ITER: die erste Hälfte des Weges ist geschafft
BLOG: Formbar
Kurz vor dem Jahreswechsel verkündete die ITER-Organisation, dass ITER zu 50% fertig sei und man sich seit 2 Jahren voll im Zeitplan befände. Die erste Hälfte des Weges ist also geschafft und damit darf man schon mal an das Ziel denken. Was das genau ist versuche ich hier im Artikel zu klären. Außerdem gibt es Bilder von Baggern.
Was ITER ist, lässt sich kurz und knapp erklären: das erste Fusionsexperiment bei dem mehr Energie durch Fusionsprozesse freigesetzt wird als zum Aufheizen des Plasmas nötig ist. Kernfusion, also die Verschmelzung von Atomkernen, erfordert die Überwindung der elektrostatischen Abstoßung (Atomkerne sind positiv geladen). Dazu bedarf es hoher Geschwindigkeiten und damit hoher Temperaturen. Bei den erforderlichen Temperaturen sind praktisch alle Teilchen des Brennstoffes ionisiert und befinden sich im Plasmazustand. Ein Plasma besteht somit aus elektrisch geladenen Teilchen. Deren Bewegung lässt sich durch Magnetfelder beeinflussen. Das Konzept des magnetischen Einschlusses, was bei ITER verfolgt wird, beruht nun darauf, dass ein toroidaler Magnetfeldkäfig das Plasma lange genug zusammenhält. “Lange genug” ist genau das entscheidene Stichwort, denn die benötigten Temperaturen, ca. 150 Mio Grad Celsius, und Teilchendichten kann man schon lange im Labor erzeugen. An der sogenannten Energieeinschlusszeit hapert es noch, da soll ITER helfen. Ähnlich wie bei Säugetieren, ist ein bestimmtes Verhältnis von Volumen zu Oberfläche erforderlich (eine Mindestgröße) um die Verlustprozesse klein zu halten. ITER hat diese Größe – das Plasmavolumen ist mit 840 m3 fast eine Größenordnung über dem bisherigen Rekordhalter JET (100 m3).
Als Geburtsjahr des ITER-Projektes wird in der Regel 1985 angegeben: Auf einem Gipfeltreffen in Genf hoben Reagan und Gorbachev das Projekt damals aus der Taufe. 21 Jahre später, 2006, wurde es dann ernst, das sogenannte “ITER Agreement” wurde unterzeichnet. 7 Partner, EU, China, Indien, Japan, Korea, Russland und die USA hatten sich auf Südfrankreich als Standort geeinigt, 45% der Finanzierung übernimmt die EU, der Rest wird unter den verbliebenen Partnern gleichmäßig aufgeteilt, was ca. 9% für jeden ergibt.
Das besondere dabei ist, dass nicht jeder Partner einfach Geld in einen Topf schmeißt, sondern 80 % der zu zahlenden Beiträge durch Sachleistungen erbracht werden. Im Falle von ITER heißt dass, ein Land entwickelt, produziert und liefert z.B. das Vakuumgefäß, ein anderes Land das Cryosystem (für die Magnetfeldspulen werden Supraleiter verwendet) usw. Die Idee dahinter ist, dass die Kosten für ITER im jeweils eigenen Land bleiben und die heimische Industrie fördern. ITER macht Neuentwicklungen für fast alle Komponenten notwendig und die so erforderliche Innovation soll dann auch langfristig die Industrie im eigenen Land stärken.
Zusätzlich einigte man sich darauf, dass jeder ITER-Partner Zugriff auf die ITER-Dokumente aller anderen Partner hat und damit auch von den Entwicklungen der Partner profitieren kann. Zusammengenommen machen die ITER-Länder, 35 an der Zahl, etwa 50 % der Weltbevölkerung aus (oder 85% des weltweiten Bruttoinlandproduktes). Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Art der Arbeitsteilung nicht nur Vorteile hat: in den in Indien gefertigten Cryostaten (eher unwichtiges Faktum: mit einem Volumen von 8500 m3 zweitgrößtes Vakuumgefäß auf der Erde) muss exakt das eigentliche, zum Teil in Europa gefertigte Vakuumgefäß, in welchem sich das Plasma befinden wird, einpassen. Das erfordert ständige Absprachen, gegenseitige Kontrollen und permanenten Austausch von Informationen. Aber dahinter steckt nun mal die Idee von ITER, die Aufteilung der Entwicklung auf alle Partner.
