mängeln und Depressionsdiagnosen [5]. Dieses Ergebnis klingt nun komplizierter als es eigentlich ist. Kurz erklärt, ist Tryptophan die Aminosäure, die dem Serotonin zugrunde liegt. Wir brauchen es also, um Serotonin in unserem Körper herzustellen. Folglich zeichnet diese Studie ein Bild, in dem die neurochemischen Grundlagen der Depression sehr wohl mit einem Serotoninmangel verbunden sind. Natürlich stellt sich nun die Frage, wie es sein kann, dass Analysen im gleichen Journal, die fast zur gleichen Zeit Ergebnisse sammeln, zu gegensätzlichen Einschätzungen gelangen können. Die Kritisiernden von Moncrieff et al. zweifeln deshalb an der Vollständigkeit der einbezogenen Daten.

Was bedeutet das alles für uns?

Sicher ist, dass ein einfacher Zusammenhang zwischen Serotoninmangel und depressiven Symptomen zu simpel und wissenschaftlich nicht haltbar ist. Selbst die Analyse, die Moncrieff et al. widersprach, stellte neben dem Serotonin auch Abweichungen in den Bausteinen anderer Neurotransmitter fest. Sie kommen also auch zu dem Schluss, dass das Bild komplexer ist als „zu wenig Serotonin führt zur Depression“. Beispielsweise wurde ein Überschuss in Tyrosin festgestellt, aus welchem Dopamin und Noradrenalin geformt werden. Dennoch erlaubt die momentane Datenlage es nicht, eine Störung des Serotoninsystems aus den Ursprungsmodellen der Depression zu verabschieden. Das hat die Kritik an Moncrieff et al. gezeigt. Klar scheint zudem, dass Lehrbücher aus den Bereichen der klinischen Psychologie und Psychiatrie dieses unterkomplexe Modell zu häufig als gegeben betrachtet haben. Eine Sensibilisierung der Behandelnden für die Unsicherheit in dieser Fragestellung wird notwendig sein.

Für die Verwendung von SSRIs und anderen sich auf den Serotoninspiegel auswirkenden Antidepressiva ist die Situation komplexer. Die hier besprochene Debatte zeigt eindeutig, dass wir die grundlegenden Wirkungsmechanismen hinter diesen Medikamenten bis heute nicht gut verstehen. Nichtsdestotrotz ändert dies nichts an dem Umstand, dass viele Menschen von SSRIs profitieren und die Medikamente sich in Untersuchungen klar vom Placeboeffekt abheben [6]. Die Wirkungsmechanismen von SSRIs unterliegen momentan ohnehin einer wissenschaftlichen Neubetrachtung. Neuerdings wird zum Beispiel vermutet, dass sie dadurch wirken könnten, dass sie die Formung neuer Synapsen im Hirn erleichtern.

Antidepressiva
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Für unser Alltagsverständnis des Gehirns lässt sich aus der Debatte vor allem eines ableiten: Das Hirn ist keine Maschine! Es macht keine Probleme, wenn einmal Öl fehlt. Stattdessen stehen wir immer im Kontext unserer sozialen und gedanklichen Situation. Es ist wichtig, diese Ebene mitzudenken, wenn man sich schlecht fühlt. Bei Problemen mit depressiven Symptomen sind Medikamente zwar durchaus eine valide Strategie, doch genauso valide, wirksam und wichtig sind Mittel wie Psychotherapie, Gruppentherapie und ein gutes soziales Netz, dem man sich anvertrauen kann! Be safe!

Literaturverzeichnis

Literaturverzeichnis

[1]   Moncrieff J., Cooper R. E., Stockmann T., Amendola S., Hengartner M. P., Horowitz M. A.: The serotonin theory of depression: a systematic umbrella review of the evidence. Molecular Psychiatry (2022).

[2]   Ang B., Horowitz M., Moncrieff J.: Is the chemical imbalance an ‘urban legend’? An exploration of the status of the serotonin theory of depression in the scientific literature. SSM – Mental Health 2, 100098 (2022).

[3]   Borgogna N. C., Aita S. L.: Is the serotonin hypothesis dead? If so, how will clinical psychology respond? Frontiers in psychology 13, 1027375 (2022).

