Was ist schon radikal
BLOG: Con Text
Dieser Tage fragte Jürgen Hermes auf Twitter1:
Führte Radikalisierung irgendwann schon einmal zu einem guten Ende? (ehrliche Interessensfrage)
— jhermes (@spinfocl) 6. November 2019
Ich gabe ein paar Beispiele, von denen ich meine, sie zeigen eine positive Antwort: Französische Revolution, Bauernkriege, Demokratisierung 1917-1919 in Deutschland und Österreich. Andere brachten das Frauenwahlrecht ins Spiel [auch eine direkte Auswirkung des Ersten Weltkriegs und der Radikalisierung einer Emanzipationsbewegung].
Viel wichtiger ist allerdings meine zweite Antwort, die eines der beiden Probleme seiner Originalfrage aufzeigt: ‘Du sprichst genau das Problem deiner Frage an: Wo setze ich den Cut? Wann ist das ‘Ende’ des historischen Prozess erreicht?’
Historische Prozesse sind soziale Prozesse, heisst, die Änderungen in einer Gesellschaft und zwischen Gesellschaften erfolgen über einen unbestimmten Zeitraum. Wir können im Nachhinein Daten festlegen, einen Anfang – Da war [X] noch so – und ein Ende – Da war [X] anders. Beide sind aber künstlich und mehr dem menschlichen Sinn nach Ordnung und Muster geschuldet.
Selbst im ersten Moment einfach einzuordnende Ereignisse, meist die Explosion einer langen Gärung, wie die Französische Revolution sind nicht so klar abzugrenzen. 1789 ist ein schönes Datum, man setzt den Beginn oder gleich die ganze Revolution auf die Erstürmung der Bastille, die es wohl eher nicht gab. Auch Revolutionen benötigen ihre Mythen.
Und wann war sie zuende? Im September 1792, als die Republik ausgerufen wurde? 1793/4 mit der Herrschaft des Terrors? Oder 1799 mit Napoleon Bonapartes Coup? Vielleicht erst mit dem Sieg alliierter Truppen über Kaiser Napoleon 1815?
Können wir die allgemein als positiv gesehenen Auswirkungen der Französischen Revolution von den negativen trennen? Wie ist das mit der Amerikanischen Revolution, in der Steuerhinterzieher gegen eine rechtmässige Regierung mit Gewalt vorgingen?
Noch ein gänzlich anderes Beispiel: Frauenwahlrecht und allgemeine Gleichstellung von Frauen. In den USA gab es schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine starke, heterogene Frauenbewegung. Ein wichtiger Punkt dort war das Verbot von Alkohol. Viele hart arbeitende Männer, Arbeiter, Bauern etc. bekamen Ende der Woche ihren Lohn bar ausgezahlt und versoffen ihn sofort, um das zu feiern.
Gleichzeitig versuchten die Frauen Rechnungen zu zahlen, den Haushalt am Leben zu halten. Und sich selbst, denn nicht wenige Männer kamen nach ihren Besäufnissen nach Hause und wanden Gewalt in der Familie an.2 Ein letztendliches Ergebnis, neben dem Frauenwahlrecht 1920, war die Annahme des 18. Zusatzartikels zur US-amerikanischen Verfassung, der Prohibitionsartikel.3
Doch die Frage nach dem Ende ist nur eines der beiden Probleme von Jürgens Frage. Das andere ist das Wort ‘Radikalisierung’.
Schauen wir uns die Definition in der internationalen Wikipedia an:
Es radikalisieren sich somit immer jene, die sich gegen eine gegenwärtige Regierung/herschende Gruppe stellen. Radikal ist somit eher ein Kampfbegriff als ein soziologisch brauchbares Konstrukt.
Frauen, die das Wahlrecht wollten – radikalisiert!
Schwarze, die keine Handelsware mehr sein wollten – radikalisiert!
Bauern, die sich gegen Adel und Klerus erhoben – radikalisiert!
Georg Elser, Herbert Baum – radikalisiert!
Uyguren – radikalisiert!4
Steht man dem vorherrschenden Gesellschaftsklima also nahe, möchte man stabile Verhältnisse und meint, sie erreicht zu haben, Teil der gesellschaftlichen Stabilität zu sein, wird man Gegner schnell als radikalisiert empfinden. Das kann so weit gehen, dass – hier: die eine oder andere Landesregierung in Deutschland – viel Geld gegen Linksextremismus ausgibt, aber Rechtsextremismus wann immer möglich [oder eigentlich unmöglich] kleingeredet wird. Man verfolgt ältere Damen, die Nazisymbole entfernen mit der vollen Härte des Gesetzes, aber findet nichts dabei, wenn anzugtragnede Biedermänner davon reden, ihre Gegner zu jagen, Menschen an Grenzen zu erschiessen oder Register für Volksschädlinge zu bauen.5
Fragt mich jemand, ob Radikalisierung jemals zu einem guten Ende geführt hat, kann ich guten Gewissens ‘Ja!’ antworten. Oder ‘Nein!’ Je nachdem, was meine Laune gerade hergibt. Für den Beleg muss ich nur einen Prozess finden, in dem eine Gruppe als radikal bezeichnet wurde, deren Ideen später erfolgreich waren. Und ich muss einen Zeitpunkt für das Ende nutzen, der zu meiner Antwort passt.