• Von Dierk Haasis
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Was ist schon radikal

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Dieser Tage fragte Jürgen Hermes auf Twitter1:

Ich gabe ein paar Beispiele, von denen ich meine, sie zeigen eine positive Antwort: Französische Revolution, Bauernkriege, Demokratisierung 1917-1919 in Deutschland und Österreich. Andere brachten das Frauenwahlrecht ins Spiel [auch eine direkte Auswirkung des Ersten Weltkriegs und der Radikalisierung einer Emanzipationsbewegung].

Viel wichtiger ist allerdings meine zweite Antwort, die eines der beiden Probleme seiner Originalfrage aufzeigt: ‘Du sprichst genau das Problem deiner Frage an: Wo setze ich den Cut? Wann ist das ‘Ende’ des historischen Prozess erreicht?’

Historische Prozesse sind soziale Prozesse, heisst, die Änderungen in einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften erfolgen über einen unbestimmten Zeitraum. Wir können im Nachhinein Daten festlegen, einen Anfang – Da war [X] noch so – und ein Ende – Da war [X] anders. Beide sind aber künstlich und mehr dem menschlichen Sinn nach Ordnung  und Muster geschuldet.

Selbst im ersten Moment einfach einzuordnende Ereignisse, meist die Explosion einer langen Gärung, wie die Französische Revolution sind nicht so klar abzugrenzen. 1789 ist ein schönes Datum, man setzt den Beginn oder gleich die ganze Revolution auf die Erstürmung der Bastille, die es wohl eher nicht gab. Auch Revolutionen benötigen ihre Mythen.

Und wann war sie zuende? Im September 1792, als die Republik ausgerufen wurde? 1793/4 mit der Herrschaft des Terrors? Oder 1799 mit Napoleon Bonapartes Coup? Vielleicht erst mit dem Sieg alliierter Truppen über Kaiser Napoleon 1815?

Können wir die allgemein als positiv gesehenen Auswirkungen der Französischen Revolution von den negativen trennen? Wie ist das mit der Amerikanischen Revolution, in der Steuerhinterzieher gegen eine rechtmässige Regierung mit Gewalt vorgingen?

Noch ein gänzlich anderes Beispiel: Frauenwahlrecht und allgemeine Gleichstellung von Frauen. In den USA gab es schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine starke, heterogene Frauenbewegung. Ein wichtiger Punkt dort war das Verbot von Alkohol. Viele hart arbeitende Männer, Arbeiter, Bauern etc. bekamen Ende der Woche ihren Lohn bar ausgezahlt und versoffen ihn sofort, um das zu feiern.

Gleichzeitig versuchten die Frauen Rechnungen zu zahlen, den Haushalt am Leben zu halten. Und sich selbst, denn nicht wenige Männer kamen nach ihren Besäufnissen nach Hause und wanden Gewalt in der Familie an.2 Ein letztendliches Ergebnis, neben dem Frauenwahlrecht 1920, war die Annahme des 18. Zusatzartikels zur US-amerikanischen Verfassung, der Prohibitionsartikel.3

Doch die Frage nach dem Ende ist nur eines der beiden Probleme von Jürgens Frage. Das andere ist das Wort ‘Radikalisierung’.

Schauen wir uns die Definition in der internationalen Wikipedia an:

Radicalization (or radicalisation) is a process by which an individual or group comes to adopt increasingly extreme political, social, or religious ideals and aspirations that reject or undermine the status quo or contemporary ideas and expressions of the nation.

Es radikalisieren sich somit immer jene, die sich gegen eine gegenwärtige Regierung/herschende Gruppe stellen. Radikal ist somit eher ein Kampfbegriff als ein soziologisch brauchbares Konstrukt.

Frauen, die das Wahlrecht wollten – radikalisiert!

Schwarze, die keine Handelsware mehr sein wollten – radikalisiert!

Bauern, die sich gegen Adel und Klerus erhoben – radikalisiert!

Georg Elser, Herbert Baum – radikalisiert!

Uyguren – radikalisiert!4

Steht man dem vorherrschenden Gesellschaftsklima also nahe, möchte man stabile Verhältnisse und meint, sie erreicht zu haben, Teil der gesellschaftlichen Stabilität zu sein, wird man Gegner schnell als radikalisiert empfinden. Das kann so weit gehen, dass – hier: die eine oder andere Landesregierung in Deutschland – viel Geld gegen Linksextremismus ausgibt, aber Rechtsextremismus wann immer möglich [oder eigentlich unmöglich] kleingeredet wird. Man verfolgt ältere Damen, die Nazisymbole entfernen mit der vollen Härte des Gesetzes, aber findet nichts dabei, wenn anzugtragnede Biedermänner davon reden, ihre Gegner zu jagen, Menschen an Grenzen zu erschiessen oder Register für Volksschädlinge zu bauen.5

Fragt mich jemand, ob Radikalisierung jemals zu einem guten Ende geführt hat, kann ich guten Gewissens ‘Ja!’ antworten. Oder ‘Nein!’ Je nachdem, was meine Laune gerade hergibt. Für den Beleg muss ich nur einen Prozess finden, in dem eine Gruppe als radikal bezeichnet wurde, deren Ideen später erfolgreich waren. Und ich muss einen Zeitpunkt für das Ende nutzen, der zu meiner Antwort passt.

Notes:
1. Ich hätte meine Tweets dazu auch mit Twitter-Karte eingebaut, aber Twitters API gibt das irgendwie nicht recht her.
2. siehe dazu auch Ken Burns. Prohibition: Teil 1 – “A Nation of Drunkards”. 2011, PBS. Erhältlich auf DVD und Blu-ray.
3. Ob die Gewalt und das offene Gangstertum auf das Alkoholverbot zurückging oder die zunehmende Zivilisierung der USA hier ein lautes Aufbäumen der raubtierkapitalistischen robber-barons-Fehlentwicklung des späten 19. Jahrhunderts erlebte …
4. Die Regierung in Beijing setzte die Uyguren vor Jahren auf Terroristenlisten.
5. Es wird bei diesem Thema gern Gewalt gegen Sachen, wie sie im Augenblick von “Linken” ausgeht, gern mit Gewalt gegen Menschen, wie sie im Augenblick von Rechten ausgeht, gleichgesetzt.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?