Corona, Teil 2: Ein Griff in die Gesellschaft

Da sitzen wir also. Die einen Zuhause, um die Ansteckungsgefahr zu verringern. Die anderen auf Parkbänken, um endlich mal ein Buch zu lesen. Die Wirtschaft kurzarbeite irgendwo zwischen ‘Abstand halten’ und ‘Bis auf Weiteres geschlossen’. Kinder müssen drinnen bleiben und von ihren Eltern beschult werden. Die Server von Netflix, Amazon Video & Co. schieben Pixel in die Leitungen wie nie zuvor.
Ist das schon Normalität oder noch Ausnahmezustand?
Im ersten Teil hatte ich ein paar Gedanken zu den beiden Szenarien im Umgang mit SARS-Cov2 aufgeschrieben. Wie es aussieht haben wir die Wahl zwischen Scylla und Charibdis – schnell auf natürlichem Weg Herdenimmunität schaffen und viele Tote in Kauf nehmen. Oder auf der anderen Seite eine lange Zeit völlig anders arbeiten, wirtschaften, freizeiten, lehren als die letzten 250 Jahre.
Die ethische Diskussion darum, welchen Weg man letztendlich einschlagen muss, leidet nicht zuletzt am Unwillen, über neue Wege nachzudenken. Daraus ergeben sich zwei Positionen, die gar nicht zueinander finden können:
die Wirtschaftlichen
Sie weisen auf die Schwierigkeiten hin, die eine langfristige Selbstisolation mit sich bringt. Praktisch alle Systeme, die bisher ganz gut vor sich hinwerkelten, brechen zusammen. Unternehmen, die auf Präsenzarbeit setzen, fehlen plötzlich die Arbeitnehmer im Gebäude. Schulen stehen leer. Gewerbemieten werden nicht bezahlt, da man der ‘Betrieb jedoch derzeit nicht möglich ist, gewähren Sie uns den Gebrauch der Mietsache nicht.’1 Gegen zu erwartende Toten durch Corona werden mögliche Tote durch Suizide aufgerechnet.
die Ethischen
Tote aufzurechnen mögen sie nicht. Menschen dem Markt zu opfern noch weniger. Sie sehen Hilfen für jene, die wirklich in Bedrängnis geraten. Für sie ist der Markt ein Mittel, ein Werkzeug der Gesellschaft, damit Menschen so gut wie möglich leben können.
Niemand hat gesagt, dass es einfach ist.
Der geschätzte Martin Lindner dachte auf Twitter darüber nach, wie man sich eine profunde Meinung bilden kann und wie es im Moment aussieht:
auch im vernünftigen alltagsumfeld wird die schere zwischen der "alles ist ernster & langwieriger als kommuniziert"-fraktion & der "es ist schlimm, aber nicht so dramatisch & das leben muss bald weitergehen"-fraktion immer größer. (ich weiß es nicht & orientiere mich an drosten.)
— @martinlindner_wb@colearn.social | Martin Lindner (@martinlindner) 4. April 2020
Ich sehe allerdings einen dritten Weg, den Lindner selbst auch beschreitet. Man kann nämlich die Realität annehmen, statt sie zu leugnen und attackieren, und schauen, wie wir uns und unser Zusammenleben anpassen. Oder auch
2es ist ernst und wird länger dauern, doch da das Leben weitergehen muss, sollten wir jetzt Lösungen ausserhalb der Medizin suchen
Schleichend vs. plötzlich
Sie kennen das Gleichnis vom Frosch, der im Topf mit Milch schwimmt. Eine Analogie, die Menschen deutlich machen soll, wie schwierig es ist, auf schleichende Katastrophen zu reagieren. Plötzlich hereinbrechende Ereignisse sind leichter zu handhaben. Im ersten Teil benutzte ich Krieg und Bombenhagel, weil jeder weiss, dass man da sofort handeln muss. Beim Klimawandel sieht das anders aus. Und eben auch bei Krankheiten wie Covid19, die lange Zeit keine, dann schwache Symptome zeigen. Gleichzeitig aber hochansteckend sind.
In meinem Synonymwörterbuch3 steht unter ‘Katastrophe’:
Umsturz, Umschwung, Umwälzung, Erschütterung, Explosion, Sturz, Sturm, Erdbeben, Erdstoss, Felssturz, Lawine, Flut, Orkan, Sintflut, Untergang, Abgrund, Unglück, Unstern, Verhängnis, Schicksal, Unheil, Fluch, Not, Tücke, Unglücksfall, Betriebsunfall, Strassenunfall, Flugzeugunfall, Schiffbruch, Havarie, Zusammensturz, Hungersnot, Missernte, Wassernot, Krieg, Vernichtung, Seuche, Verheerung, Zerstörung, Ruin, Niedergang, Blitzschlag 4
Die meisten Begriffe bezeichnen plötzliche Ereignisse, nur fünf und nur bei gnädiger Auslegung beziehen sich auf längerfristige Prozesse. Wir sind einfach nicht dafür gemacht, auf weite Sicht zu denken. Das ist eine Fähigkeit, die wir trainieren müssen, die harte Arbeit ist. Und die am besten kollektiv funktioniert, weil jeder in seinem Kenntnisfeld Kleinigkeiten beizutragen hat, die insgesamt eine grosse Änderung herbeiführen.
