Harvards vergessene Sternwarte – Teil 4

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Himmelslichter

Drei Jahre nach ihrer Gründung stand die Station Boyden, Harvards Sternwarte auf der südlichen Halbkugel, dank des Wirkens ihres leitenden Astronomen William Pickering von dem Ruin. Williams Bruder Edward, Direktor des Harvard College Observatory, beorderte den Gründer der Station, Solon Bailey, zurück nach Peru: Er sollte William ablösen und dafür sorgen, dass die zuhauf investierten Dollars nun endlich wissenschaftliche Ergebnisse produzierten.

In diesem vierten und abschließenden Teil der Geschichte geht es vor allem um die astronomischen Ergebnisse, die die Boyden-Station hinterlassen hat. Am Schluss sehen wir noch, was von der bedeutendsten Sternwarte, die sich je auf peruanischem Boden befand, heute noch übrig ist. Hier gehts zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3

Bailey zurück in Peru

Unterstützt wurde Bailey von seinem Bruder Hinmann. Marshall, der ihn Jahre zuvor bei seiner ersten Expedition nach Südamerika begleitet hatte, blieb in den USA, um dort Medizin zu studieren. Zu Baileys neuem Stab gehörten auch G.A. Waterbury, ein Astronom der Sternwarte in Cambridge sowie H. Mechelhof, einem Deutschen, der in Arequipa lebte. Ebenfalls deutscher Abstammung war der 17-jährige Luis Dunker Lavalle, gebürtig in Arequipa, der Bailey als Assistent bei seinen Arbeiten unterstütze. Mit ihrer Hilfe gelang es Solon Bailey, die Station wieder arbeitsfähig zu machen. In den folgenden Jahren schickten die Astronomen aus Arequipa ohne wesentliche Unterbrechung regelmäßig Sternspektren, fotografische Himmelskarten und Fotografien von Gasnebeln, Sternhaufen und Galaxien nach Cambridge.  
 
Die Sternspektren legten den Grundstein für eine wissenschaftliche Arbeit, deren Bedeutung weit in unsere Zeit hineinreicht: Etwa 30 Jahre zuvor hatten Robert Wilhelm Bunsen und Gustav Robert Kirchhoff entdeckt, dass die dunklen Linien im Spektrum der Sonne, 1814 von Joseph Fraunhofer erstmalig beschrieben, von ihrer Lage identisch sind mit den für bestimmte chemische Elemente charakteristischen Emissionslinien. Damit eröffnete die Sternspektroskopie den Weg zum Verständnis des Aufbaus, der Entstehung und der Entwicklung der Sterne. Doch die vielen in Arequipa und anderen Sternwarten gesammelten Sternspektren waren so unterschiedlich, dass es kaum möglich schien, Ordnung in diesem Chaos zu erkennen. Erst in mühevoller, jahrelanger Arbeit gelang es Edward Pickering, zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen Annie Jump Cannon, Henrietta Swan Leavitt, Antonia Maury und Williamina Fleming, eine heute noch gültige Klassifikation der Sternspektren zu entwickeln.

Sternspektren und ein gewaltiger Sternkatalog

Den Anstoß gab Williamina Fleming, die zunächst als Hausangestellte bei Pickering beschäftigt war. Frustriert über seine männlichen Assistenten betraute er Fleming mit der Sichtung und Sortierung der gewaltigen Datenmengen. Fleming erkannte, dass die Sterne unterschiedlich starke Wasserstofflinien in ihren Spektren aufwiesen und begann, sie nach der Stärke dieser Linien zu ordnen. Die Sterne mit ausgeprägtesten Linien bezeichnete sie als A-Sterne, die folgenden als B-Sterne und so weiter. Dieses System war ein erster wichtiger Schritt zum Verständnis der Sternspektren, aber es war noch nicht zufrieden stellend.

Diese Kuppel schützte das größte Teleskop der Station: Den Bruce-Refraktor, s.u. Quelle: Harvard University Library

Annie Cannon hatte die Idee, nicht mehr die Stärke der Wasserstofflinien, sondern die Photosphärentemperatur der Sterne als ordnenden Faktor einzuführen. Auch stellten sich einige der Flemingschen Spektraltypen als überflüssig heraus und konnten ausgelassen werden. So entstand die noch heute gültige Harvard-Klassifikation der Spektralklassen: OBAFGKM, beginnend mit den heißen O-Sternen bis zu den kühlen M-Sternen. Die heute noch übliche Bezeichnung der O-Sterne als "frühe" und der M-Sterne als "späte" Typen geht auf die damalige, jedoch falsche Annahme zurück, dass sich die Sterne in ihrem Lebenszyklus langsam abkühlen, sich also von den O-Sternen zu den M-Sternen entwickeln. Zur genaueren Einteilung werden die einzelnen Spektralklassen zusätzlich durch arabische Ziffern unterteilt, als etwa A0 bis A9 für die Spektralkasse A.

