Homerisches Leben

BLOG: Edle Einfalt, stille Größe

Hellas inside
Edle Einfalt, stille Größe

Wie alle Griechen fahre ich im Sommer aufs Land. Aufs Land am Meer, d.h. an eine der Küsten oder auf eine der zahllosen Inseln, was wiederum heißt, dass man ein Schiff besteigen muss, auch wenn der Seereisende auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet, von denen Homer in seiner Odyssee ein Lied singen kann. Über das dunkle Meer zu unverständlichen Völkern (Odyssee) fährt auch der heutige Grieche nur notgedrungen, sprich zur Arbeit; Urlaub macht er in der Heimat, weil die ihm gleichermaßen Abenteuer verheißt und doch vertraut ist.

Zumindest die Sprache. Man spricht bis auf Dialektverschleifungen das gleiche Griechisch, versteht sich aber nicht unbedingt. Unverständlich bleiben die Städter den Fischerdorfbewohnern und umgekehrt. Athen ist jetzt an jedem Strand, und damit die Rushhours, die man nun Happy Hours nennt. Voll sind die Bars, die Touristen und das Meer, auf dem sich Athens Motorradfahrer auf Water Bikes weiter Rennen liefern.

Die Hauptstadt selbst ist alle August eine Oase. Eine Oase der Ruhe und der guten Luft. Obwohl die vor Hitze flirrt, ist die Sicht in Athen plötzlich klar, weil die Pkws jetzt in den Urlaubsorten die Luft verpesten. Japanische Touristen haben die Stadt für sich und gebärden sich bald, als sei sie Neu Tokio. Selbst wenn ein Athener es wollte, könnte er nicht Urlaub auf seinem Balkon machen, außer er plant eine Null-Diät. Alle Lebensmittelgeschäfte sind geschlossen. Der Bäcker übersommert am Meer, der Metzger ebenfalls, die Gemüsefrau lässt es sich auf Samos gutgehen, den Tavernenwirt zieht es in seine Zweitkneipe auf Mykonos. Neben den Pelzgeschäften hat nur die Sushi-Bar im Zentrum der Stadt geöffnet, hier wie da bilden die Japaner lange Schlangen, hier wie da wabern unbenennbare Gerüche, unverständliche Entzückenslaute. Weil mein Tankwart keinen rohen Fisch mag, hat auch er die Stadt verlassen. Die Cityhunde weichen auf der Suche nach besseren Happen in die nördlichen Vororte aus, wo es noch Gyros geben soll, wenn auch süß-saueres.

Die Nachkommen der Neuerer des Altertums mögen keine Experimente, nicht in Sachen Urlaub und erst recht nicht beim Essen. Die neuen Griechen essen wie die alten und so hat sich seit 3500 Jahren Hellas’ Speiseplan nicht geändert. Man vergnügt sich und schmaust wie bei Urmuttern, wie die Helden Homers: Denn ich kenne gewiss kein angenehmeres Leben, als wenn ein ganzes Volk ein Fest der Freude begehet, und in den Häusern umher alle Tische bedeckt sind mit Gebackenem und Fleisch, und der Schenke den Wein aus dem Kelche fleißig schöpft und ringsum die vollen Becher verteilet. Siehe, das nennet mein Herz die höchste Wonne des Lebens! (Odyssee) Auch heutzutage beeilen sich die Griechen nur dann, wenn es gilt das Fleisch zu braten und andres auf Spieße zu stecken (Odyssee). Und immer noch kommen gehäufte Körbe mit Brot auf den Tisch und Berge gebratenen Fleisches. (Odyssee)

Leider ist die schönste der alten Sitten baden gegangen. Und nicht mehr der Gast. War man einst bei Nestor und Menelaos zum Essen geladen, hieß es zum Entree ab zum Bad in schöngeglättete Wannen. (Odyssee) Ausdruck der Gastfreundschaft – oder doch des Eigeninteresses? – war, dass die schönste Tochter des Hauses den Gast abschrubben durfte. Aber den blühenden Jüngling badet indessen Polykaste die Schöne, die jüngste Tochter des Nestor. (Odyssee) Die Gäste durften erst an der Tafel Platz nehmen, als die Mägde sie gebadet und drauf mit Öl gesalbet. (Odyssee) Es ist nicht zu verstehen, dass die Griechen die Waschung vor dem Mahle aufgegeben haben. Damals roch allein das tsatsiki nach Knoblauch und nicht der Gast.