[4]   Rabiner E. A., Agnorelli C., Howes O., Nutt D. J., Cowen P. J., Erritzoe D.: Reply to: No Clear Evidence of Reduced Brain Serotonin Release Capacity in Patients With Depression. Biological psychiatry (2023).

[5]   Pu J., Liu Y., Zhang H., Tian L., Gui S., Yu Y., Chen X., Chen Y., Yang L., Ran Y., Zhong X., Xu S., Song X., Liu L., Zheng P., Wang H., Xie P.: An integrated meta-analysis of peripheral blood metabolites and biological functions in major depressive disorder. Molecular Psychiatry 26, 4265–4276 (2021).

[6]   Cipriani A., Furukawa T. A., Salanti G., Chaimani A., Atkinson L. Z., Ogawa Y., Leucht S., Ruhe H. G., Turner E. H., Higgins J. P. T., Egger M., Takeshima N., Hayasaka Y., Imai H., Shinohara K., Tajika A., Ioannidis J. P. A., Geddes J. R.: Comparative efficacy and acceptability of 21 antidepressant drugs for the acute treatment of adults with major depressive disorder: a systematic review and network meta-analysis. Lancet (London, England) 391, 1357–1366 (2018).

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Mein Name ist Florian Walter und ich studiere Neurowissenschaften im Master an der Uni Frankfurt. Während meines Bachelors in Psychologie und in meinen klinischen Praktika habe Ich ein großes Interesse an Fragestellungen rund um das Gehirn entwickelt. Am meisten interessieren mich die Bereiche der Psychopharmakologie und der klinischen Neurowissenschaft. Ich hoffe über diesen Blog etwas von meiner Begeisterung mit euch teilen zu können!

21 Kommentare

  1. Ein für mich interessanter Artikel zu Neuroplastizität, Serotonin und Psychedelika ist Psychedelics promote plasticity by directly binding to BDNF receptor TrkB . Er kommt zu folgendem Resultat: Ähnlich wie bei traditionellen Antidepressiva regen Psychedelika neues Wachstum sowohl bei Baby- als auch bei reifen Neuronen an. Aber die neuroplastischen Substanzen waren 1.000-mal effizienter als Prozac, wenn es um einen wichtigen molekularen Hub, TrkB, ging. Mit nur einer einzigen Dosis erhöhten die Medikamente die Stimmung bei Mäusen unter chronischem Stress und reduzierten eine zuvor etablierte Angst.

    • Danke für den interessanten Verweis. Die ersten Ergebnisse zur antidepressiven Wirkung von serotonergen Psychedelika (wie in dem von Ihnen erwähnten Artikel), sowie die Effektivität von Ketamin (aktiv an einem Glutamat Rezeptor), sind auf jeden Fall sehr relevant. Hier wird eben gezeigt, dass depressive Symptome auf mehr als eine Weise pharmakologisch behandelt werden können. Dies würde Ich als weiteren Beleg für die hohe Komplexität der Erkrankung verstehen.
      Liebe Grüße!

  2. Das klingt für mich ein bisschen so, als würden sich Leute “Ernährungswissenschaftler” nennen und über Kohlenstoff räsonieren (und wie wichtig Kalorienzufuhr ist!), hätten aber nicht mal klar, ob es um Zucker oder Ballaststoffe geht. Und von “Vitaminen” noch nie was gehört.

    Es macht keine Probleme, wenn einmal Öl fehlt.
    Im obigen Kontext des Spektrums der Kohlenstoffe könnten die Fettsäuren möglicherweise schon unter “Vitamine” fallen; die Schmierstoffe wichtiger sein als die Karosserie (Fleisch/Eiweiß) oder der Sprit (Kohlenstoffe/Abgase). Ein Kolbenfresser ist schwerer zu reparieren als eine Beule.

    Überhaupt – so wie für Diäten gilt, dass der Körper (selbst) keine Kalorien zählt, ist diese Sichtweise, Serotonin sei wie “Zucker” (Kalorienlieferant! Wichtig!), nicht unrichtig, aber doch ungeeignet, damit Defizite auszugleichen.

    Man kann “Verdauungsstörungen” ja auch nicht mit leckerem Essen heilen.