Die Auftragung der Spektralklassen gemäß der Harvardsequenz gegen die Luminosität der Sterne liefert das berühmte Hertzsprung-Russell-Diagramm. Im Jahr 1943 entwickelten William Wilson Morgan, Phillip C. Keenan and Edith Kellman vom Yerkes-Observatorium in Wisconsin eine andere, als Yerkes- oder MKK-System bekannte Spektralklassifikation. Weil ein Riesenstern viel größer ist als ein Zwergstern gleicher Masse, sind Gasdruck und Gasdichte an seiner Oberfläche erheblich kleiner als an der Oberfläche des Zwerges. Diese Unterschiede zeigen sich auch in den Spektren. Die Yerkes-Klassifikation unterscheidet also zwischen Riesen- und Zwergsternen, unter diesen kommen natürlich alle Klassen des Harvard-Systems vor. Die Bezeichnung erfolgt mit römischen Ziffern:  I-IV für die "Riesensterne", V für die "Zwergsterne" der Hauptreihe des Hertzsprung-Russell-Diagramms und VI und VII für die so genannten "Unterzwerge". Unsere Sonne ist beispielsweise ein gelber Zwergstern der Harvardklasse G: ihre vollständige Bezeichnung lautet: G2V.

Annie Cannon war es auch, die in einer kaum vorstellbaren Arbeit die Spektralklassen von mehr als 225.000 Sternen bis zur 9. Größenklasse zu einem Katalog zusammenstellte. Der unter der Aufsicht von Edward Pickering erstellte und zwischen 1918 bis 1924 veröffentlichte Katalog enthielt dank der Arbeit Baileys und seiner Mitarbeiter in Peru Sterne der Nord- und Südhemisphäre. Zu Ehren von Henry Draper, dessen Witwe das nötige Geld für den Katalog zur Verfügung gestellt hatte, wurde das Werk "Henry-Draper-Katalog" genannt. Noch heute ist er in Gebrauch: Viele Sterne, die weder eine Bayer- noch eine Flamsteed-Bezeichnung tragen, werden mit ihrer Nummer aus dem Henry-Draper-Katalog benannt. Dem Präfix "HD" folgt eine Nummer – 1-225300 für die Sterne des ursprünglichen Kataloges, und 225301-359083 für die Sterne des erweiterten Henry-Draper-Kataloges von 1949.

Ein neues Teleskop mit einem berühmten Namen

Im Februar 1896 bekam die Station in Carmen Alto oberhalb der Stadt Arequipa einen bedeutenden Zuwachs. Ein neues, von Edward Pickering selbst entworfenes Teleskop erreichte nach jahrelanger Entwicklungsarbeit das Observatorium in Peru: der Refraktor Bruce, einem ebenfalls speziell für die Fotografie entwickelten Astrographen mit einem Objektivdurchmesser von 61 Zentimetern und einer Brennweite von etwa 3,40 Meter. Benannt war er nach Catherine Bruce, einer Millionärserbin, die weitweit mehrere astronomische Teleskope finanzierte, neben einem 25-Zentimeter Astrographen für das Yerkes-Observatorium auch den ebenfalls nach ihr benannten Doppelastrographen der Landessternwarte Heidelberg-Königstuhl. Von dem 61-Zentimeter-Refraktor wurden zwei identische Exemplare gebaut – er war und ist der größte fotografische Refraktor, der je im Einsatz war.

