Die Evolutions-Macher: Bio-Ingenieure und Enzym-Schöpfer
Tagebücher der Wissenschaft
Vom Probieren zum Konstruieren
Vor einiger Zeit habe ich an der TU München das „ Industrial Biotech Forum“, eine inhaltlich ziemlich anspruchsvolle Fachveranstaltung besucht. Das Feld spannte sich von biotechnologisch relevanter Grundlagenforschung bis zu anwendungsnahen wissenschaftlichen Arbeiten. Für einen Nicht-Biochemiker, wie ich es bin, war das manchmal schon schwere Kost – und ich gestehe freimütig, dass mir einige der Vorträge weitgehend verschlossen geblieben sind. Gut hat da getan, dass mir ein anwesender Biochemiker – natürlich nur hinter vorgehaltener Hand! – zugeflüstert hat, ich sei da in guter Gesellschaft, denn auch er habe nicht alle Vorträge wirklich verstanden. Fachchinesisch kann also schon ziemlich nah am eigenen Forschungsgebiet beginnen! Nun, zwei der Vorträge waren für mich nicht nur nachvollziehbar, sondern boten sich inhaltlich auch dank höheren Nährwerts in Bezug auf grundsätzlichere Überlegungen für eine Umsetzung in HYPERRAUM.TV bestens an.
Der Systembiologe Uwe Sauer leitet an der ETH Zürich das Institut für molekulare Systembiologie und hat sich mit seinem Team die Erforschung der Vorgänge im zellulären Stoffwechsel zum Ziel gesetzt. Für das Verständnis dieser komplexen Umwandlungsprozesse in einem Organismus sind die Metaboliten der zentrale Schlüssel – eine Art „Netzwerk-Marker“. Doch sie verhalten sich wie Chimären, ändern ihre Zustände ständig. So konnten sie sich der Beobachtbarkeit und damit auch der Interpretierbarkeit ihrer Funktionen durch die Wissenschaft lange weitgehend entziehen. Verantwortlich für diese Prozesse sind die Proteine, die in einer Zelle laufend zahllose Metaboliten umwandeln. Diesen Stofffluss – beispielsweise in den rund viertausend Proteinen eines Kolibakteriums – en Detail zu verfolgen, liegt an der Grenze des heute wissenschaftlich Möglichen. Dafür hat Sauer ein neues Experimentalset entwickelt und zudem Computermethoden für die wissenschaftliche Auswertung der gewaltigen Daten erarbeitet, die bei der Dokumentation der biochemischen Umwandlungs-Prozesse entstehen. Der Gruppe von Sauer gelang mit den neuen Methoden 2015 ein wichtiger Nachweis, nämlich: dass – und vor allem, wie genau – Zellen Hungerphasen überstehen und sich gleichzeitig aufs sofortige Wachstum vorbereiten. Einfach herstellbare Metaboliten werden sofort in Energie umgewandelt, komplizierte Aminosäuren dienen als Energiespeicher.
Solche Forschung an den Grenzen unseres Wissens verlangt inzwischen nach einem neuen Typ des Biologen. Er muss die Trennlinie zwischen Experiment und Theorie überwinden. Denn nur wer in beiden Welten verankert ist, kann an der Front moderner Erkenntnisse erfolgreich agieren. Anders gesagt: Daten durch die Beobachtung der sichtbaren Natur mühsam zu sammeln und dann zu versuchen, sie anschließend theoretisch zu durchdringen – das war Biologie von vorgestern. Seit vielen Jahrzehnten erschließen Mikro- und Molekularbiologie sowie die Biochemie immer kleinere Dimensionen der Natur – auch dank einer steigenden Zahl von HighTech-Verfahren. Seit kurzem haben nun Technologien Einzug in die biologische Forschung genommen, die es erlauben, die Gesamtheit der in einer Zelle ablaufenden biochemischen Prozesse zu erfassen. Dabei fallen gewaltige Datenmengen an. Diese Datenberge wissenschaftlich auch beherrschbar zu machen, ist die große Herausforderung, der sich die Biologen jetzt stellen müssen. Dazu zähle auch, meint Sauer, das Design von Experimenten vorab systematischer zu konzipieren als das Biologen heute noch üblicherweise tun. Denn die Generierung von riesigen Datenmengen allein sichere längst noch keinen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn. Manchmal sei es wesentlich hilfreicher, mit einem Experimentalset zu arbeiten, das nur wenige Daten erfasst.