Trotzdem (oder vielleicht auch gerade deswegen?) hatte eine unabhängige Bewertung im Jahr 2013 die Organisationsstruktur bemängelt. Daraufhin wurde 2015 Bernhard Bigot als neuer Direktor berufen. Dieser prüfte zunächst die gesamte Organisation, straffte sie und stellte einen neuen Zeitplan auf, der seitdem auch eingehalten wurde. Jetzt verkündete er also erfolgreich das Erreichen des symbolischen Meilensteins, die Fertigstellung von 50 % der Arbeiten auf dem Weg zum ersten Plasma (genauer gesagt sind 95 % der Designarbeiten, 53 % der Hardwareanfertigungen und 17 % der Anlieferungsprozesse abgeschlossen). Das erste Plasma soll im Dezember 2025 gezündet werden. Nach dieser ersten Betriebsphase wird es eine Pause geben, da noch weitere Installationen notwendig sind, um ITERs eigentliches Ziel zu erreichen: den Betrieb mit Deuterium und Tritium (die zu einem Heliumkern und einem Neutron fusionieren).
Das ist momentan für 2035 angepeilt und wird einige neue Erkenntnisse liefern, da es bisher noch kein Plasmaexperiment gab, in welchem die Fusionsprodukte selber wesentlich zur Plasmaheizung beigetragen haben. Den Betrieb mit Deuterium und Tritium hat man bisher überhaupt erst an zwei Tokamaks untersucht, TFTR in USA und JET in UK. Bei ersterem erzielte man 1994 eine maximale Fusionsleistung von 10,7 MW, JET erreichte 3 Jahre später 16 MW. ITER soll in der letzten Ausbaustufe 500 MW Fusionsleistung erzeugen.
Allerdings ist nicht nur der Wert der Fusionsleistung selber von Bedeutung: das Verhältnis der Fusionsleistung zur externen Heizleistung, der Q-Wert, spielt eine entscheidende Rolle. Dieser Verstärkungsfaktor soll bei ITER den Wert 10 erreichen und erstmals überhaupt größer als 1 sein, der bisherige Rekord liegt mit Q=0,7 bei JET. Um gleich mit einem gelegentlichen Missverständnis aufzuräumen: ITER wird keinen Strom ins Netz speisen. Die Fusionsneutronen werden die Wand heiß machen und diese Wärme wird weggekühlt.
Wie geht es nach ITER weiter? Mit Strom aus Fusionskraftwerken ist frühestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zu rechnen. Zu spät im unmittelbaren Kampf gegen den Klimawandel dessen Folgen wir bereits jetzt spüren. Allerdings ist die Fusionsenergie viel zu verlockend als dass man sie nicht zumindest so weit erforschen sollte, dass man ein fertiges Kraftwerkkonzept in der Schublade hat. Deshalb hat sich auch China entschieden, parallel zu ITER einen eigenen Tokamak zu bauen, den China Fusion Engineering Test Reactor (CFETR).
Auch in der Privatwirtschaft spielen Unternehmen, die an alternativen Konzepten eines Fusionsreaktor forschen, eine immer größere Rolle. Man muss sich dabei aber im klaren sein, dass hier meist Konzepte verfolgt werden, deren Umsetzung um einiges unklarer ist, als das bei ITER der Fall ist. Tatsächlich basiert das Design von ITER auf relativ konservativen, soll heißen vorsichtigen, Extrapolationen bisheriger Experimente. Denn Tokamaks betreibt man bereits seit den 1960er Jahren und hat damit durchaus einige Erfahrungspunkte aufzuweisen.
In jedem Fall bleibt es spannend!
Ich staune über das Durchhaltevermögen. Die Projektdauer und nur schon die Länge der Bauphase übertrifft die des Large Hadron Colliders um Einiges (Zitat):
Der Bau des LHC wurde 1995 mit einem Budget von SFr 2,6 Mrd. bewilligt, mit weiteren SFr 210 Mio. für die Experimente. … der Fertigstellungstermin musste von 2005 auf April 2007 verschoben werden
12 Jahre dauerte also der Bau des LHC, und dieser gilt als (Zitat) eines der teuersten wissenschaftlichen Instrumente[62], die jemals gebaut wurden
Und der ITER ist ja ebenfalls ein wissenschaftliches Instrument, er bringt neue Erkenntnisse über die Machbarkeit der nuklearen Fusion, die auch durchaus damit enden können, dass man erkennt, dass sie wirtschaftlich nicht machbar ist.
Der Bau des ITER mit Start im Jahr 2006 und geplanter Fertigstellung 2025 dauert dagegen mindestens 19 Jahre.
Doch die Tatsache, dass 35 Länder beteiligt sind und damit 50% der Weltbevölkerung bedeutet, dass die Menschheit – mindestens ein grosser Teil davon – auch sehr langfristige Ziele verfolgen kann. Das ist durchaus positiv.
Lieber Martin,
ich pflichte Ihnen bei, es ist beruhigend zu sehen, dass es gelingt solch langfristige Ziele trotz aller eventuell auftretenden politischen Turbulenzen zu verfolgen. Der eigentliche Baubeginn wird übrigens oft mit 2010 angegeben, 2007-2009 hat man das Gelände eingeebnet (was allerdings auch schon Baumaßnahmen sind).