Der Bruce-Refraktor in Arequipa. Quelle: Harvard University Library

Die Lichtstärke des Bruce-Refraktors übertraf alle anderen Teleskope der Station. Das Objektiv war optimiert für die Fotografie des Himmels im blauen Wellenlängenbereich. Eine einstündige Belichtung bildete Sterne der 14. Größenklasse ab, nach sechs Stunden wurden schon Sterne der 18. Größenklasse sichtbar. Neben dem intensiven Studium besonders interessanter Bereiche wurden mit dem Refraktor von 1898 bis 1904 insgesamt 950 Areale des südlichen Himmels fotografiert. Die 35 mal 42,5 Zentimeter großen Fotoplatten erfassten dabei ein Himmelsareal von 5,9 mal 7,1 Grad – für die vollständige Erfassung des Südhimmels fehlten noch weitere 58 Bereiche, die wetterbedingt fehlten. Das Bruce-Teleskop wurde im Garten der Station installiert, dazu wurde ein neues Gebäude errichtet. Die ursprüngliche Gabelmontierung des Teleskops erwies sich jedoch als nicht ausreichend stabil und auch mit der Justage der Optik gab es Probleme, so dass Bailey die ersten erfolgreichen Fotografien erst einen Monat nach der Inbetriebnahme gelangen.

Pulsierende Standardkerzen

Mit Hilfe von Fotografien der Magellanschen Wolken, belichtet in Arequipa mit dem Bruce-Refraktor, gelang  Henrietta Lewitt die Entdeckung der Perioden-Leuchtkraft-Beziehung der Cepheiden. Cepheiden sind veränderliche Sterne, deren regelmäßige Helligkeitsschwankungen in einem direkten Zusammenhang mit ihrer Leuchtkraft stehen. Ihr Name rührt von dem Stern Delta des Sternbildes Cepheus her, dem ersten, 1784 von John Goodricke entdeckten Veränderlichen dieses Typs. Cepheiden sind pulsierende Riesensterne, ihre Helligkeit übertrifft der unserer Sonne um das 1000 bis 10000fache. In der Kontraktionsphase wird Helium in der Sternatmosphäre ionisiert. Weil das Licht des Sterns von dem ionisierten Gas teilweise absorbiert wird, bildet die Heliumhülle eine Art lichtundurchlässigen Mantel um den Stern, der das Licht abschirmt: die Sternhelligkeit nimmt deutlich ab. Die Hülle heizt sich dadurch auf und expandiert, bis sich die Heliumkerne wieder mit den Elektronen zu Atomen verbinden: Die Hülle wird lichtdurchlässig und die Helligkeit des Sterns steigt an. Der Prozess wiederholt sich, weil die Hülle nun wieder abkühlt und sich erneut zusammenzieht.

Leavitt erkannte, dass die Periodendauer dieser Pulsation umso länger ist, je größer die Gesamtleuchtkraft des Sterne ist – kurz: helle Cepheiden pulsieren langsamer. Dazu benötigte sie eine Sammlung von Cepheiden, die alle in mehr oder weniger der gleichen Entfernung zur Erde stehen, deren Helligkeit am Himmel also nicht von dieser Entfernung abhängt. Die Magellanschen Wolken, Begleitgalaxien unserer Milchstraße, sind eine solche "Sternsammlung". Sie sind weit genug entfernt, dass alle ihre Sterne in etwa in der gleichen Entfernung zu uns stehen, aber doch so nahe, dass sich auf den Fotografien einzelne Sterne ausmachen und untersuchen ließen.

Die Große Magellansche Wolke, aufgenommen mit dem 24" Bruce Refraktor am 27. Oktober 1949. Zu diesem Zeitpunkt befand sich die Station bereits in Bloemfontein, Südafrika. Quelle: Harvard University

Als sie 1912 ihre Entdeckung der Perioden-Leuchtkraft-Beziehung der Cepheiden vorstellte, eröffnete sie der Astronomie einen entscheidenden Weg zur Entfernungsbestimmung im Universum. Mit Hilfe dieser Beziehung sollte Harlow Shapley später die Größe der Milchstraße bestimmen (die er zunächst jedoch etwa dreifach überschätzte) und Edwin Hubble nutzte sie, um 1923 die "Große Debatte" der Astronomen zu entscheiden – die Frage, ob die Milchstraße die einzige, das Universum füllende Galaxie sei, oder ob viele der "nebligen" Objekte am Himmel eigene, weit entfernte Welteninseln sind. Hubble untersuchte Cepheiden im Andromedanebel und stellte fest, dass sich dieser weit außerhalb des Milchstraßensystems befindet.

