Erklärt Hyperaktivität Migräne? (Teil 3)
Allein eine Status quo-Diagnose „Hyperaktivität“ hilft nicht. Wer sein Migränegehirn verstehen will, kommt nicht am Migränegenerator und Erwartungspotenzial vorbei.
Was bedeutet Hyperaktivität bei Migräne – der „Porsche im Kopf“? Diese Metapher, aus dem fachlichen Zusammenhang herausgerissen, verschleiert mehr, als sie erklärt. Denn vom Molekül bis zum Menschen kann Verhalten jeweils hyperaktiv sein.
Vom Molekül zum Mensch
In Frage kommen also Vorgänge auf verschiedenen Ebenen (siehe Abbildung oben). Wichtig dabei ist zu verstehen, dass eine wie auch immer gestaltete Hyperaktivität eines Vorganges nicht notwendigerweise zur Hyperaktivität in einer anderen Ebene führt. Sie muss nicht einmal zu irgendeiner sichtbaren Veränderung in einer anderen Ebene führen.
Gene weder unmittelbar noch direkt für Migräne verantwortlich
Im Großen wie im Kleinen gibt es Hyperaktivität. Interessanterweise werden manchmal die am weitesten auseinander liegenden Bereiche ohne weiteres direkt aufeinander bezogen. Es besteht beispielsweise eine Tendenz zu glauben, dass Gene direkt die Erkrankung Migräne verursachen. Dass Veränderungen an Genorten zwangsläufig auf dieses „Ziel“ zulaufen. Die vermittelnden Ebenen, in denen Stoppunkte existieren, werden ausgeblendet. Durch die Verwendung ähnlicher Begriffe, wie „Übererregbarkeit“ für genetisch veränderte Gehirnzellen und „Hyperaktivität“ für menschliche Verhaltensweisen, scheinen die Gene nicht nur die Krankheit zu verursachen, sondern unmittelbar das Krankheitsbild der Migräne zu prägen.
Dem ist nicht so. Es gibt natürlich keine unmittelbare Wirkung der Gene auf den Menschen und abgesehen von den sehr seltenen monogenetischen Formen der Migräne existiert auch kein direkter, zwangsläufiger Einfluss.
Es sind viele Gene identifiziert worden. Sie erhöhen jeweils das Risiko einer Migräneerkrankung, auch wenn man nicht weiß, wie. Die physiologischen Mechanismen sind (noch) unbekannt. Die Genorte geben uns nicht mehr als grobe Hinweise bspw. auf die Kontaktstelle zwischen den Gehirnzellen oder auf die Blutversorgung des Gehirns. Das allein reicht noch nicht für ein Arbeitsmodell,2 um auf der nächst höheren Ebene die Fehlfunktionen ableiten zu können.
Der Migränegenerator
Auf der zellulären Ebene kann man eine Hyperaktivität beim Menschen gar nicht erfassen. Keine Messtechnik reicht dorthin ohne den Schädel zu öffnen. Erst viele Gehirnzellen, die als neuronale Populationen zusammengefasst ein ganzes Kerngebiet im Gehirn bilden, können mit nicht-invasiver Bildgebung vermessen werden. Ihre Aktivität ist quantifizierbar. Einzelnen Populationen zuordnen kann man diese Aktivität jedoch nicht. Da in jedem Kerngebiet sowohl hemmende als auch erregende Populationen existieren, bleibt unklar, ob eine Überaktivität andere Teile des Nervensystems hemmt oder erregt. Wie dem auch sei, ein Kerngebiet im Hirnstamm wurde als „Migränegenerator“ bezeichnet, weil dort eine Überaktivität während der Attacke messbar war. Der hyperaktive Hirnstamm wird in deutschsprachigen Artikeln manchmal auch als Migränemotor bezeichnet oder eben auch auch als „Porsche im Kopf“.
Der Hirnstamm leitet sensorische Signale zum Zwischenhirn (Diencephalon). Man vermutet, dass auch außerhalb der Migräneattacken die sensorische Reizweiterleitung überlastet ist. Regelkreise über den Hirnstamm steuern nicht allein sensorische Verarbeitung sondern auch motorische. Einen Teil davon völlig automatisch über das vegetative Nervensystem. Der wiederum für die Migräne relevante Teil des vegetative Nervensystem ist die Steuerung des Blutgefäßsystems in den Hirnhäuten. Hier entsteht der Kopfschmerz.
