Vergessene Pionierin der Quantenphysik – Die Mathematikerin und Philosophin Grete Hermann

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Grenzgänge in den heutigen Wissenschaften
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Wer sich näher mit der Entwicklung der Quantentheorie beschäftigt, wird schnell den Eindruck gewinnen, bei den Pionieren der modernen Physik handele es sich um einen reinen Männerclub: Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr, Erwin Schrödinger, Werner Heisenberg, Wolfgang Pauli, Max Born, Paul Dirac, Enrico Fermi, später Richard Feynman oder Freeman Dyson, um nur die bekanntesten von ihnen zu nennen. Die ganze moderne Physik ist von Männern besetzt. Die ganze moderne Physik? Nein, eine einzige Frau schaffte es, die Männerbesatzung zu durchbrechen: Grete Hermann. „Grete wer?“ werden die meisten Leser fragen. Tatsächlich ist Grete Herman selbst den meisten Physikern heute gänzlich unbekannt. Doch es lohnt sich, dem Wirken dieser beeindruckenden Frau ein wenig nachzugehen. Denn mit ihr eröffnen sich faszinierende Perspektiven auf die Gedanken der Pionier der Quantentheorie. Dazu ist Grete Hermann mit ihrem philosophischen und politischen Engagement ein grossartiges Beispiel für das gesellschaftliche Wirken einer tiefen Denkerin.

Die Entwicklung der Quantentheorie war einer der bedeutendsten intellektuellen Herausforderungen des 20. Jahrhunderts. Sie stellte Jahrtausende alte philosophische Paradigmen und Annahmen in Frage. Im Jahr 1932 schienen sich die Wogen der Auseinandersetzung um ihre Deutung etwas gelegt zu haben. Der grosse Mathematiker John von Neumann hatte einen mathematischen Beweis vorgelegt, wonach es in der Quantenphysik keine so genannten „verborgenen Variablen geben kann. Was wie eine esoterische Randfrage für Mathematiker klingt, behandelte eines der Grundprobleme in der Deutung der Quantentheorie bis heute: Wie verhält es sich in der Quantenwelt mit der Realität? Gibt es überhaupt eine objektive physikalische Wirklichkeit im Mikrokosmos, in der Ereignisse deterministisch ablaufen, wie wir das in unserer Welt kennen, und in der der lokale Charakter der Physik (es gibt keine instantane Fernwirkung, d.h. nur raum-zeitlich benachbarte Ereignisse können aufeinander wirken) aufrecht erhalten bleibt? Dies waren genau die Punkte, die in der Quantentheorie hinterfragt worden waren. Und das ganz zum Leidwesen insbesondere Albert Einsteins, dessen Auseinandersetzungen mit seinem Kollegen Niels Bohr um die Deutung der neuen Quantenphysik zu den bedeutendsten philosophischen Diskussion des 20. Jahrhunderts zählten, und in denen Einstein sich zunächst geschlagen geben musste. Doch 1935 nahm er den intellektuellen Kampf noch einmal auf und veröffentlichten mit zwei seiner Kollegen das so genannte „EPR-Paradoxon“, mit dem er die vorherrschende Deutung der Quantentheorie, wonach es keine objektive Realität im Mikrokosmos geben sollte (die „Kopenhagener Deutung“, vertreten hauptsächlich durch Bohr und Heisenberg), mit einem sehr trickreichen Gedankenexperiment noch einmal herausforderte. Dies wiederum brachte Erwin Schrödinger, den anderen Skeptiker der Kopenhagener Deutung, dazu, im gleichen Jahr das wohl bekannteste Gedankenexperiment der modernen Physik zu formulieren: die berühmte „Schrödinger’sche Katze“. Beide Aufsätze führten tief in das philosophische Herz der Quantenwelt. John von Neumanns Beweis sollte diese Diskussion mathematisch eindeutig im Sinne Bohrs und Heisenbergs klären. Und tatsächlich wurde die Kopenhagener Deutung trotz des heftigen Widerstandenen Einsteins und Schrödingers zur gängigen philosophischen Deutung der Quantentheorie, und dies in vielen Kreisen bis heute.