Die Arbeit der Astronomen in Peru, vor allem die Suche nach veränderlichen Sternen auf den mit dem Bruce-Teleskop aufgenommen Fotografien war also überaus erfolgreich. Durch die Arbeit in Arequipa und Cambridge vervielfachte sich die Zahl der bekannten Veränderlichen innerhalb weniger Jahre. Es entwickelte sich ein regelrechter Sport, ja eine Konkurrenzsituation zwischen den Astronomen in Peru und Pickerings Mitarbeiterinnen in Cambridge. Bailey und seine Assistenten untersuchten die Fotoplatten schon vor dem Versand in die USA und entdeckten so selbst die meisten der veränderlichen Sterne, was dort nicht auf Wohlgefallen stieß – wollte man schließlich selbst in den Genuss neuer Entdeckung kommen. Pickering gelang es nicht, diesen Konflikt zu beseitigen, doch wahrscheinlich war es für ihn nicht so wichtig, wer die Entdeckungen letztlich machte.

Für Solon Bailey selbst, der eigentlich nur der Datensammler des Observatoriums war, wurde die Untersuchung der von ihm belichteten Fotografien zu einer Leidenschaft. Insbesondere die Kugelsternhaufen hatten es ihm angetan. Mit der Hilfe seiner Frau Ruth und einem Lichtmikroskop zählte er akribisch die Einzelsterne in den Haufen – in Omega Centauri etwa entdeckten sie auf einer mit dem Boyden-Teleskop aufgenommenen Fotografie 6389 Sterne. Zuvor waren in der betreffenden Himmelsregion gerade einmal sieben Sterne katalogisiert. Heute dagegen weiß man, dass Omega Centauri eine Zwerggalaxie ist, rund 18.000 Lichtjahre entfernt, die mehrere Millionen Sterne enthält.

Bailey leistete beinahe 25 Jahre lang Pionierarbeit bei der Untersuchung der Kugelsternhaufen. So verdoppelte er in kurzer Zeit die Zahl der bis dahin bekannten veränderlichen Sterne in Kugelsternhaufen auf mehr als 1000. Harlow Shapley, der Jahrzehnte später und nach Leavitts Entdeckung der Perioden-Leuchtkraft-Beziehung mit Hilfe der Cepheiden die Dimensionen der Galaxie vermaß, stützte sich maßgeblich auf Baileys akkurate Beobachtungen. Mit Hilfe des 1,5-Meter-Mount Wilson-Reflektors wiederholte er die Bestimmung der Perioden von 54 von Bailey in Arequipa untersuchten Cepheiden und stellte fest, dass seine Ergebnisse mit der Genauigkeit einer Zehntelsekunde mit Baileys Werten übereinstimmten.

Von Südamerika nach Südafrika

Die Boyden-Station in Arequipa lieferte auch weitere Beobachtungsdaten, von denen hier nur einige aufgezählt werden können: Die Bestimmung der Rotationsperiode des Asteroiden Eros während seiner Opposition im Jahr 1903, die Entdeckung des neunten Saturnmonds, Phoebe, durch William Pickering, ebenso wie die Entdeckung des Asteroiden Ocllo, benannt nach einer Gottheit der Inka. Neben der astronomischen Arbeit zählt auch der Aufbau und Betrieb eines meteorologischen Netzwerks zu den Verdiensten der Station. Von der Pazifikküste über die Andenkordilleren bis zu den Ausläufern des Amazonasbeckens reichten die Stationen, die höchste lag nur 19 Kilometer vom Zentrum Arequipas entfernt – auf dem Gipfel des Vulkans El Misti, 5822 Meter über dem Meeresspiegel. Sie blieb fast sieben Jahre in Betrieb und war zu ihrer Zeit die höchste Wetterstation der Welt.

Erdbeben, finanzielle Engpässe und auch eine ausgewachsene Revolution, während der Bailey zum Schutz und als Warnung an die Streithähne eine US-amerikanischen Flagge über dem Gebäude hissen ließ und die Teleskopobjektive im Keller vergrub, hinderten die Astronomen nur kurzzeitig an ihrer Arbeit. Dass Arequipa trotz aller Erfolge nicht der endgültige Standort der Boyden-Station bleiben würde, stand aber bereits wenige Jahre nach Gründung des Observatoriums fest. Wolken waren selbst in Arequipa häufiger, als anfänglich gedacht – schlimmer für die Astronomen war jedoch, dass diese sich nicht gleichmäßig über das Jahr verteilten, sondern fast ausschließlich in den Monaten Dezember bis März auftraten. In diesem Zeitraum waren die Wetterbedingungen oftmals so schlecht, dass ganze Himmelsareale für eine systematische Beobachtung überhaupt nicht zugänglich waren. Schon 1908 leitete Bailey daher eine Expedition nach Südafrika, um erneut nach einem besseren Standort zu suchen. Noch bis 1927 aber blieb die Station in Peru, wo sie, unter wechselnder Leitung, weiter Fotografien des südlichen Sternhimmels produzierte. Doch mit dem Ende von Baileys drittem Aufenthalt in Arequipa 1905 waren ihre goldenen Jahre vorbei.

