Kinderbücher, die erwachsen werden

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Wenn Erwachsene Kinderbücher lesen, mehrfach lesen, dann muss doch irgendwas in den Büchern stecken. Nicht selten handelt es sich vor allem um Nostalgie. Menschen sehnen sich in eine Zeit zurück, die sie als ruhig, schön und unschuldig erinnern. Ihre Kindheit – als die Eltern noch aus lustigen Büchern vorlasen, mitlachten. Bevor sie zu Verbotsmonstern wurden, mit denen gestritten wurde.

Das ist aber nicht immer der Grund. Manchmal sind die Kinderbücher einfach gute Literatur, die auch dem Erwachsenen, der die Komplexität des Lebens schon kennt, etwas mehr geben als nur entzückende Erinnerungen. Kinder- und Jugendliteratur hat sich in den letzten Jahren auch verändert. Es geht weg von einfach gestrickten Charakteren und Geschichten. Wir finden mehr Antihelden, dunklere Geschehnisse, tragischere Plots.

Die Welt Enid Blytons ist zwar nicht verschwunden, aber sie hat der Welt J.K. Rowlings reichlich Platz machen müssen.

Vergleich Kinder- und Erwachsenencover Harry Potter and the Deadly HallowsEs ist nun nicht so, als bräuchten Erwachsene eine Entschuldigung, Harry Potter zu lesen – obwohl die Ausgaben mit dedizierten Erwachsenen-Covern vermuten lassen, dass nicht wenige meinen, als erwachsener Mensch habe man erwachsene Bücher zu lesen.

J.K. Rowling hat die Kinder- und Jugendliteratur nicht neu erfunden. Es gab immer schon Autoren, gerade in Großbritannien, Deutschland und Schweden, deren Werke inhaltlich und formal Ebenen erschlossen, die sie für Erwachsene interessant machten. Astrid Lindgren, Otfried Preußler, Michael Ende, Lewis Carroll, Roald Dahl oder Philip Pullman beschäftigen sich kind- und erwachsenengerecht auch mit schwierigen Themen.

Die Harry-Potter-Romane benutzen klassische Jugendbuchelemente, von der Struktur bis hin zu den Beziehungen zwischen Figuren. Im Mittelpunkt steht ein Waisenkind, hochbegabt, oft unverstanden, auch weil andere neidisch sind. Er findet ein paar weiter Außenseiter, mit denen er Abenteuer besteht, die weitgehend von den Erwachsenen unbemerkt ablaufen. Typische Ausnahme: die Eltern und Lehrer stellen ein Hindernis dar. Selbstverständlich erfahren sie zum Schluss, wenn die Kinder den Tag gerettet haben, was da abgelaufen ist.

Doch Rowling unterläuft peu á peu fast alle Konventionen. Die Motive des väterlichen Freundes Albus Dumbledore sind alles andere als edel, er sieht Harry Potter als Werkzeug im Kampf gegen das Böse und ist bereit, ihn für einen Sieg zu opfern. Der Hauptantagonist der Serie wird mindestens ebenso ausführlich charakterisiert wie der Protagonist; über Lord Voldemort und seine Vergangenheit bekommen wir viel mehr zu lesen, als über irgendeine andere Figur.

Es geht soweit, dass wir Mitleid mit dem jungen Tom Riddle haben, obwohl wir ihm zuerst in seiner womöglich widerlichsten Form in Chamber of Secrets treffen, als er ein unschuldiges Mädchen benutzt, um Terror zu verbreiten und wieder in die reale Welt einzutreten. In späteren Büchern macht Rowling die Parallelität von Protagonist und Antagonist immer deutlicher – Herkunft, aufwachsen in schwierigen Verhältnissen. Das geht schon über das klassische Jugendbuch hinaus, in dem wir es bei den Gegnern meist mit Pappkameraden zu tun haben, die den Hauptfiguren Ungemach bereiten.

Aber es geht noch tiefer, J.K. Rowling kommentiert gleichzeitig, was eine gute Spannungsgeschichte ausmacht: Der Antagonist muss interessant sein und das negative Spiegelbild des Helden sein. Wir sehen dieses Prinzip z.B. in Sam Raimis Spider-Man 2, im James-Bond-Film The Man With the Golden Gun oder in der Marvel-Comic-Reihe X-Men.

Vieles, was Kinder in den Büchern als einfache Spannungselemente erleben, lesen Erwachsene mit anderen Erfahrungen und den täglichen Schlagzeilen im Hinterkopf. Die Angriffe der Death Eaters, die in den späteren Romanen eine Rolle spielen, erinnern an die terroristischen Akte in London und Madrid, aber auch – die älteren zumindest – an die IRA-Attacken der 1970er.