    Womit ich ausdrücklich nichts “gegen Glück” sagen möchte, aber “gegen Unglück” richtet sich automatisch “gegen Gefühl” – und kann damit, für mein Gefühl, nichts bringen an “Heilung” (des Serotonin- bzw. Gefühls- oder “Glückshaushaltes”). Stoffwechseltechnisch fehlen mir da die Abstufungen zwischen Hunger und Appetit.

    Mir gefällt die Annahme besser, dass so wie Zucker und Ballaststoffe beide aus Kohlenstoff bestehen, Trauer und Glück, Weinen und Lachen die gleiche Quelle haben. (Wobei ich hier konkret an das Zwischenhirn denke.)

    Die Pharmakologie müsste da, für meinen Geschmack, gar nicht so “individualistisch” denken (ist ja nicht Psychotherapie), es geht eben nicht um Glück vs. Unglück, sondern um einen Verdauungsprozess (der Realität, des Inputs, das verarbeitet wird.)
    Dass man sich ganz allgemein mal “mit dem Scheiß, den wir anrichten” auseinander setzen sollte, hat ja jetzt nicht unmittelbar damit zu tun, wie wir funktionieren.
    (Wobei sich für mich “gegen Depression” wie “gegen Verdauung” anhört. Geht nicht, Verdauung muss sein; Ballaststoffe sind nötig. Auch in der Somatik kann man nur “gegen die Störung” arbeiten, nicht gegen das betroffene Organ.)
    “Fasten” mag als Kur funktionieren, ist aber streng genommen kein “Mittel”, bzw. als solches potentiell auch tödlich…

    Wer nicht fährt, verbraucht nicht nur keinen Sprit, er produziert auch keine Abgase.
    (Vielleicht bedeutet Yoga (wörtlich: “sich selbst vor den eigenen Karren spannen”) ja, dass wir uns nicht als Autos, sondern E-Bikes sehen könnten. Um dem “fehlenden Atem” des Bildes etwas von der negativen Konnotation zu nehmen.) Es solte mehr um Differenzierung und weniger um “Stillstand vs. Bewegung” gehen, denke ich.

    Wissen über den Serotoninhaushalt mag der psychischen Gesundheit von Nutzen sein können, dieser hat in meinen Augen aber nicht wirklich was damit zu tun, den Stoff nur in Form von Pillen unter die Leute zu bringen. (Das kommt mir eher wie eine dystopische Form von “Sollen sie doch Kuchen essen!” vor, bei der tatsächlich Unmengen an Kuchen verteilt wird.)

    So jedenfalls mein bisheriges Fazit zum Thema; Danke für das Update!

  3. Autobahnbrücke ist kaputt, der Verkehr steht still, also puste ich mehr Abgase in die Luft, dann fahren die Autos wieder… Wir arbeiten hier mit einem Faustkeil am Computer, und wollen trotzdem Ergebnisse haben, die wir mit unseren Mitteln gar nicht erreichen können. Wissenschaft scheitert oft an der Mentalität des Jägers, dem Instinkt, der ihm sagt, dass er groß und mächtig ist, und die Beute dumm, schwach und hilflos. Ist halt ein Affe, der den Faustkeil schwingt.

    Das Hirn ist eben doch eine Maschine. Nur fällt das nicht so auf, weil die Maschinen, die wir bauen, noch simple Marionetten sind, die nur tanzen, wenn wir die Strippen ziehen. Doch bereits unsere KI, deutlich primitiver als ein Gehirn, macht Dinge, die wir nur oberflächlich verstehen können – sie entzieht sich in die gleiche Black Box der Schwarzen Magie. Dass ein so komplexes, raffiniertes System benötigt wird, um einen Schwachkopf herzustellen, der es nie und nimmer begreifen kann, ist normal – die Komponenten, die sich zu einem System zusammenfügen, müssen per Spezialisierung verdummen, damit das System als Ganzes intelligenter wird, aber schiere Masse von Komponenten macht es wiederum dümmer, sodass irgendwann eine neue, höhere Management-Instanz erforderlich wird, die die Evolution der Intelligenz von vorne beginnt. Alles, was zu schlau sein will, endet irgendwann als gedankenloses, fühlendes Fleisch, Knete für neue, viel größere Lebewesen, und die beginnen wiederum ganz unten auf der Jakobsleiter der Intelligenz-Evolution. Es stehen ihnen dann nur vielfältigere Rohstoffe zur Verfügung, mehr Sorten fühlenden Fleisches, um Maschinen und Computer zu entwickeln.