Das ehemalige Wohngebäude der Boyden Station (links) und die zu einer Kapelle umgebauten Grundmauern des Kuppelbaus, der einst das Bruce-Teleskop beherbergte (rechts) im Mai 2008. Aufnahme des Autors.

Zwischen 1919 und 1922 blieb die Station sogar geschlossen – knappe Finanzmittel ermöglichten nur noch wenige Aktivitäten. Solon Bailey, der nach Edward Pickerings Tod 1919 dessen Amt als Direktor des Harvard College Observatory für zwei Jahre übernahm, kehrte Ende 1922 ein weiteres Mal nach Arequipa zurück. Für ein Jahr übernahm er noch einmal die Führung "seines" Observatoriums, bevor Ende 1923 der letzte Leiter, John Paraskevopoulos, sein Amt antrat. Dessen wichtigste Aufgabe war von Beginn an die Suche nach neuen Standorten. Zu diesem Zweck unternahm Paraskevopoulos mehrere Reisen nach Chile, wo er zwar wie Bailey über 30 Jahre zuvor exzellente astronomische Bedingungen vorfand, aber keine realistische Möglichkeit, ein Observatorium zu betreiben, das diese auch nutzen konnte.

Im November 1926, 18 Jahre nach Baileys Expedition nach Südafrika war es schließlich soweit: Die Station Boyden zog um nach Bloemfontein, in den noch jungen südafrikanischen Staat. Fast alle wesentlichen Instrumente wurden dorthin verschifft, mit Ausnahme des Bruce-Refraktors, der zunächst in den USA generalüberholt wurde und eine neue, stabilere Montierung erhielt. An ihrem Standort in Bloemfontein besteht die Boyden Station noch heute: Trotz des Rückzugs Harvards 50 Jahre nach dem Umzug nach Südafrika konnte eine Schließung verhindert werden. Heute wird in Bloemfontein immer noch wissenschaftliche Arbeit geleistet, wenngleich die öffentliche Bildung und die Ausbildung von Studenten inzwischen eine größere Rolle spielt.

Frontansicht des Wohngebäudes im Mai 2008.

What you leave behind…

Fast 37 Jahre lang existierte die Station Boyden in Arequipa, rund 13 davon unter der Leitung von Solon Bailey. Sie war nicht nur die erste bedeutende astronomische Einrichtung auf der Südhemisphäre, sie war auch eine Art Vorläufer der heutigen, modernen Sternwarten. Mit einer Meereshöhe von 2450 Metern stellte sie einen neuen Höhenrekord auf. Die Station in Arequipa war – im Gegensatz zu den Sternwarten vorangegangener Jahrhunderte – von ihrem Konzept her eine reine "Datensammelstelle", die Analysen dieser Daten wurde weit entfernt in Massachusetts durchgeführt.

Die Bronzene Plakette am ehemaligen Bruce-Gebäude. Aufmerksamen Lesern wird der Fehler aufgefallen sein: Der Bruce-Refraktor kam erst 1896 nach Arequipa.  

Es manifestierte sich eine Arbeitsteilung zwischen den beobachtenden Astronomen der Station und den Auswertern und Theoretikern anderswo, auch wenn Bailey und seine Mitarbeiter ihre Fotografien immer wieder selbst in Augenschein nahmen, wie schon erwähnt nicht immer zum Wohlgefallen ihrer Kollegen in Cambridge. Pickerings Konzept der field stations war überaus erfolgreich – die modernen Observatorien in der Atacamawüste Chiles, auf Hawaii und anderswo können heute als Beleg dafür gesehen werden.

Mehr als 80 Jahre nachdem die letzten Astronomen die Station in der peruanischen Stadt Arequipa verlassen haben, erinnert vor Ort fast nichts mehr an die Zeit, in der hier eine der bedeutendsten Sternwarten der Welt stand. Das Gebäude in dem Bailey, Pickering und ihre Nachfolger wohnten und arbeiteten und das nach wie vor einen prächtigen Eindruck macht, ist heute ein Altenstift eines großen Krankenhauses. Der Ausblick auf die Stadt und die Landschaft mit dem Panorama der Anden ist immer noch beeindruckend, auch wenn die Stadt mittlerweile um die Station herum gewachsen ist und der früher einmal beeindruckende Sternenhimmel im Smog aus Staub und Stadtlicht verschwindet. Das Gebäude, in dem sich einst der größte fotografische Refraktor der Welt befand, ist heute eine Kapelle. Nur eine bronzene Plakette am Eingang erinnert noch daran, dass hier einmal ein Observatorium stand. 