Was fehlt
Wir müssen dieser Tage feststellen, dass wir in den letzten 20 – ich würde sogar so weit gehen und sagen 40 – Jahren gesellschaftlich und wirtschaftlich nicht vorangekommen sind. Wir haben es uns gemütlich gemacht. Lief ja alles gut. Meistens. Hier und da ein wenig Stellschraubendrehen. Das war’s.
Das grösste, was gemacht wurde, war die Ausrichtung des Arbeitsmarktes auf die Bedürfnisse von Unternehmen. Arbeitnehmer wurden billiger gemacht. Soziale Belange zurückgebaut. Die Politik findet es vollkommen i.O., ‘Markt’ über Aktienkurse und Unternehmensprofite zu definieren. Sind die oben, geht es uns gut.
Firmen fahren das Personal oft an der unteren Grenze, so wenig wie möglich einstellen. Übliche Problemsituationen – Urlaub, individuelle Krankheit – wird man schon mit Überstunden oder Leiharbeitern regeln können. Das geht bis in Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen. Nicht gut, aber es geht. Bis jetzt.
Früher dachten viele Menschen, Maschinen würden Produktion und Dienstleistungen abnehmen. Vielleicht nicht komplett, aber doch weitgehend. Menschen könnten dann tun, was ihnen Spass und anderen vielleicht Nutzen bringt. Für einige mag das auf dem Sofa liegen sein, aber die meisten Menschen würden etwas tun, mit Holz werken, Bilder malen, mit Kindern singen und tanzen. Nun, all das, was wir heute für notwendig halten, aber nicht bereit sind anständig zu bezahlen.5
Es gab auch immer wieder Utopien dazu, wie man lernen und lehren kann. Oder wie man generationenübergreifend auch in einer urbanisierten Gesellschaft leben kann.
Alles so Sachen, die jetzt hilfreich wären. Aber wir scheitern bereits am mobilen Arbeiten/Home Office. Weil sich trotz des technischen Fortschritts, der ein Remote Arbeiten in vielen Bereichen reibungslos macht, die gesellschaftliche Kultur nicht geändert hat. Wir halten weiter an der Präsenzarbeit fest. Wir arbeiten nicht für Ergebnisse, sondern stellen uns für einen gewissen Zeitraum zur Verfügung, beaufsichtigt zu werden.
Daran sind wir alle schuld.
Die Politiker in Deutschland schieben Digitalisierung und Schaffen einer Infrastruktur dafür seit Jahrzehnten vor sich her. Sie sprechen von ‘Neuland’, sie lassen sich billige, aber veraltete Technik als fortschrittich aufschwatzen, machen lieber Angst als mit. Daher gibt es statt breitbandiger Glasfaser, Kupferkabel mit Vectoring. Statt schneller Netze, die auch eine hohe Datenlast aushalten, wird darüber nachgedacht, Streaming-Dienst zu beschränken.
Nur wenige Unternehmen haben sich auf Nichtpräsenz vorbereitet. Die Mitarbeiter haben keine tragbaren Computer, vielleicht nicht einmal Dienst-Smartphones. Schulen und Universitäten dürfen noch immer jeden Overheadprojektor als technisches Wunderwerk feiern. Viele Lehrer lehnen digitale Lehre ab.6 Von Eltern nicht zu reden. Immer noch gibt es kleine Geschäfte, die auf einen Webauftritt verzichten, die keine Online-Bestellung Lieferservice bieten.
Es ist soweit.
Wir müssen uns Gedanken darüber machen, wie wir in Zukunft leben wollen. Wie handeln, wie lehren und lernen. Wir dürfen neue oder uns unangenehme technische Formen sozialer Interaktion nicht mehr einfach ablehnen. Eine Unterhaltung per WhatsApp auf dem Smartphone ist nicht schlechter als eine Unterhaltung, bei der die Gesprächspartner Spucke austauschen.
Smartphones und Computer sind Werkzeuge, die uns helfen, andere kennenzulernen, in den Austausch mit vielen Menschen zu treten. Sie können uns helfen zu lernen, zu haneldn, zu arbeiten. Sie sind nicht per se schlecht. Sie sind, was wir draus machen.7
Für BWL, die uns seit vierzig Jahren etwas von ‘Disruption’ und ‘Umstrukturierung’ erzählen und oft nur Kostensenkung meinen, müssten doch jetzt feiern. Wir haben eine echte Disruption, die sich auf viele, wenn nicht alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereiche auswirkt. Wir haben die Möglichkeit, Arbeitsabläufe zu ändern und nötige Infrastruktur für die Zukunft im Kleinen wie im Grossen zu schaffen.
Kostet Geld, ja. Macht uns aber flexibler. Erschliesst uns die Zukunft. Wir sind doch so innovativ. Wir sind doch Macher. Wir schaffen!