Geist einer Sattel-Knoten-Verzweigung

BLOG: Graue Substanz

Migräne aus der technischen Forschungsperspektive von Gehirnstimulatoren zu mobilen Gesundheitsdiensten.
Graue Substanz

Auf dem 17. Symposium "Dynamical Neuroscience" der amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH wurde Migräne als dynamische Krankheit vorgestellt. Die Rede war von Geistern, Satteln und Knoten.

Der Titel "Geist einer Sattel-Knoten-Verzweigung" hat ganz offensichtlich Ihre Aufmerksamkeit erreicht. Er entstammt dem Vokabular der nichtlinearen Dynamik, besser bekannt als Chaostheorie, ein Teilgebiet der Theoretischen Physik. Eigentlich geht es in diesem Blogpost aber um Migräne, wie in so vielen meiner zukünftigen Beiträge. Von Zeit zu Zeit wird auch von anderen neurologischen Krankheiten die Rede sein. Und zwar immer vom Standpunkt der Physik.

Theoretische Physik und klinische Neurologie, zwei scheinbar unabhängige Arbeitsgebiete, treffen sich im Konzept der dynamischen Krankheiten. Dies ist ein Begriff, der vor über 30 Jahren bewusst als Gegenpol zu dem der genetischen Krankheiten entwickelt wurde. Während dieser von den Einzelteilen zum Gesamtsystem führt (bottom up), will jener vom Ganzen auf die Teile kommen (top down).


Die Sprache der Chaostheorie unterscheidet sich deutlich von der der Genetik. Bei jener kommen z.B. Geister einer Sattel-Knoten-Verzweigung vor.

Beide Wege, also die Beschreibung einer Krankheit auf der Ebene der Genetik und die auf der Ebene der nichtlinearen Dynamik ergänzen sich ständig. Sie sind sogar aufeinander angewiesen, will man die Möglichkeiten der modernen Medizintechnik voll ausschöpfen. Aber natürlich ist nicht jede genetische Krankheit auch eine dynamische Krankheit und umgekehrt.

Was ist eine dynamische Krankheit?

Was ist also eine dynamische Krankheit? Michael C. Mackey und Leon Glass definierten im Jahr 1977 in einer wegweisenden Arbeit darunter Krankheiten, deren zeitlicher Verlauf gewissen Rhythmen folgt. Diese Rhythmen können mit Hilfe der nichtlinearen Dynamik mathematisch beschrieben und im Rahmen der sogenannten Verzeigungstheorie können Übergänge von Rhythmen klassifiziert werden. Kurz gesagt, dynamische Krankheiten sind Krankheiten die mathematisch präzise definiert werden können. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass dieses mathematische Verständnis auch neuartige Therapieansätze eröffnet.


Das 17. Treffen stand unter dem Motto Dynamische Krankheiten

Auf einem von der amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH organisierten Symposium stellte ich vor zwei Wochen in Chicago meine neuen Arbeiten vor, in denen ich zusammen mit klinischen Kollegen experiemtelle Belege erbringe, und diese mit theoretischen Modellen untermaure, dass Migräne eine solche dynamische Krankheit ist. Dazu musste ich das Konzept dahingehend erweitern, dass nicht nur zeitliche Aspekte der Krankeit untersucht werden, sondern auch räumliche. Insbesondere die räumlichen Muster der krankhaften neuronalen Übererregung während eines Migräneanfalls. Diese Muster bilden sich in der Großhirnrinde in charakteristischer Weise.


Der Flaschenhals ist ein transiente Falle

From bifurcation to bench to bedside – Translationale Forschung

Nach diesen neuen Erkenntnissen ist die Ursache der Migräne — vom top down Standpunkt gesehen — eine Flaschenhalssituation. In der Sprache der Verzeigungstheorie stammt diese Flaschenhalssituation von einem Geist einer Sattel-Knoten-Verzweigung. Natürlich ist der Geist eine Metapher und zwar für eine sich gerade auflösende Verzweigung (bifurcation). Glücklicherweise muß man den Hintergrund dieser Metapher nicht im Detail verstehen. Vereinfacht gesagt zwingt dieser Geist eine im Normalfall schnell abklingende neuronale Übererregung in eine charakteristische Wellenform und läßt sie in dieser Form für eine Weile verharren bevor sie wieder abklingt. Diese Verzögerung wird mit dem Durchgang durch einen Flaschenhals symbolisiert. Dauert dieser Durchgang zu lange, können in dessen Folge neuronale Störungen entstehen (Aura genannt) und auch die Migräne-typischen Kopfschmerzen.