Sommerurlaub am Meer. Es plätschern die Wellen, es plätschert die Zeit dahin und in den Strandtavernen plätschern die Gespräche. Weil auf die Tische nichts Neues kommt, mann nicht mehr gebadet wird (auch nicht badet, denn wer will schon ungeheure Gewässer schwimmend durchkämpfen, wie in der Odyssee?) sucht er die Abwechslung, den Thrill anderswo. Da, wo ihn schon seine Vorfahren fanden. Jenseits der Ägäis, in Übersee. Gemütlich am ouzo nippend, wird ein neuer Zug gegen Troja, sprich die Türkei geplant. So unzählbar standen die hauptumlockten Achaier, gegen die Troer im Felde, sie auszutilgend verlangend. (Ilias) Damals wie heute muss ein Kriegsgrund her, und weil Frauenraub kein Casus belli mehr ist, werden nun täglich die Nachrichten nach einem abgesucht. Verbal wird schon ordentlich mobil gemacht.

Hat etwa wieder ein Türke ein griechisches Eiland erobert und dort seine Fahne gehisst? (Bei dem Vorfall handelte sich um einen türkischen Jungen, der sich verschwommen hatte, an Land ging, ohne zu ahnen, dass es griechisches Land war, und dort sein Handtuch schwenkte, um auf sich aufmerksam zu machen.) Sind türkische Kampfjäger in den griechischen Luftraum eingedrungen, türkische Zerstörer in griechische Hoheitsgewässer? Rings in die Schlacht rufen die hauptumlockten Achaier, auch wenn der ein oder andere heute eher schütteres Haar hat, tönend riefen sie aus, und flugs war die Menge versammelt. (Ilias) Kriegsvorbereitungen sind anstrengend, es wird noch eine Runde ouzo bestellt, mit einer Reihe mesedes, den Vorspeisen, die heutzutage das Bad und oft auch den Hauptgang ersetzen. Mann muss sich stärken, Essen und Krieg sind eins: Doch nun geht zum Mahle, wir rüsten zum Angriff! (Ilias)

Der Sommer geht zu Ende, und die Griechen haben nun nicht gegen Troja sondern gen Athen zu ziehen, die männerehrende Feldschlacht auf der Straße zu bestehen. In ihren erzumschimmernden Wagen, am prangenden Steuer kämpfen sie sich durch das Schlachtgetümmel der schildgewappneten Streiter (Ilias), vulgo Verkehr. Ist der Stau zu lang, rät schon Homer: Besser eilt man zu Fuß und umgeht die Scharen der Männer. (Ilias)

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Geboren in Deutschland; Vater und Mutter – der eine klassischer Archäologe, die andere Altphilologin – brainwashten ihr einziges Kind bereits im zarten Alter, lasen ihr z. B. als Gute-Nacht-Geschichte die „Odyssee“ vor – auf Altgriechisch. Studium der Vor- und Frühgeschichte und Alter Geschichte in Tübingen, Oxford und Athen. Weil es ihr die alten Griechen angetan haben, zog sie nach ihrem Examen in deren Land; und lebt gern hier, auch wenn die neuen Griechen nichts unversucht lassen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Sie arbeitet hier als Archäologin; flüchtet mitunter – wenn Abstand von Griechenland angeraten ist – in ihren Blog und zu Grabungen in die Türkei, den Vorderen Orient, Mittleren und Hinteren Orient. Nera Ide

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