    Vorläufig kann ich die Black Box nur sabbernd mit offenem Maul anglotzen und alles tun, von dem mir Versuch und Irrtum gezeigt haben, dass es irgendwie ihre Selbstreparatur-Kräfte ankurbelt. Und damit haben Sie Recht – whatever works. Verstehen, wie und warum es wirkt, ist bei Schwarzer Magie hilfreich, doch nicht erforderlich.

  4. Hallo Herr Walter,

    ich bin zur Zeit in der SINOVA-Schussentalklinik zur psychosomatischen Behandlung (Depressionen u.a.) Gestern hatten wir einen Vortrag zu den Grundlagen der Psychosomatik und so verstehe ich heute auch den Artikel recht gut. Ich finde dass ihr Schreibstil für Laien erfrischend ist. Ich bin gespannt auf Ihre nächsten Publikationen. Ich wünsche Ihnen eine glückliche Hand in der Forschung und bleiben Sie gesund.
    Freundliche Grüße
    Gerd Herm

    • Hallo Herr Herm,

      Vielen Dank für ihre lieben Worte! Es freut mich sehr, dass Ihnen der Beitrag gefallen hat.

      Freundliche Grüße,
      Florian Walter

  5. Danke für die Übersicht. So einen “Disclaimer” hätte ich mir für die letzten 30-40 Jahre bei der Seite gewünscht, die euphorisch die Serotonin-Hypothese der Depression stützt.

    Die Frage ist daher auch, wer hier die Beweislast trägt; eigentlich derjenige, der mit einer positiven Aussage kommt (also beispielsweise sagt, SSRIs WIRKEN gegen Depressionen). In der Praxis ist es aber meist umgekehrt und wird vom Kritiker mehr erwartet.

    Mit dem Gegeneinwand, dass Depressionen heterogen sind (konkret: nach den DSM-5-Kriterien gibt es 227 unterschiedliche Symptomkombinationen, wobei Patienten mit derselben Diagnose mitunter nur ein Symptom teilen), sägen die Psychopharmakologen aber an ihrem eigenen Ast: Denn das widerspricht in erster Linie der Annahme, dass es dafür ein bestimmtes pharmakologisches Ziel gibt.

  6. Ja, vieles ist richtig, aber für mich, der ständig eine wirklich-wahrhaftige Vernunft und zweifelsfrei-eindeutiges Verantwortungsbewusstsein OHNE … propagiert, ist das hier auch nur ein “TANZ UM DEN HEIßEN BREI”, solange (wahrscheinlich bis ans Ende meines Lebens!) muss ich wohl weiter trizyklische Antidepressiva zum Schlafen schlucken, denn mein sicher reichlich vorhandenes Serotonin, kann die ins Unterbewusstsein verschobenen Probleme meines Bewusstseins (leider eben auch Bewusstseinsbetäubung mangels Kommunikationsmöglichkeiten auf gleichem Ziel-Level!) nicht aufarbeiten.

  7. @Viktualia 10.08. 21:24

    „…es geht eben nicht um Glück vs. Unglück, sondern um einen Verdauungsprozess (der Realität, des Inputs, das verarbeitet wird.)
    Dass man sich ganz allgemein mal “mit dem Scheiß, den wir anrichten” auseinander setzen sollte, hat ja jetzt nicht unmittelbar damit zu tun, wie wir funktionieren.“

    Gerade im sozialen Miteinander sind auch die Fakten, die wir einander antun, durchaus wesentlich. Nicht der, der den größten Mist selber baut ist auch der, der die psychischen Schwierigkeiten bekommt. Manchmal trifft es die Falschen.

    Und doch ist es die eigene Kompetenz, die weiterhilft. Weil man an die anderen einfach nicht dran kommt. Und auch nicht kommen muss. Man geht sich einfach aus dem Weg, und wendet sich Menschen zu, mit denen man leben kann. In einem Miteinander, das auch produktiv werden kann.

  8. @Tobias Jeckenburger – Und doch ist es die eigene Kompetenz, die weiterhilft.
    Absolut.
    Mir ging es aber nicht um die “persönliche Verantwortung” (es geht ja darum, was eine Medikation überhaupt leisten könne), sondern die Befähigung dazu auf neurologischer Ebene.