Der Brückenschlag von der Theorie über das Labor zur klinischen Anwendung ist die eigentliche Herausforderung. Neuartige Therapieansätze können entweder die Passage durch den Flaschenhals beschleunigen oder den Flaschenhals erweitern. Wobei diese Ansätze einerseits bottom up, also z.B. pharmakologisch, erfolgen können und hierfür die Erkenntnisse der genetischen Studien zur Migräne hilfreich sind. Oder top down andererseits, z.B. mittels EEG-Feedback und einer transkraniellen oder visuellen Stimulation.

Die Übertragung dieser Ergebnisse aus der theoretischen Physik in klinische Anwendungen wird in den nächsten Jahren im Zentrum meiner Forschung liegen.

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Markus Dahlem forscht seit über 20 Jahren über Migräne, hat Gastpositionen an der HU Berlin und am Massachusetts General Hospital. Außerdem ist er Geschäftsführer und Mitgründer des Berliner eHealth-Startup Newsenselab, das die Migräne- und Kopfschmerz-App M-sense entwickelt.

10 Kommentare

  1. @ Dahlem

    Auch herzlich willkommen!

    Ich kapier’s aber nicht. Offenbar liegt ja dem “chaostheoretischen” Ansatz die Hypothese zu Grunde, dass die Migräne ihre Ursache in neuronalen, “elektrischen” Ereignissen habe, und nicht – wie man mich noch lehrte – in vaskulären Dysfunktionen.

    Wie kommt dann aber der Schmerz – speziell der KOPFschmerz zustande? Gibt es da irgendeine spezielle Assoziation mit der sensorischen Repräsentation des Kopfes im Parietallappen? Warum tut nicht ALLES weh?

  2. Herzlich willkommen!

    …im Club der Sci-Brainlogger 😉
    Das klingt superspannend und ich hätte gerne beim Schreiben Ihres Blogbeitrages dazwischengerufen: “Halt, etwas langsamer..wie war das und das nochmal”…..im Sinne von”Lassen Sie bitte auch mich als “Bio-Physik-Dummy” an Ihrem tollen Wissen teilnehmen”.

    Ich bin ehrlich gespannt auf Ihren Blogbeitrag für Anfänger…und freue mich über die versprochene Bereicherung.

  3. Ein Danke schön zurück …

    … für all die netten Willkommensgrüße.

    Ich werde mich bemühen, das kann ich versprechen, verständlich zu schreiben. Ich fürchte aber es wird Stellen geben, an denen ich scheitere. Umso mehr würde ich mich ehrlich freuen, gerade auf diese Stellen hingewiesen zu werden. In meinem Verständnis
    ist Wissenschaft nur soviel Wert, wie sie auch verstanden wird.

    Auf die Frage “Wie kommt … der KOPFschmerz zustande”? Kann ich erstmal mit einem vorhandenen Blogpost antworten:

    http://mdlabblog.blogspot.com/2009/09/migraine-headache.html

    Dieser wartet noch auf eine Übersetzung.

    Ich freue mich dabei zu sein und insbesondere auf Ihre Beiträge.

  4. Viel Erfolg

    Ich find´s gut, wenn man ein bestimmtes Thema/Phänomen von verschiedenen Seiten aus betrachtet (BioChemie, Neurologie, Anatomie und jetzt auch von der mathematischen Physik).

    Hinterher ist man immer schlauer – und wenn die neue Betrachtungsweise erfolgreiche Ergebnisse bringt, dann wird man sich fragen, wieso das nicht schon früher gemacht wurde – und wenn keine neuen Ergebisse kommen, dann heißt es, das war nicht anders zu erwarten.
    Wie gesagt: hinterher ist man immer schlauer.