Das Zusammenspiel des Migränegenerators mit dem Diencephalon und dem autonomen Nervensystem dient als ein Arbeitsmodell der Migräne, um auf der nächst höheren Ebene die Gehirnveränderungen zu verstehen. Ein Arbeitsmodell unterscheidet konkret die neuronalen Populationen mit ihren erregenden und hemmenden Botenstoffen (Neurotransmitter) und wählt alle beteiligten Gehirnstrukturen und Strukturen des Blutkreislaufsystems aus. Damit kommt man zu einem physiologischen Modell des Migränegehirns. Wir wissen schon heute einiges über diese nächste Ebene, weil es wieder Messungen gibt, die dort Einblicke geben, in die sensorische Hypersensibilität.
Das Erwartungspotenzial
Die sensorische Hypersensibilität, d.h. Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen, Licht, Berührung, Geschmack- und Geruchswahrnehmungen wurde nicht nur mit bildgebenden Verfahren, sondern vor allem mit einer Reihe neuropsychologischer und physiologischer Tests belegt. Sie besteht objektiv messbar in der anfallsfreien Zeit. Gemessen wird eine reduzierte Habituation, d.h. Migräniker gewöhnen sich schlechter an wiederkehrende sensorische Reize. Um diese zu messen, wird das sog. Erwartungspotenzial (contingent negative variation (CNV)) untersucht.
Einige Tage vor dem Migräneanfall verstärkt sich die reduzierte Habituation nochmal und auch andere Komponenten weisen auf erhöhte Aufmerksamkeit und Reaktionsbereichtschaft, was schließlich bei vielen Betroffenen in wahrnehmbaren Vorboten der Attacke mündet.
Der Migränegenerator, das Netzwerk, in das er eingebettet ist, und die resultierenden messbaren Signale, wie das Erwartungspotenzial, sind die konkreten neurophysiologischen Zusammenhänge, die man gerne einmal mit vereinfachten Metaphern auf den Punkt bringt: der Porsche im Kopf.
Doch für sich genommen kann eine Status quo-Diagnose „Hyperaktivität“ nichts erklären. Schlimmer noch ist der falsche Zusammenhang. Eine Hyperaktivität, die zwangläufig von den Genen herrührt, erzeugt die falsche Vorstellung einer fatalen Hoffnungslosigkeit niemals durch Veränderungen auch wieder aus der Krankheit herauszukommen. Dabei ist die Krankheit ja (meist) auch erst später „ausgebrochen“. Kann also das Gehirn die Migräne wieder „verlernen”? Der Begriff „lernen“ kann an dieser Stelle als Metapher verstanden werden. Er besitzt jedoch auch eine neurowissenschaftliche Bedeutung mit der notwendigen Präzision.
Der nächste Schritt zu einer Erklärung der Migräne ist weg nun von den generellen Aspekten hin zu Ansätzen einer personalisierten Medizin. Sie findet man heute in der Genetik sowie auf der biopsychosozialen Ebene bei Migräne.
Fußnoten
1 Natürlich hätte die Unterteilung (von A bis F im Bild oben) mit einigen Zwischenschritten mehr oder außen erweitert vorgenommen werden können. Die Auswahl ist durch meine Forschung bestimmt, weniger durch elementare Überlegungen. Das Bild (bis auf F) stammt aus meinem Research Statement. Auch hier im Blog habe meine Forschung anhand dieser Abbildung schon einmal gegliedert.
2 Der Begriff „Arbeitsmodell“ kann man allgemein verstehen, er ist hier aber in der engen Fassung eines Abschnitts der mathematischen Modellierung und Simulation gemeint.
Zitat:“hin zu Ansätzen einer personalisierten Medizin.” Wenn erst Ansätze gesucht werden, ist eine personalisierte Therapie der Migräne wohl noch in unbestimmter Ferne. Zudem beginnt das Zitat ja sogar mit “Der nächste Schritt zu einer Erklärung der Migräne ist weg nun von den generellen Aspekten hin zu Ansätzen einer personalisierten Medizin.”.
Mit andern Worten: Der pathophysiologische Mechanismus hinter dem Migränegeschehen ist zwar prinzipiell verstanden (Spreading Depolarization), aber der Grund warum gerade eine bestimmte Person zu einem Migränepatienten geworden ist, den versteht man noch nicht.
Die Spreading Depression ist ein Phänomen im Migränezyklus. In meinen Augen ein durchaus zentrales, da würden aber einige widersprechen. Daten werden das irgendwann zeigen.
Aber warum setzt der Zyklus ein? Ich denke, hier kommen wir nur mit personalisierten (nicht allein stratifizierten) Medizin weiter. Ich schreibe noch mal mehr dazu.
“Porsche im Kopf”, nun ja, das klingt eher nach Inflation der Buzzphrases. Aber bitte.
Tatsache ist, daß Porsche bei der Übernahmeschlacht (eigtl.: Bandenkrieg) gegen Volkswagen den buchstäblich Kürzeren gezogen hat. Was daraus für eine erfolgversprechende langfristige Migränetherapie folgt, dürfte, glaube ich, jedem klar sein.
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