    Ist ja so schon ein Problem (in der Psychotherapie): man befähigt (als Therapeutin) den Kunden dazu, seine Interessen zu vertreten und was passiert? Familienstreit, weil die ja gar nicht gewöhnt sind, dass sich da wer beschwert, es wird normal ja eher gelitten als ausgestiegen.

    Und dann soll eine Pille den Trick tun?

    Und da kommt halt meine Überlegung rein, dass es zwischen der Angst vor dem Problem und der Angst vor den Konsequenzen der Lösung ja gar keinen großen Unterschied gibt: Angst ist Angst.

    Egal, ob es neurophysiologische Möglichkeiten gibt, diese Angst zu lösen, wesentlich bleibt, ob “die Lösung” von einer Gesellschaft überhaupt ge- bzw. ertragen wird.
    Ob die Gesellschaft überhaupt wissen will, wie “Glück”, wie ein friedliches, gerechtes Miteinander funktionieren könnte.

    Und ich persönlich schätze, dass es nicht an der Hardware (den “Nerven”) liegt, sondern an den Programmen (unserem Glauben/Gewohnheiten), die wir darauf laufen haben: Gier, Neid, Angst, der ganz normale Wahn halt.

    Insofern erwarte ich von der “Serotoninforschung” (dass sie sich von der “Depressionsforschung” emanzipiert…), dass sie uns befähigt, “Glück” mal anders als “Schlaraffenlandmässig” zu definieren und eine Art Beweis dafür liefert, dass wir Menschenkinder “Sinn” brauchen (dass also der “Verdauungsprozess” mal unter die Lupe genommen wird.)
    Dass es “Verantwortung” ist, die dem Einzelnen fehlt: Antworten auf die eigenen Fragen; Antworten zu den Konsequenzen der eigenen Handlungen.

    Ich erwarte, dass uns das auch effektiv von unseren Ängsten befreien könnte, denn diese Ängste füttern die Probleme und die füttern die Ängste – und keiner füttert unsere Herzen mit Vernunft. Bislang jedenfalls. Wird Zeit…

    Ich erwarte wirklich so was von der “Neurophysiologie”; ich glaube nicht, dass unsere Unvernunft in unseren Genen festgeschrieben ist, im Gegenteil. (Naja, wir kommen halt als “Kinder” auf die Welt und müssen das “Erwachsensein” erst lernen. Neurophysiologie könnte dabei helfen, dass wir endlich “Stubenrein” werden.)

    Um seinen Verstand zu gebrauchen, mag es Mut, also einen Angst-Antagonisten brauchen, aber Punkt ist, dass ein Hirn dann ohne weitere Zuführung von Substanzen zu besseren Ergebnissen kommen kann.
    Ich halte das für eine (Grund)Funktion des Menschen und unser Leid sehe ich als die Reaktion darauf, dieser (Selbst)Verantwortung nicht nachzukommen.

