Vasteh’ ik nich’

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Eines der Themen, die mich letzte Woche beschäftigten, waren Begriffe und ihre Anwendung. Im täglichen Leben haben wir nur sehr selten Schwierigkeiten, verstanden zu werden. Egal, ob wir einkaufen, uns über den letzten Steven-Spielberg-Film unterhalten, den Urlaub planen oder bei Bierchen eine kleinere Diskussion über währungspolitische Konzepte halten. Selbstverständlich kommt es hin und wieder zu Missverständnissen, aber die sind meist schnell geklärt.

Alltägliche Kommunikation dient, über die Lösung einfacher Probleme hinaus, auch dazu, soziale Hierarchien auszuloten. Selten ist dabei gefragt, wer faktisch Recht hat, viel öfter geht es darum, wer Recht haben darf. Arbeitnehmer kennen das nur zu gut. Es geht nicht nur um vertikale Hierarchie – z.B. als klassische Macht-Ohnmacht-Beziehung. Noch wichtiger ist die horizontale Hierarchie, auch bekannt als soziale Vernetzung oder Emotional Quotient.

Wenn kein direktes Machtgefälle vorhanden ist, sollte es keine Rolle spielen, wer Recht hat. Das ist aber nicht so, wie wir alle wissen. Die Besserwisser unter uns erleben immer wieder, dass ihr Wissen nicht ankommt, möglicherweise zu einem kleinen Freundeskreis führt. Natürlich ist keiner von uns ein Besserwisser, denn so nennen nur die anderen einen – weil sie gemein sind.

Falls Sie gerade kein Beispiel eines gehassten Besserwissers zur Hand haben, schauen sie ein paar Folgen The Big Bang Theory und achten Sie auf Sheldon Cooper.

Wissenschaftssprache

Um zu einer bestimmten Gruppe zu gehören, genügt es nicht, sich einfach zugehörig zu proklamieren. Sie müssen beweisen, dass sie die Denkmuster der Gruppe verstehen, ihre Weltsicht anerkennen und angemessen verbreiten können. Das beginnt bei der richtigen Kleidung und Frisur – Popper vs. Punk, Hipster vs. Öko, Hertha BSC vs. FC Düsseldorf, Deutschland vs. England.

Allerdings sind solcherart Äußerlichkeiten sehr leicht zu fälschen. Sehr viel schwieriger sieht das mit Kommunikation aus. Slang und Jargon sind gar nicht so einfach nachzumachen. In der Wissenschaft ist die Fachsprache oft die einzige Möglichkeit, sich von anderen abzugrenzen [und der weiße Laborkittel, sofern Sie Chemiker oder Biologe sind]. Dabei müssen wir unterscheiden, in Fachsprache als

  • Verkürzung komplexer Konzepte
  • Erkennungsmerkmal für Kollegen
  • Vortäuschung geistiger Tiefe

Es sollte offensichtlich sein, dass es wenig sinnvoll ist, über Jahre und Jahrzehnte hinweg immer wieder die gesamte Beschreibung und Ableitungen eines Phänomens zu bringen. Wir fassen den epistemologischen Teil Karl Poppers Philosophie zusammen und nennen ihn kritischen Rationalismus. Erst wenn wir an Definitionsgrenzen stoßen, brechen wir Fachbegriffe wieder auf, um zu prüfen, ob sie der Realität angemessen definiert sind.

Aus dem ersten Punkt heraus entwickelt sich die soziale Komponente. Kollegen erkennen sich an den richtigen Buzzwords. Wer nicht weiß, was eine Epizeuxis ist, zeigt, dass er kein Fachmann für Rhetorik ist. So geht das. In allen Berufsbereichen übrigens, auch Finanzwirtschaft, Elektrik oder Dachdeckerei haben ihren Jargon.

Getäuscht

Selbstverständlich besagt die Beherrschung eines Begriffsapparates nichts über die tatsächlich vorhandene Fachkompetenz aus.

In string theory, the quantum-mechanical amplitude for the interaction of n closed or open strings is represented by a functional integral (basically, a sum) over fields living on a two-dimensional manifold with boundary. In quantum gravity, we may expect that a similar representation will hold, except that the two-dimensional manifold with boundary will be replaced by a multidimensional one. Unfortunately, multidimensionality goes against the grain of conventional linear mathematical thought, and despite a recent broadening of attitudes (notably associated with the study of multidimensional nonlinear phenomena in chaos theory), the theory of multidimensional manifolds with boundary remains somewhat underdeveloped. Nevertheless, physicists’ work on the functional-integral approach to quantum gravity continues apace, and this work is likely to stimulate the attention of mathematicians.1

Der Mathematiker Alan Sokal zeigte mit seinem Artikel, wie einfach Geisteswissenschaftler hinters Licht zu führen sind. Oft scheinen sie die Wörter zu kennen, doch die Konzepte dahinter sind nur in groben Linien geläufig. Da wird dann gerne auch mal das eigene Handwerkszeug vergessen, und Metaphern werden wörtlich verstanden.