Doch der Beweis von Neumanns hatte ein Problem: Er war falsch. Genauer, es sollte sich herausstellen, dass der Mathematiker von sehr speziellen Voraussetzungen ausgegangen und sein Beweis somit nicht universell gültig war. Doch in den 1930er Jahren dem grossen John von Neumann in mathematischer Hinsicht zu widersprechen kam einer Häresie gleich. So nahmen die Physiker den Beweis nur allzu gefügig als gültig an. Erst 1966 zeigte John Bell, dass von Neumanns Argumentation zwar mathematisch korrekt, aber von unrealistischen physikalischen Annahmen ausgegangen war. Die bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, von Bohr über Heisenberg, Schrödinger bis Einstein waren mehr dreißig Jahre lang einer unzureichenden mathematischen Argumentation blind gefolgt!

Nur eine Person schaute genauer hin, und dies bereits 1935, auf dem zweiten Höhepunkt der Bohr-Einstein Debatte um die Deutung der Quantenwirklichkeit: Grete Herman. Dabei ging es ihr eigentlich um Philosophie: In ihrer Arbeit von 1935 Die naturphilosophischen Grundlagen der Quantenmechanik ging sie zunächst und in erster Linie der Frage nach, ob das Kausalitätsprinzip auch für atomare Prozesse aufrechterhalten werden kann, was die Quantentheorie in Frage stellte. Hermann folgte dabei der Argumentation Immanuel Kants und dessen kritischer Philosophie bzw. deren Fortentwicklung in der Tradition des Philosophen Jakob Friedrich Fries aus dem frühen 19. Jahrhundert. Ihre Entgegnung auf die Aussage der Quantentheoretiker, dass in der Mikrowelt Prozesse nur noch mit Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden können und daher eine strikte Kausalität hier nicht mehr gelte, war, dass die Quantentheorie doch nicht ausschliessen kann, dass es noch bisher unbekannte Bestimmungsvariablen geben könnte, die diese Vorgänge steuern , womit das Kausalitätsprinzip dann wieder gelte. Genau an dieser Stelle kam Von Neumanns Unmöglichkeitsbeweis ins Spiel, den er 1931 in seinem epochalen Buch Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik formuliert hatte: Sein Beweis sollte mit mathematischer Strenge und Exaktheit aufzeigen, dass die Quantentheorie qua ihrer mathematische Struktur solche „verborgenen Variablen“ generell ausschliesse. Dies wiederum lieferte den Quantenphysikern das argumentative Bollwerk, das ihre Kopenhagener Interpretation vor der Behauptung schützt, der Determinismus könne durch noch unbekannte Variablen wiederhergestellt werden. Und genau dieses Bollwerk wurde von Grete Hermann eingerissen, indem sie zeigte, dass die Voraussetzungen, auf denen von Neumanns Beweis beruhte, zu speziell sind, um für die physikalische Realität generell zu gelten.

Dennoch stellten in den folgenden 30 Jahren nur sehr wenige Wissenschaftler den Beweis in seiner Allgemeinheit und Anwendbarkeit in Frage. Einer, der nichtsdestotrotz an verborgenen Variablen festhielt (ohne von Neumanns Beweis als unvollständig entlarvt zu haben) war Albert Einstein. Nichtsdestotrotz und trotz der Einsichten Hermanns dauerte es bis 1966, bis die Physikergemeinde schliesslich anerkannte, dass aus von Neumanns Beweis nicht die Unmöglichkeit jeglicher verborgener physikalischer Variablen in der Quantenwelt folgt. Und wer John Bells Aufsatz von 1966 liest, muss feststellen, dass sich dessen Argumentation nicht wesentlich von der Hermanns unterscheidet. So schreibt Grete Hermann: „Von Neumann verlangt, dass für die Erwartungswertfunktion E(R), die für ein Ensemble physikalischer Systeme definiert ist und für jede physikalische Größe eine Zahl ergibt, gilt: E(R + S) = E(R) + E(S). In Worten: Der Erwartungswert einer Summe von physikalischen Größen ist gleich der Summe der Erwartungswerte beider Größen. Mit dieser Annahme besteht der Beweis von Neumanns oder er scheitert.“ John Bell seinerseits schreibt: „His [i.e. von Neumann’s] assumption is: Any linear combination of any two Hermitian operators represents an observable, and the same linear combination of expectation values of the combination. This is true for quantum mechanical states; it is required by von Neumann of the hypothetical dispersion free states also”. Diese Aussagen sind in mathematischer nahezu identisch. John Bell gelang es in seinem Aufsatz ein messbares Kriterium anzugeben, unter welchen Umständen verborgene Variablen in einer Quantentheorie auftreten können, die bekannte „Bell’sche Ungleichung“. So wurde der Kampf um die Deutung der Quantentheorie zuletzt, und dies  erst in den letzten Jahrzehnten, experimentell entschieden (zuerst 1982 durch ein Experiment von Alain Aspect. Tatsächlich gibt es keine verborgene Variablen im Mikrokosmos: die Bell’sche Ungleichung wird im Experiment verletzt.