  9. Auch wenn der Artikel mal nicht fälschlicherweise die Widerlegung der Serotoninhypothese feiert. Man hab ich schon viel “Journalisten” deswegen zusammengefaltet.
    Geht doch so einiges daneben.
    I. Depression ist die DRITThäufigste psychische Erkrankung. Angst ist doppel- Sucht anderthalbmal so häufig.
    Bei Sucht kann man sich streiten, weil man dort dann alle Suchterkrankungen und gerade bei Nikotin, Ethanol und Medikamenten auch (noch) subklinisches einbeziehen müsste.
    Depressionen sind u.a. die (psychische)Erkrankung mit den in Summe häufigsten Fehltagen.
    II. Serotonin bindet nicht nur an die Rezeptoren der nachgeschaltete Zellen sondern zb auch an die Astrozyten oder wird abgebaut (MAO Hemmer) oder bindet an die präsynaptischen Zellen um u.a. sich selber zu hemmen. All das und viel mehr käme als Wirkprinzip grundsätzlich auch in Frage.
    III. Die Hemmung des SERT führt nicht zu mehr Serotonin im Gehirn!
    Für einen mehr oder minderlangen Zeitraum ist mehr Serotonin im synaptischen Spalt und auch sonst wo, wo SERT in einer Zellmembran vorkommt.
    Im Gegenteil es wäre theoretisch sogar denkbar das die vermehrte exposition im Spalt durch einen Rückkopplungsmechanismus zu einer geringeren Produktion führt.
    IV. Wie Viktualia schon oben anführt. Es kann sehr wohl Öl fehlen.
    Fehlt z.B. Natrium kann das als Depression fehl gedeutet werden oder häufiger als Demenz.
    Unser Gehirn ist eine Maschine aber eine hochkomplexe. Und ja komplex ist die richtig Einordnung nicht kompliziert. Kleinste(oder größte) Veränderungen können nichts oder wenig oder viel, vor Ort oder ganz wo anders bewirken. Komplexes System eben.
    V. Die verschiedenen Symptome könnten sehr wohl einen einheitlichen Grund haben.
    Tun wir einfach mal so als läge es an einer eingeschränkten Neuroplastizität. Dann könnte das in unterschiedlichen Verarbeitungssystemen unterschiedlich starke Probleme verursachen. Bei dem einen oder anderen gibt es noch Reserven bis es zum merklichen Ausfall kommt beim anderen eben nicht. Da die Strukturen auf Grund Genetik, Umwelt etc unterschiedlich ausgebildet sind,
    hat das für die Individuen unterschiedliche Beeinträchtigungen zu Folge trotz gleicher Ursache. Zuwenig differenzierbare Dendriten.
    Oder auch nicht. Ist eben unklar.

    • Hallo und vielen Dank für die vielen Anmerkungen.
      Wichtig ist glaube Ich im Kopf zu behalten, dass Serotonin selbstverständlich eine Reihe verschiedener Funktionen hat und auch nicht nur als Neurotransmitter in Erscheinung tritt. Auch ist es komplett richtig, dass es genauso an Gliazellen, Muskulatur oder eben präsynaptisch wirken kann und natürlich gibt es verschiedene Rezeptor Subtypen. Das serotonerge System ist zweifelsohne zu komplex um an dieser Stelle vollständig dargestellt zu werden. Dennoch ist die im Beitrag beschriebene Hypothese diejenige, die Lange in Lehrbuchtexten als Wirkmechanismus der SSRIs galt, deswegen auch die dementsprechende Darstellung. Ob man das Hirn nun als Maschine bezeichnen kann oder nicht sei einmal dahingestellt, wichtig ist eben die Komplexität zu der wir uns ja einig sind. Richtig ist auch, dass diverse einzelne Gründe hinter depressiven Symptomen stehen können, z.B. endokrinologische. Sie sind aber auch häufig multifaktoriell bedingt, deswegen ist es ja so wichtig sich nicht auf einen einzelnen Erklärungsansatz zu versteifen, gerade wenn es darum geht sozioökonomische Faktoren mitzudenken, wie ja in dieser Kommentarspalte schon häufig angemerkt wurde.
      Ich freue mich, dass sie sich so eingehend mit meinem Beitrag beschäftigt haben!
      LG,
      Florian Walter

  10. @Viktualia: “Und da kommt halt meine Überlegung rein, dass es zwischen der Angst vor dem Problem und der Angst vor den Konsequenzen der Lösung ja gar keinen großen Unterschied gibt: Angst ist Angst.”

    Angst, doch wohl eher Druck bis in die Tiefe unseres Bewusstseins / unserer gleichermaßen unverarbeiteten Bewusstseinsschwäche in Angst, Gewalt und egozentriertem “Individualbewusstsein” – Neurosen und Psychosen???

    Wenn ich kein Bewusstsein hätte, dann müsste ich und müsstet ihr wohl Angst auch vor meinen Aggressionspotenzial haben (in den 70ern hätte ich fast den Fehler gemacht der RAF beizutreten) – Die Lösung/Befriedung des Problems / der Probleme muss absolut/allumfassend sein, die “Konsequenz” ist WIRKLICH-WAHRHAFTIGE Vernunft
    und zweifelsfrei-eindeutiges Verantwortungsbewusstsein zur Befreiung/Freiheit im Sinne des ganzheitlich-ebenbildlichen Wesens Mensch!!! 🤗

    Viktualia: “Um seinen Verstand zu gebrauchen, mag es Mut, also einen Angst-Antagonisten brauchen …”

    Oh bitte nicht in diese Richtung/Funktionalität weiter denken.