Der Mathematiker Kurt Gödel veröffentlichte 1931 einen Artikel ‘Über formal unentscheidbare Sätze der “Principia Mathematica” und verwandter Systeme‘. Dessen Kern kennen die meisten Menschen

  1. Ein System kann konsistent sein, dann ist es nicht vollständig.
  2. Die Konsistenz eines Systems kann nicht aus sich selbst heraus bewiesen werden.

Das lässt sich wunderbar auf das Leben als solches anwenden. Und da ein Leben immer vollständig ist, erkennen wir, dass wir nicht konsistent leben können.

Allerdings lässt sich das überhaupt nicht aus Gödels Beweis ableiten, der sich ausschließlich auf nicht-triviale, formale Systeme beschränkt. Als Bonmot ist die Ableitung gut zu gebrauchen, sie mag uns auch zum Denken anregen, aber sie wörtlich zu nehmen, ist einfach unsinnig. Doch genau das geschah und geschieht immer noch, es werden Fachtermini aus der Physik genommen ohne sie vollständig zu verstehen, angewandt auf philosophische Fragen, in denen ähnliche Begriffe womöglich ganz anders definiert sind oder schlicht nicht greifen: Relativität, Quantenverschränkung, Superposition [Schrödingers Katze] …

Wundern Sie sich also nicht, wenn Ihnen manch Text aus Philosophie, Literaturwissenschaft, Soziologie etc. Kisuaheli vorkommt, vielleicht fehlt Ihnen nur das Rüstzeug. Es kann natürlich auch sein, dass der Autor Sie auf die Schippe nehmen will, im Guten oder im Bösen.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

6 Kommentare

  1. Die ermüdenden Fachartikel waren ein Grund für mich, die wissenschaftliche Laufbahn an den Nagel zu hängen. Die meisten Artikel sollen offensichtlich so sehr einlullen, dass man den fehlenden Forschungsbeitrag nicht bemerkt. Empfand ich schnell als Zeitverschwendung.

    Nunmehr stehe ich vor dem Rätsel, dass jeder – außerhalb der Wissenschaften und quer durch alle Bildungsschichten – zu wissen scheint, wer oder was mit dem Begriff “Gott” gemeint sein soll. Ein Fachbegriff der besonderen Art – Verwirrung pur.

  2. Schwierigkeiten des alltägl. Verstehens

    Den Ausgangspunkt dieses Artikels würde ich in vielerlei Hinsicht bestreiten: “Im täglichen Leben haben wir nur sehr selten Schwierigkeiten, verstanden zu werden.”

    Dass dieses weit überwiegend erfolgreiche Alltagsverstehen funktioniert, ist eine Illusion. Das dürfte Ihnen auch bewusst sein, wenn Sie über soziale Hierarchien schreiben, die kommunikativ hergestellt werden: Wenn es häufig egal ist, worüber gesprochen wird, Hauptsache, der soziale Zweck der Kommunikation wird realisiert, dann ist es auch egal, ob dabei das Kommunikationsthema verstanden wird oder nicht.

    Dass eine Urlaubsplanung schon dann als reibungsloser Verstehensvorgang bewertet wird, wenn die Beteiligten am Ende am selben Ort ankommen, ist beispielsweise ein äußerst begrenzter Begriff von Verstehen. Gleichzeitig wird das Ziel des identischen Ankunftsortes praktisch nie allein dadurch erreicht, dass die Beteiligten an einem Tisch sitzen und jeder den Namen des Zielortes sagt. Ergänzend kommen in der Regel zahlreiche Hilfsmittel und Verhaltenserwartungen stabilisierende Methoden zum Tragen.

    Andere zu verstehen ist schon deshalb so schwierig, weil wir uns selbst nicht völlig verstehen können.

  3. Verstehen setzt verstehen wollen voraus

    Das deutsche Wort “Verstehen” meint sowohl das intellektuelle Verstehen im Sinne von Begreifen als auch das einfühlende Verstehen.