Dass die Physiker Hermanns Einsichten nicht zur Kenntnis nahmen, ist insofern bedauerlich, als dass die Diskussion um verborgene Variable erst wieder in den 1960er und 1970er Jahren ernsthaft aufgenommen wurde. Und es ist das daraus entstandene genaue Verständnis der all dem zugrunde liegenden Quanteneigenschaft der Verschränkung, die heute zu sehr aufregenden Möglichkeiten ganz neuer Quantentechnologien führt (siehe dazu L. Jaeger, Die zweite Quantenrevolution, Springer (2018))! Wären Grete Hermans Einsichten doch nur breiter aufgenommen worden, wer weiss, wie viel schneller diese Entwicklung verlaufen wäre.

Doch warum wurde Hermans Arbeit derart ignoriert, während Bells Arbeit mehr als 30 Jahre später einen erneuten Aufschwung in der Untersuchung der grundlegenden Eigenschaften quantenmechanischer Systeme bewirkte? Wir finden hier ein Beispiel dafür, dass der Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften eben alles andere als immer linear und optimal verläuft, sondern voller Haken und Ösen ist. Hermann publizierte ihre Arbeit in einem eher unbedeutenden Verlag (Verlag Öffentliches Leben) und nur eine stark verkürzte Version in einem wissenschaftlichen Journal (Naturwissenschaften, Band 23, Ausgabe 42, S. 718-721 (1935)). Letztere enthielt die Widerlegung des von Neumann’schen Beweises gar nicht. Und auch in späteren Veröffentlichungen stellte sie ihre Kritik an dem Beweis nicht weiter heraus. Denn in ihrer Argumentation ging es ihr hauptsächlich um eine philosophische Erörterung, die ihrer Meinung nach durch das physikalische Wissen zwar „wertvolle Anregung und Befruchtung“ erhalten kann, aber sich in ihrem grundsätzlichen Fragen wie jene zur Kausalität nicht auf empirische Wissenschaften und ihre Theorien beziehen darf. Dazu kam, dass Hermanns Arbeit niemals aus dem Deutschen in andere Sprachen übersetzt wurde, was ein grosses Hindernis für spätere Wissenschaftler war. Für die nahezu allesamt deutschsprachigen Pioniere der Quantentheorie galt dies allerdings nicht. Es bleibt daher offen: Warum haben Bohr, Heisenberg und andere Grete Hermanns Arbeit nicht zur Kenntnis genommen? Heisenberg selbst widmete sogar ein ganzes Kapitel (das 10.) seiner berühmten Autobiographie Der Teil und das Ganze einer philosophischen Diskussion, die er mit Grete Hermann geführt hat. Jeglicher Bezug auf von Neumanns Beweis bleibt darin allerding unerwähnt. Nun, den Vertretern der orthodoxen Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik passte der von Neumann’sche Beweis eben auch wunderbar in den Kram. Auch die grössten Physiker lassen es zuweilen halt an Skepsis gegenüber ihrer eigenen Auffassung gegenüber vermissen.