  11. Ein sehr nett, ein sehr gut geschriebener Text, danke!
    Ich selbst kann als Fachfremder hier nur sozusagen lauschen, es plätschern lassen, als Textfresser sozusagen nur ein wenig auftanken.
    Hier konnte geschmunzelt werden – ‘Natürlich stellt sich nun die Frage, wie es sein kann, dass Analysen im gleichen Journal, die fast zur gleichen Zeit Ergebnisse sammeln, zu gegensätzlichen Einschätzungen gelangen können.’ – und hier fehlte ein T : ‘Das Hirn ist keine Maschine! Es mach keine Probleme, wenn einmal Öl fehlt.’
    Mit freundlichen Grüßen und weiterhin viel Erfolg
    Dr. Webbaer

    • Hallo, vielen Dank für die lieben Worte! Es freut mich sehr, dass Ihnen der Beitrag gefallen hat. Danke auch für die Korrektur!
      LG,
      Florian Walter

      • Kleine Nachfrage noch hierzu :

        Eine Umbrella-Review setzt es sich zum Ziel, alle bereits aufgestellten Meta-Analysen, also statistische Studien, die möglichst viele Experimente zu einem Thema zusammenrechnen, zu sammeln und gemeinsam auszuwerten.
        […}
        Drei der fünf erhobenen Methoden konnten keinen Zusammenhang zwischen einem Mangel an Serotonin und depressiven Symptomen herstellen.
        […]
        Folglich zeichnet diese Studie ein Bild, in dem die neurochemischen Grundlagen der Depression sehr wohl mit einem Serotoninmangel verbunden sind. [Artikeltext]

        Kann Serotonin von der Person zeithah gebildet werden, wenn sie sich wohl fühlt ?

        Mit freundlichen Grüßen
        Dr. Webbaer

        • Serotonin wird eigentlich permanent gebildet. Fluktuationen sind auf jeden Fall im Zusammenhang mit emotionalen Zustandsveränderungen zu beobachten, allerdings ist der Zusammenhang zwischen Serotoninproduktion und Emotionen komplex, da auch andere Transmittersysteme wie das Dopamin eine Rolle spielen. Außerdem können verschiedene Serotonin-Projektionen verschiedene Funktionen haben, was u.a. davon abhängt welche Art von Serotoninrezeptor in einer bestimmten Hirnregion vorherrscht, die mit Serotonin versorgt wird. Es geht hier also um sehr geringe Fluktuationen an sehr bestimmten Stellen.

          Mit freundlichen Grüßen,
          Florian Walter

          • Ganz kurz noch Ihnen vielen Dank, Herr Florian Walter, für die Erläuterung !

  12. @hto – “Funktionalität”
    Tröstet es dich, wenn ich “Mut ist ein Angstantagonist” im Sinne des “Gleichgewichtsystems” denke?

    Jedenfalls finde ich Vernunft auch nur dann vernünftig, wenn damit gesunde Unvernunft (also Spaß, Leichtigkeit) nicht ausgeschlossen wird.

    “Niemand hat das Recht zu gehorchen, nach Kant” Hannah Arendt.
    Da hat sie halt recht, die Gute. Es braucht Mut, sich seines Verstandes zu bedienen. Es kann aber auch einfach Spaß machen.

  13. @Viktualia: “… vernünftig, wenn damit gesunde Unvernunft (also Spaß, Leichtigkeit) nicht ausgeschlossen wird.”

    In einem globalen Gemeinschaftseigentum OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik, auf der Basis eines UNKORRUMPIERBAREN Menschenrechts zu KOSTENLOSER Grundrechte, würde die Leichtigkeit, also auch der Spaß zunehmen, denn der Druck zur Funktionalität wäre weg.

    “Niemand hat das Recht zu gehorchen, nach Kant” Hannah Arendt.
    […] “Es kann aber auch einfach Spaß machen.”

    In dem Gemeinschaftseigentum wie oben beschrieben, wo niemand gehorchen muss/soll, bzw. gehorchen im FREIWILLIG-AKTIVEN Rahmen von Vernunft und Verantwortungsbewusstsein die Leistung für die Gemeinschaft meint (also auch der “kategorisch Imperativ” eindeutig und gerecht/menschenwürdig ist), da könnte Spaß “einfach” asozial sein!?

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