  5. Föhnkopfschmerz

    Ich lebe in Bayern (Voralpengebiet), einer Region in der es häufig Föhn gibt. Dementsprechend oft wird man hier häufig vom sog. „Föhnkopfschmerz“ heimgesucht.
    Nun habe ich gelesen: „ Neuere Studien haben mögliche Übeltäter entdeckt: „Sferics“, schwache elektromagnetische Impulse, die man als das leise Rauschen oder Knacken im Radio wahrnimmt, die aber auch bei Gewitter entstehen, können sich auf den Menschen auswirken. Sferics verursachen nämlich Veränderungen in der Atmosphäre, die sich auf die Hirnströme auswirken können. Daraus können Beschwerden, wie beispielsweise Kopfschmerzen oder Migräne, entstehen.
    Ähnlich ist dieses Prinzip auch bei alpinem Fallwind, dem Föhn: Fallwinde verursachen Vibrationen, in der Folge ändert sich der Druck am Boden, also auch auf den Menschen.“ (…) „ Ein Ansatz der Universität München geht davon aus, dass niederfrequente Luftdruckschwankungen Beschwerden auslösen können. Wenn sich beispielsweise zwei verschiedene Luftmassen – also im Falle eines Wetterwechsels kalte und warme Luftschichten – aneinander „reiben“, entstehen Wellenbewegungen. Auch beim Überströmen von Hindernissen, wie beispielsweise den Alpen oder anderen Gebirgszügen oder aber Stürmen, entstehen diese kleinsten Wellenbewegungen. Diese wiederum sind am Boden als winzige Druckschwankungen messbar.“

    Entnommen von hier:
    http://www.aerzteverlag.at/aerzteexklusiv//%3Cbr%20/%3E%3Cb%3ENotice%3C/b%3E:%20%20Undefined%20variable:%20%20wins%20in%20%3Cb%3E/var/www/vhosts/aerzteverlag.at/httpdocs/aerzteexklusiv/ausgabe_detail.php%3C/b%3E%20on%20line%20%3Cb%3E146%3C/b%3E%3Cbr%20/index.php?id=181

    Also gibt es offensichtlich verschiedene Arten von Kopfschmerz. Zitat von Herrn Wicht: „Offenbar liegt ja dem “chaostheoretischen” Ansatz die Hypothese zu Grunde, dass die Migräne ihre Ursache in neuronalen, “elektrischen” Ereignissen habe, und nicht – wie man mich noch lehrte – in vaskulären Dysfunktionen.“ Ist es so?

    Interessant auch: http://schippke.tripod.com/ELF/Sferic2.htm

  6. Auslöser und Ursache

    Auslöser und Ursache darf man nicht verwechseln.

    Ich forsche über die Ursachen und über Therapieansätzen, also wie ich einen Anfall unterbinden kann mit modernen Methoden der Medizintechnik. Das ist im gewissen Sinn das Gegenstück zum Auslöser.

    Eine völlig legitime, alternative Strategie ist die Vermeidung von Auslösern, auch wenn bei Föhnkopfschmerz dies für manche unzumutbare Konsequenzen hätte.

    Aus Sicht der Mathematik ist eine Dynamik nichtlinear und möglicherweise chaotisch, wenn gewisse mathematische Definitionen erfüllt sind. Aber nicht weil diese Dynamik elektrische Nervenimpulse, Blutgefäße, oder das Wetter beschreibt.

    Insofern kann man nicht allein aus meinem mathematischen Ansatz folgern, was die biologische Ursache ist. Natürlich beschreiben die mathematischen Gleichungen biomedizinische Sachverhalte, und in meinen Fall z.B. die neurovaskuläre Kopplung. Kurzum: Migräne ist eine Störung, die sich weder nur mit den Gehirnzellen noch nur mit den Blutgefäßen allein erklären lässt.

  7. @tony

    das freut mich und da frage ich mich doch gleich “inwiefern nützlich”? In der Tat frage ich mich sehr oft, wer liest das eigentlich?

    So sehr ich überzeugt bin, als Wissenschaftler auch öffentlich sichtbar die eigene Forschung zu machen, so wenig ist mir bisher klar, wie weit die Resonanz geht.

    Also möchte ich alle Leser aufmuntern, doch ein paar Zeilen von Zeit zu Zeit zu schrieben. Insbesondere auch negative Kritik. (Aber auch Lob tut gut!)

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