Grete Hermann zog aus ihren philosophischen Studien und ihrer gedanklichen Nähe zu Kantischen Philosophie auch sehr praktische bzw. politische Konsequenzen: So bekämpfte sie aktiv den Nationalsozialismus. In ihren philosophischen Seminaren bot sie Argumentation für den Sinn des Widerstandes gegen das NS-Regime. Zudem engagierte sie sich als Redakteurin einer Zeitschrift gegen Hitler. Daher musste sie auch 1936 aus Deutschland fliehen, zuerst nach Dänemark, dann über Paris nach London, wo sie weiter im Widerstand gegen das Nazi-Regime tätig war. Nach dem Krieg kehrte sie nach Deutschland zurück und begann eine politische Karriere in der SPD. Sie arbeite zusammen mit Willi Eichler am Godesberger Programm ihrer Partei von 1959. Die darin vollzogene „Entideologisierung“ der SPD hin zu einer Begründung sozialdemokratischer Politik durch Werte und ethische Erwägungen geht nicht zuletzt auch auf die Vermittlung philosophischer Gedanken Grete Hermanns zurück. Leider war dieser vielseiteigen Frau keine Gelegenheit mehr gegeben, ihre mathematischen und physikalischen Studien wieder aufzunehmen. So bleibt ihr beeindruckendes Werk heute bedauerlicherweise weitestgehend unbekannt.

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Jahrgang 1969 habe ich in den 1990er Jahren Physik und Philosophie an der Universität Bonn und der École Polytechnique in Paris studiert, bevor ich am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden im Bereich theoretischer Physik promoviert und dort auch im Rahmen von Post-Doc-Studien weiter auf dem Gebiet der nichtlinearen Dynamik geforscht habe. Vorher hatte ich auch auf dem Gebiet der Quantenfeldtheorien und Teilchenphysik gearbeitet. Unterdessen lebe ich seit nahezu 20 Jahren in der Schweiz. Seit zahlreichen Jahren beschäftigte ich mich mit Grenzfragen der modernen (sowie historischen) Wissenschaften. In meinen Büchern, Blogs und Artikeln konzentriere ich mich auf die Themen Naturwissenschaft, Philosophie und Spiritualität, insbesondere auf die Geschichte der Naturwissenschaft, ihrem Verhältnis zu spirituellen Traditionen und ihrem Einfluss auf die moderne Gesellschaft. In der Vergangenheit habe ich zudem zu Investment-Themen (Alternative Investments) geschrieben. Meine beiden Bücher „Naturwissenschaft: Eine Biographie“ und „Wissenschaft und Spiritualität“ erschienen im Springer Spektrum Verlag 2015 und 2016. Meinen Blog führe ich seit 2014 auch unter www.larsjaeger.ch.

2 Kommentare

  1. Ihre Entgegnung auf die Aussage der Quantentheoretiker, dass in der Mikrowelt Prozesse nur noch mit Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden können und daher eine strikte Kausalität hier nicht mehr gelte, war, dass die Quantentheorie doch nicht ausschliessen kann, dass es noch bisher unbekannte Bestimmungsvariablen geben könnte, die diese Vorgänge steuern , womit das Kausalitätsprinzip dann wieder gelte. Genau an dieser Stelle kam Von Neumanns Unmöglichkeitsbeweis ins Spiel, den er 1931 in seinem epochalen Buch Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik formuliert hatte: Sein Beweis sollte mit mathematischer Strenge und Exaktheit aufzeigen, dass die Quantentheorie qua ihrer mathematische Struktur solche „verborgenen Variablen“ generell ausschliesse. Dies wiederum lieferte den Quantenphysikern das argumentative Bollwerk, das ihre Kopenhagener Interpretation vor der Behauptung schützt, der Determinismus könne durch noch unbekannte Variablen wiederhergestellt werden. Und genau dieses Bollwerk wurde von Grete Hermann eingerissen, indem sie zeigte, dass die Voraussetzungen, auf denen von Neumanns Beweis beruhte, zu speziell sind, um für die physikalische Realität generell zu gelten.

    Philosophisch betrachtet kann die metaphysische Annahme, die besagt, dass es keine ‘verborgenen Variablen (oder Funktionen)’ geben könne, die sog. Spukeffekte erklärt. die sog. Verschränkung meinend, nicht widerlegt werden, physikalisch erst recht nicht.
    Allerdings auch die gegensätzliche Annahme nicht.

    Hiermit hat sich Dr. W beschäftigt.
    Vgl. mit dem sog. GHZ-Experiment.

    Wer Unbestimmtheit fordert, kann Bestimmtheit nicht ausschließen, rein logisch nicht.

    MFG
    Dr. Webbaer

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