Eine Fundgrube für Bilder und Texte zum Thema bietet die Harvard University Library. Die hier nacherzählte Geschichte ist in aller Ausführlichkeit in folgendem Buch dargestellt: 

Isolabella, Alberto Parodi. Resena historica de los observatorios astronomicos de Monte Harvard, Chosica (1889-1890) y Carmen Alto, Arequipa (1890-1927). Arequipa, Peru: Consejo Nacional de Ciencias y Tecnologia (CONCYTEC), Lima, 1989.

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Mit dem Astronomievirus infiziert wurde ich Mitte der achtziger Jahre, als ich als 8-Jähriger die Illustrationen der Planeten auf den ersten Seiten eines Weltatlas stundenlang betrachtete. Spätestens 1986, als ich den Kometen Halley im Teleskop der Sternwarte Aachen sah (nicht mehr als ein diffuses Fleckchen, aber immerhin) war es um mich geschehen. Es folgte der klassische Weg eines Amateurastronomen: immer größere Teleskope, Experimente in der Astrofotografie (zuerst analog, dann digital) und später Reisen in alle Welt zu Sonnenfinsternissen, Meteorschauern oder Kometen. Visuelle Beobachtung, Fotografie, Videoastronomie oder Teleskopselbstbau – das sind Themen die mich beschäftigten und weiter beschäftigen. Aber auch die Vermittlung von astronomischen Inhalten macht mir großen Spaß. Nach meinem Abitur nahm ich ein Physikstudium auf, das ich mit einer Diplomarbeit über ein Weltraumexperiment zur Messung der kosmischen Strahlung abschloss. Trotz aller Theorie und Technik ist es nach wie vor das Erlebnis einer perfekten Nacht unter dem Sternenhimmel, das für mich die Faszination an der Astronomie ausmacht. Die Abgeschiedenheit in der Natur, die Geräusche und Gerüche, die Kälte, die durch Nichts vergleichbare Schönheit des Kosmos, dessen Teil wir sind – eigentlich braucht man für das alles kein Teleskop und keine Kamera. Eines meiner ersten Bücher war „Die Sterne“ von Heinz Haber. Das erste Kapitel hieß „Lichter am Himmel“ – daher angelehnt ist der Name meines Blogs. Hier möchte ich erzählen, was mich astronomisch umtreibt, eigene Projekte und Reisen vorstellen, über Themen schreiben, die ich wichtig finde. Die „Himmelslichter“ sind aber nicht immer extraterrestrischen Ursprungs, auch in unserer Erdatmosphäre entstehen interessante Phänomene. Mein Blog beschäftigt sich auch mit ihnen – eben mit „allem, was am Himmel passiert“. jan [punkt] hattenbach [ät] gmx [Punkt] de Alle eigenen Texte und Bilder, die in diesem Blog veröffentlicht werden, unterliegen der CreativeCommons-Lizenz CC BY-NC-SA 4.0.

2 Kommentare

  1. Rückkehr nach Südamerika

    Ich hab’s ja in den Kommentaren zu Teil 2 schon erwähnt – als Anschlußlektüre an Jans Literaturtip kann ich Adriaan Blaauws “ESO’s Early History” nur empfehlen. Dort erfährt der Leser, wie europäische Astronomen viele Jahre später Expeditionen starten, um den idealen Standort für ihre Südsternwarte zu finden. Lange Zeit war Bloemfontein mit dem etablierten Boyden Observatory ein wichtiger Anlaufpunkt für sie. Dennoch wurden letztlich mehrere angedachte Orte in Südafrika verworfen – zugunsten von La Silla. Man kann nun spekulieren, ob jemand von Boyden sich noch an die Beobachtungsbedingungen in den inzwischen besser zugänglichen chilenischen Anden erinnerte und den entscheidenden Tip gab…

  2. @Jan

    Hallo Jan,

    wirklich eine tolle Artikelserie. Ich habe viel neues erfahren. Schade, dass die Astronomie in Peru danach verschwand.

    Schöne Grüsse,
    Helmut

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