Killerversteher

BLOG: Con Text

Wörter brauchen Gesellschaft.
Con Text

Es gibt zwei Arten von Krimis, die eine zeigt den Detektiv bei der Arbeit, die andere den Täter. Klar, ganz so einfach ist es nicht, gerade der US-Krimi zeichnet sich durch Detektive aus, die selbst Täter sind. Eine der besten Romanserien aus England – David Peaces Red Riding Quartet – dreht sich um unterschiedlich korrupte Polizisten, Polizeibehörden, ja, eine ganze Gesellschaft, die unheilbar krank ist. Täter und Ermittler sind im modernen Krimi nicht immer klar zu trennen.*

Aber wo sind die Opferkrimis? Es gibt sie. Vor allem, wenn sich das Opfer-Täter-Profil im Laufe der Geschichte umdreht. Das berühmteste Beispiel ist Brian Garfields Death Wish, dessen Verfilmung die Gewalt und die Selbstjustiz feiert [wenn auch nicht so stark wie Folgefilme]. Garfield untersucht, wie ein friedliebender Familienvater die Phasen von Trauer zu Unverständnis zu Wut und Verzweiflung durchmacht und am Ende selbst zum Gewalttäter wird.

Im Grunde ist auch Death Wish ein Täterkrimi, nur einer, der sich mehr Zeit nimmt als üblich, um eine rational fassbare Motivation zu skizzieren. Anders als in den seit 3 Jahrzehnten beliebten Sozio- und Psychopathenkrimis, bleibt die Hauptfigur aber für uns verständlich. Wir haben es nicht einfach mit einem charmanten Teufel zu tun, dessen Handlungen uns unbegreiflich bleiben. Paul Benjamin hat ein klares Motiva, das jeder versteht: Rache für den Tod seiner Frau und die Verletzungen seiner Tochter.

Hannibal Lecter, Michael Martin Plunkett, Lou Ford, Patrick Bateman, Henry [Henry: Portrait of a Serial Killer] und viele andere bleiben dem Leser in ihrer Motivation verschlossen. Sie mögen charmant sein, faszinierend, aber letztendlich gehen sie ihrem bösen Trieb nach, den wir nicht nachvollziehen können. Manchmal sind sie bloße Chiffren für die Ellbogengesellschaft, in der nur der Stärkere erfolgreich ist. Patrick Bateman ist da in seinen Handlungen nur konsequent.

Allerdings bemühen sich die Autoren durchaus darum, hinter die Fassade von Verbrechern zu schauen, auszuloten, was sie zu Kriminellen macht, wann die Grenze von gesellschaftlicher Erwartung zu strafbarer Handlung überschritten ist.

Hier liegt auch die Crux, weshalb es nur sehr wenige Opferkrimis gibt und weshalb Journalisten wenig interessiert sind, Opfergeschichten zu bringen. Opfer sind zufällig. Es gibt keine Motivation, Betroffener einer Straftat zu werden – im Gegenteil, niemand möchte Opfer sein. Egal wie sehr Presse und Schriftsteller deren Leben untersuchen, sie werden nichts finden, was verhindert, dass andere geschädigt werden.

Egal wie schwer verständlich die Motivation von Tätern zu verstehen ist, egal wie komplex die Ursachen für ihre Taten sind, wenn wir sie kennen, haben wir eine Chance vorzubeugen. Ohne zu einem Überwachungs- und Präventivhaftstaat zu werden. Wir können unsere sozialen Programme, unser Bildung- und Gesundheitssystem anpassen.

Daher ist es wichtig, auch über reale Täter kein Schweigegebot zu verhängen. Wir machen es uns zu leicht, wenn wir Menschen wie Breivik – und für die Falschversteher: auch Adolf Hitler – einfach als Monster sehen, als personifiziertes Böses. Wären sie das, blieben ihre Taten Schicksal, dessen wir uns nicht erwehren könnten. Sehen wir sie als Menschen mit Motiven und Gründen, können wir lernen, wie wir in Zukunft Gräuel verhindern.

 

 

*Natürlich existieren weiterhin, vor allem im TV, Krimis, die klassische Gut-Böse-Muster aufgreifen, mit Tätern, deren Tatgründe in unsere Denkschemata passen, und Detektiven, die wir gerne als Nachbarn hätten. Und es gibt den deutschen Tatort, dessen Fantasy sich als Realismus tarnt.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?

2 Kommentare

  1. Berichterstattung

    Schweigegebote halte ich auch für falsch. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass man mit allgemein-gesellschaftlichen Maßnahmen tatsächlich verhindern kann, dass sich Leute wie Breivik geistig so absurd weit vom allgemeinen Konsens der Art des Zusammenlebens entfernen. Abweichendes Verhalten lässt sich meiner Meinung nach nie ganz verhindern, beschränkt sich in Punkto Amokläufen aber gottlob auf wenige Einzelfälle. Wovon jeder einzelne wegen der tragischen Konsequenzen zuviel ist, keine Frage. Das Problem liegt aber meiner Meinung nach vor allem darin, dass die potentiellen Täter über die Mittel (Waffen, Sprengstoff), ihre kranken Pläne durchzuführen, verfügen können.

    Beachtenswert ist in dem Zusammenhang auch der Einfluss der Berichterstattung auf mögliche Nachahmungstäter. Das ist zwar v.a. in Hinsicht auf Suizidhandlungen untersucht (wobei der Werther-Effekt nicht dadurch zustande kommt, dass überhaupt berichtet wird, sondern wie berichtet wird), ich meine mich aber zu erinnern, dass Amokläufer ihre Vorgänger zum Teil als Helden verehrten und damit evtl. in ihren idiotischen, aber verheerenden Planungen bestärkt wurden.

  2. gleiche kerbe

    was bei psychologen usus ist, bedarf philosophisch und weltanschaulich eine begründung, da dort ganz andere konzepte verbreitet sind. bspw. basiert das deutsche rechtssystem auf der vorstellung von schuld an sich. obwohl es bestrebungen gab den schuldbegriff als eigenständiges merkmal abzuschaffen, hat man es nach dem krieg doch in das rechtssystem eingebaut. in anderen gesellschaftlichen bereichen sieht es einiges schlimmer aus.
    ein plädoyer gegen die konzepte von gut, böse und schuld hat michael schmidt-salomon geschrieben. dafür tritt auch die Giordano Bruno Stiftung ein für die schmidt-salomon spricht.

    http://www.schmidt-salomon.de/jvgub/home1.htm

    http://www.schmidt-salomon.de/…uman/manindex.htm