    Warum sind bei Alltagsunterhaltungen über etwas gemeinsam oder ebenfalls Erlebtes die Missverständnisse schnell aufgeklärt? Weil die Gesprächssituation meist schon das sich hineinfühlen in den Anderen beinhaltet. Wenn man sich dem Hineinfühlen verweigert ist man ja oft schnell bereit zu sagen oder irgenwie dem andern zu vermitteln “Was du da sagst versteh ich nicht”. Damit lässt man den andern abtropfen.

    Natürlich ist es kein Zufall, dass es im deutschen Wort “Verstehen” eine intellektuelle und eine emotionale Komponente gibt. Denn oft gehen die beiden Dinge Hand in Hand. Gerade auch wenn es um schwierigere Dinge geht. Wer etwas vermeintlich schwieriges begreift und stolz darauf ist, gibt den anderen oft zu verstehen, dass sie sich ebenfalls anstrengen müssen auf dieselbe Erkenntnishöhe zu kommen. Es ist dann nicht mehr weit zur Schaffung eines eigenen Codes – eines Codes, den nur Eingeweihte verstehen, womit man sich gegen Unberechtigte und Eindringliche abgrenzt.

  4. Besserwisserkommentar

    @ Morten kein Betreff 22.05.2012, 23:56

    Die ermüdenden Fachartikel waren ein Grund für mich, die wissenschaftliche Laufbahn an den Nagel zu hängen. Die meisten Artikel sollen offensichtlich so sehr einlullen, dass man den fehlenden Forschungsbeitrag nicht bemerkt. Empfand ich schnell als Zeitverschwendung.

    -> Haha, … vielleicht aber hat der Morten die entsprechenden Fachartikel nicht durchdringen können und so den Anschein von Langweiligkeit empfunden, da der Zugang zum Inhalt fehlte?
    Das ist natürlich nur eine Mutmaßung über eine der möglichen Faktoren des Ergebnisses. Natürlich könnte es tatsächlich so gewesen sein, dass der Inhalt wirklich substanzlos war. Mir kommt auch regelmässig ein solcher Gedanke – ich überbewerte diesen aber nicht und bilde mir keine besonderen Lorbeeren ein und warte auf plausible Vervollständigung meines Verstandesinhaltes.

    Der Blogbeitrag ist wie geschaffen dazu, sich als Kommentator unter der Fuchtel des Themas voll ins Rampenlicht zu begeben. Eigendlich kann man hier nicht ohne Blessuren seinen Senf hinzu geben. Der Vorwurf des Besserwissens stünde schnell auf dem Radar jedem Lesers. Das ist aber eine singuläre Begebenheit, denn jeder Leser sei ja auch vom Inhalt betroffen und angesprochen und müsste sich selbst fragen, inwieweit er sich nun nicht doch zuweit aus dem Fenster lehnte mit seiner Meinung zur jeweiligen Aussage des Blogbeitrags oder kommentares.

  5. Ist Fachsprache als “Erkennungsmerkmal für Kollegen” nicht doch nur ein nachrangiges Nebenprodukt von “Verkürzung komplexer Konzepte”? Die Verkürzung komplexer Inhalte ist unbestritten sachliches Ziel von Vermittelbarkeit und das man dabei dann unter Kollegen gleiches Wissenschaftssprech pflegt, ergibt sich doch aus der jeweiligen Notwendigkeit der Vermittelbarkeit der Inhalte in möglichst kurzer Zeit.

    Übrigens verwende ich auch gerne Fachbegriffe für Fachfremde Inhalte – weil es manchmal wirklich Spaß macht. Das es sich dabei um den Tatbestand der Vortäuschung geistiger Tiefe handelt… tangiert mich wenig. Der wirklich “Besserwissende” möge gefälligst erhaben darüber stehen.

  6. Besserwisserkommentar et al.

    @chris Besserwisserkommentar

    Danke für Ihre Version des Besserwisserkommentars. Sie haben sich erfolgreich in das genannte Rampenlicht begeben.

    Sie haben ganz Recht, mir fehlte der Zugang zum Inhalt. Das lag an der Form der Artikel (viel zu viel überflüssiger schwulstiger Text), wie auch am mangelnden Gehalt. Wohl weniger an mangelnden Fähigkeiten, da mein Doktorvater mich per Zeugnis zu den oberen 10% seiner Schüler zählte.

    Die Usability (oder Readability) typischer Fachtexte ist fast null. Daher beschäftige ich mich jetzt lieber mit Usability-Themen. Bei vielen selbsternannten “Wissen-Schaftlern”, die sich hinter Geschwafel und weißen Kitteln verschanzen, ist da erfahrungsgemäß allerdings wenig Hoffnung auf Verbesserung.