Last, but not least, geht es bei der Zellforschung auch um die Frage der Modellbildung in der Biologie. Das Modell des Lebens rückt immer mehr in den öffentlichen Fokus der Wissenschaft. Sauer bleibt da aber konservativ. Er ist überzeugt, dass die Wissenschaft davon noch sehr weit entfernt ist. Man solle sich lieber, so sein Plädoyer, auf präzise Hypothesen fokussieren und diese mit gut durchdachten Experimenten systematisch prüfen, das Thema also pragmatisch angehen, statt wissenschaftliche Fragestellungen mit zu hohen Erwartungen an die Modellbildung zu überfrachten.
Einen Schritt näher an der Biotechnologie arbeiten die Enzym-Forscher. Natürliche Enzyme finden sich in Brot oder Käse, die Industrie nutzt diese chemischen Katalysatoren aber auch für Waschmittel oder Kosmetika. Doch deren vielfältige biotechnologische Möglichkeiten sind längst noch nicht erschlossen – vor allem deshalb, weil es schier unendlich viele Varianten gibt, deren Durchmusterung auf Nutzbarkeit nicht nur neue Technologien, sondern auch neue Strategien erfordert. Enzyme sind komplexe Makrostrukturen, die aus mindestens zwanzig verschiedenen chemischen Bausteinen bestehen. Daraus ergibt sich eine Variantenvielfalt für mögliche Enzyme, die um den Faktor hundert größer als die Zahl sämtlicher Sterne im Universum ist. Das macht die Dimension der Aufgabe transparent, vor der Biochemiker heute stehen.
Der Biotech-Bereich, der sich mit der Erschließung dieses grundlegenden Wissens über Enzyme und dessen industriellen Nutzungsmöglichkeiten befasst, wird heute als „Directed Evolution“ bezeichnet. Ulrich Schwaneberg, der den Lehrstuhl für Biotechnologie an der TU Aachen inne hat, ist einer dieser Enzym-Schöpfer; seit fünfzehn Jahren ist er mit seiner Forschungsgruppe auf der Suche nach neuen Methoden, das Potenzial der Enzyme zu ergründen. Dafür hat er vor einigen Jahren ein technologisches Patent entwickelt, mit dem es möglich ist, mehr als drei Millionen verschiedene Varianten von Enzymen zu durchmustern. Doch die Durchmusterung der Mikrowelt allein kann nicht helfen, diese gewaltige Zahl von Möglichkeiten zu durchsuchen. Gebraucht werden Strategien für die zielgerichtete Suche. Mit seiner „KnowVolution“ hat er eine Wissensbank konzipiert, die dazu dient, Strukturveränderungen in den Enzymen mit bestimmten chemischen Wirkungen in systematische Verbindung zu bringen.
Mit computerunterstützten Methoden spürt er Schlüsselpositionen in den Enzymen auf, die für bestimmte verbesserte Eigenschaften oder besondere chemische Aktivitäten typisch sind. Mit den Algorithmen der „KnowVolution“ lässt sich, so sagt Schwaneberg, schon heute die Zahl der Varianten, die tatsächlich untersucht werden muss, drastisch senken. Und mit jeder Durchmusterung wird das Strukturwissen größer. Damit beginne jetzt bald die Zeit, in der die Wissenschaft Enzyme für bestimmte Anwendungen maßschneidern könne. Für gezielte Biotech-Anwendungen unterschiedlichster Nutzungsbereiche wird das einen gewaltigen Push geben. Solche innovativen Anwendungen sind, da ist Schwaneberg überzeugt, nur möglich, wenn disziplinäre Kompetenz mit interdisziplinärem Denken zusammengebracht wird. Am Leibniz-Institut für interaktive Materialien spannt er den Bogen mit Kollegen des Fachbereichs Biologie von der Pflanzenforschung über die Proteinchemie sogar bis zu den Materialwissenschaften. Es geht dabei auch um schaltbare Enzyme – ein Anwendungsbereich, der für die Biotechnologen Neuland bringt. Diese biochemischen Lichtschalter könnten dank dem „protein engineering“ künftig auch in der Medizin Eingang finden und beispielsweise bei der Dosierung von Medikamenten im Körperinneren zum Einsatz kommen. Sie bleiben in ihren Containern eingeschlossen und können von dort über einen längeren Zeitraum gezielt freigesetzt werden.