• Von Dierk Haasis
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Corona, Teil 1: Halt die Kurve flach

Eine Kurve am Spadenländer Deich

‘Es braucht noch. Es wird viel schlimmer. Stellt euch auf einen langen Sitz zuhause ein.’

‘Mag ja alles schlimm aussehen im Moment, aber bald ist alles vorbei. Es muss ja auch das normale Leben weitergehen.’

Das scheinen im Augenblick die beiden Positionen zur SARS-Cov2- Pandemie zu sein. Wir finden sie nicht bloss auf Twitter, das bekanntlich in Deutschland bestenfalls von oben herab belächelt wird. Auch Regierungen schwanken zwischen beiden Vorhersagen.

Politiker in der Zwickmühle

Boris Johnson fand es am Anfang gut, einmal das UK durchzuseuchen, damit alles schnell vorbei ist. Ist eh alles nur eine Erkältung, höchstens eine Grippe. Heute liegt er im Krankenhaus mit einem mindestens mittelschweren Fall Corona. Die deutsche Regierung unter Angela Merkel schien früh von einer gemässigten Selbstisolation überzeugt. Eine Politik, die sich weitgehend durchgesetzt hat. Einige gehen noch schärfer ran. Selbst in den USA und Skandinavien schlägt man jetzt eher diese Richtung ein.

In Diskussion um Wohl und Wehe, um die Frage, was denn nun der richtige Weg sei, geht es hin und her, hoch und runter, rechts und links, alles querbeet. Youtuber und Blogger aus aller Welt versuchen, klare Sicht zu machen oder ihre ganz persönlichen Erfahrungen für andere aufzubereiten. Jeder macht das Beste draus.

Kurvendiskussion

Ich mag z.B. Numberphiles The Corona Curve, in dem einfach verständlich die mathematische Grundlage des Flatten-the-Curve-Mantras erläutert wird. Wie im Video gesagt, sind die Ausgangszahlen fiktiv. Mediziner könnten wiederum die korrekten Masszahlen beibringen. Soziologen dann erklären, warum die Abflachung der Kurve gesellschaftlich vonnöten ist.  Jedes Fachgebiet trägt am Ende dazu bei, Verständnis zu erhöhen.

Eine Kurve am Spadenländer Deich

Beide Kurven führen gesellschaftliche Probleme mit sich. Liegt die Spitze der Kurve hoch wäre die vorhanden medizinische Infrastruktur schlicht überfordert. Übrigens nicht nur, weil wir die letzten Jahre ‘kaputtgespart’ haben. Nur wenige, eher kleinteilige Systeme sind jemals auf den unwahrscheinlichen Ernstfall eingerichtet.

Selbstverständlich gibt es Pandemiepläne. Wir haben ja auch Erfahrungen mit anderen Krankheitserregeren, die gerne epidemisch auftreten, von Schweinegrippe über SARS bis Ebola. Das Problem an SARS-Cov2 bleibt allerdings die schnelle Verbreitung, da Infizierte über einen langen Zeitraum anstecken, ohne Symptome zu zeigen. Bei Ebola sieht das deutlich anders aus.

Schauen wir uns einmal an, was denn so die Auswirkungen der Kurven sein werden.

Durchgespielt

Im ersten Fall gibt es keine grösseren Beschränkungen. Man lässt die Leute anstecken. Fast jeder kann so seinem gewohnten, bequemen Leben nachgehen. Bis auf diejenigen, die symptomatisch krank werden, also nicht nur infiziert sind, mit einem leichten Kratzen im Hals, sondern schwerkrank ins Krankenhaus müssen. Die notwendige Behandlung dauerte – soweit mir bekannt – etwa 14 Tage. Gehen wir davon aus, dass eine überstandene Infektion zur Immunität führt.

In diesem Szenario kommen sehr viel Menschen zusätzlich zum Üblichen ins Krankenhaus. Vor allem in die Intensivstationen. Nach bisherigem Wissensstand sterben nicht wenige Coronapatienten; besonders betroffen Risikogruppen mit schwächerem Immunsystem: Bereits anders erkrankte Menschen wie Asthmatiker, Ältere, Transplantationspatienten, Krebspatienten, sonstwie immunsuppressierte.

Oder wie Anhänger einer Spencer’schen Auslegung der Evolutionstheorie sagen: Es trifft vor allem wirtschaftlich minderleistende.

Auch ‘ne Ethik. Keine, die ein anständiger Mensch vertreten sollte.

Gleichzeitig würde in diesem Szenario das Gesundheitssystem kollabieren. Es gibt nicht genug Ärzte, Pflegepersonal, Betten, Beatmungsgeräte. Was zu noch mehr Toten führt.

Vorteil dieses Szenarios wäre die schnelle Immunisierung der Menschen im Land.

Szenario 2 ist das von der Bundes- und den Landesregierungen im Moment durchgeführte. Die Ansteckungsrate so weit wie möglich drücken. So wenig Menschen wie möglich krank. Das Gesundheitssystem arbeitsfähig halten. Dies mit möglichst geringen Beschränkungen erreichen.

Nachteil dieser Methode: Es dauert länger. Wir gewinnen zwar Zeit, aber keine Herdenimmunität. Im Grunde müssen die Beschränkungen so lange beibehalten werden, bis ein Impfstoff gefunden und in Massen hergestellt sowie verteilt werden kann. Eine logistische Aufgabe, die nicht zu unterschätzen ist.

Schützen oder Tee trinken?

Politik, d.h. vor allem die Exekutive muss auf Basis von Fakten, die möglichst in Zahlen fassbar sind, agieren. In normalen Zeiten kein Problem, obwohl ausgerechnet in diesen gern populistisch, nach angeblichem Gefühl vorgeblicher Wähler vorgegangen wird.

Doch in Katastrophenzeiten funktioniert der Ruf ‘abwarten, bis wir konkrete Zahlen haben!’ nicht. Eine neue, pandemisch sich verbreitende Krankheit, ist halt nur auf Basis früherer, anderer Erkrankungen modellierbar. Solche Modelle sind zum einen aber keine Fakten, sondern gaukeln durch mehr oder weniger präzise Zahlen vor, greifbar zu sein. Menschen neigen nun einmal dazu Zahlen = Wissenschaft = Wahrheit zu setzen.

Zum anderen basieren Sie auf vergangenen Beobachtungen, die mglw. gar nicht übertragbar sind. Ein Problem, mit dem sich bereits David Hume herumschlug.

Stellen Sie sich einen kriegerischen Angriff vor: Es werden Bomben auf, sagen wir, Hamburg geworfen. Wir können aber noch nicht ausmachen, wieviele Bomben. Tun wir dann nichts? Warten wir ab, bis wir verlässliche Zahlen haben? Oder sehen wir zu, erst einmal die Menschen zu schützen, so gut wir eben können?

Fortsetzung folgt: Teil 2.

Nach dem Abitur habe ich an der Universität Hamburg Anglistik, Amerikanistik, Soziologie und Philosophie studiert. Den Magister Artium machte ich 1992/93, danach arbeitete ich an meiner Promotion, die ich aus verschiedenen Gründen aufsteckte. Ich beschäftige mich meist mit drei Aspekten der Literatur: - soziologisch [Was erzählt uns der Text über die Gesellschaft] - technisch [Wie funktioniert so ein Text eigentlich] - praktisch [Wie bringen wir Bedeutung zum Leser] Aber auch theoretische Themen liegen mir nicht fern, z.B. die Frage, inwieweit literarische Texte außerhalb von Literatur- und Kunstgeschichte verständlich sein müssen. Oder simpler: Für wen schreiben Autoren eigentlich?