Vorgehensweise und Erfolg Voldemorts zeigen Parallelen zum Aufstieg Adolf Hitlers und der NSDAP.[1] Kein Elter muss das erklären, denn die Geschichte funktioniert ohne Schwierigkeiten ohne diese Bedeutungsebene. Genau diese Trennung der Oberflächenerzählung von den Anspielungen und tieferen Bedeutungsebenen macht den kommerziellen wie literarischen Erfolg Rowlings aus. Der Harry-Potter-Zyklus funktioniert als eskapistische Erzählung ebenso wie als literarisches Puzzle.

So manchem mag der Wortwitz ein wenig zu einfach vorkommen, schaut man genauer hin, findet sich jedoch eine reiche Auswahl, die über seichten Schmunzler hinausgeht. Die erste große Prüfung nach dem fünften Jahr, heißt O.W.L. – nicht nur bevorzugtes Schoßtier vieler Zauberer und Hexen, sondern auch eine Verballhornung der realen O-Level-Prüfung[2] englischer Schulen.

Diagon Alley beschreibt die Geografie der betreffenden Straße, ist gleichzeitig Metapher für die Parallelwelt, eine quer gedachte Welt, in die Harry hinein geworfen wird. In Band 2 führt der undeutlich ausgesprochene Name diagonal weg vom eigentlichen Ziel in die Knockturn Alley. Für die Liebhaber Schillers gibt es die Schule Durmstrang.[3] Die Romane strotzen nur vor solchen Spielereien mit Englisch, Deutsch, Französisch und Latein; da ist für jeden was dabei.

Während gerade zu Beginn der Serie die Plots und die Welt noch stark an Enid Blyton – plus das fantastische Element – erinnern, bleibt davon schon bald nicht viel übrig. Die finale Konfrontation bereits im Philosopher’s Stone ist viel gefährlicher als alles, was die jugendlichen Helden in Blytons Erzählungen zu bestehen haben. Bei Prisoner of Azkaban haben wir es streckenweise mit einem Horrorroman zu tun, dessen Plot sich auch noch um 180 Grad dreht [die Bedrohung ist keine, sondern ein Segen]. Half-Blood Prince ist eine veritable Charakterstudie einer vieldeutigen Figur.

Noch etwas ist anders. In klassischer Kinder- und Jugendliteratur werden die Hauptfiguren nicht erwachsen. Sie wollen oft gar nicht älter werden, wie Pippi Langstrumpf. Rowlings Serie ist von vorneherein als Entwicklungsroman angelegt, die Hauptfigur handelt sehr früh verantwortungsvoll und erwachsen, kämpft gegen erwachsene Gefahren. Er will erwachsen werden.

Die für die Harry-Potter-Romane wichtige Anbindung an die reale Welt wird mit dem von vielen ungeliebten Epilog zum Schluss noch einmal ganz deutlich:

[The epilogue] shows the ultimate fulfilment of Harry’s chosen destiny, he does not want to be the eternal hero wandering the world in pursuit of adventure and evil. His fight was for peace on a very personal level, he looked for a peaceful, quiet life. Why not show it?

The coda has a metatextual level, too: Whatever you think about the boring life of your parents, they were young once, they might have been anything but dull. Isn’t that what the author tells her readers?[4]

Die Autorin zeigt Harrys Happy End, das Leben, das er immer haben wollte – eine Familie, mit der er ein ruhiges Leben führen darf.

 

[1] Die Interpretation, das hier oder in Star Wars: Attac of the Clones und Star Wars: Revenge of the Sith auf George W. Bush angespielt würde, halte ich für überzogen.

[2] Heute: General Certificate of Education, bei vielen Briten aber immer noch als O-Levels bekannt.

[3] diagonal thinking = quer denken; Knockturn dröselt sich auf in  
nocturnally = nächtlich, düster  
knock down = niederschlagen
turn = Wendung, Drall, Biegung, Kurve;
Durmstrang = Sturm (und) Drang = Deutsche Romantik

[4] Dierk Haasis, ‘J.K. Rowling’s Choice‘, 2011.

 

Mehr zu Harry Potter von mir, beides auf Englisch:

Rezension Harry Potter and the Half-Bood Prince

Rezension Harry Potter and the Deathly Hallows, Part 1

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

1 Kommentar

  1. König Artus

    Mein zehnjähriger Sohn hat nach der Lektüre eine Buches über die Artussage einige Parallelen zu Harry Potter entdeckt (rätselhafte Herkunft des Helden, die mächtige Waffe, die nur der Held beherrscht, die ihm aber auch gefährlich werden kann, die Manipulation des Helden durch höhere Mächte im Kampf von Gut und Böse und anderes). Wie plausibel ist diese Interpretation? (Und muss ich mir nun Sorgen machen, dass er Literaturwissenschaftler wird?)