Emmy Noether – Ihr steiniger Weg an die Weltspitze der Mathematik

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Grenzgänge in den heutigen Wissenschaften
Beobachtungen der Wissenschaft

(Vorwort und Nachwort zu Lars Jaegers neuem Buch über Emmy Noether; https://www.lovelybooks.de/autor/Lars-Jaeger/Emmy-Noether-Ihr-steiniger-Weg-an-die-Weltspitze-der-Mathematik-4828335597-w/)

 

Warum existiert eigentlich kein Nobelpreis für Mathematik? Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten. Eine verbreitete, aber unbestätigte Anekdote erzählt, dass bei der Vergabe der Preise in Stockholm nur deshalb keine Mathematiker auf der Bühne stehen, weil einmal Alfred Nobels Herzensdame einem schwedischen Mathematiker den Vorzug gegeben hatte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Nobel die Bedeutung der Mathematik schlichtweg unterschätzte. Nach seinem Willen werden jedes Jahr jene Wissenschaftler ausgezeichnet (erstmals 1901), die der Menschheit einen besonders grossen Nutzen beschert haben. Die Mathematik schien Nobel wohl nur wenig nützlich in der direkten Anwendung zu sein.

Zwanzig, dreissig Jahre später hätte er wohl ganz anders gedacht. Denn die Mathematik hatte sich als Fundament aller Wissenschaften etabliert. Sie war die Wegbereiterin einer völlig neuen Physik, lieferte die Statistik der neuen Gentheorie in der Biologie und bestimmte die Arbeitsgänge in den chemischen Laboren. Doch bevor sie diese Macht entfalten konnte, musste sie die tiefste Krise seit Menschengedenken überwinden. Die Gelehrten des 19. Jahrhunderts stiessen auf innere Widersprüche, die das gesamte, als absolut sicher geglaubte Grundgerüst der Mathematik in Frage stellten. Dieses Schicksal teilte die Mathematik mit der Physik, der Chemie und der Biologie, denn in den Jahrzehnten um 1900 verloren in einem weltgeschichtlich einmaligen Prozess ausnahmslos alle Naturwissenschaften den Boden unter ihren Füssen und mussten sich – jede für sich – von Grund auf neu erfinden.

Emmy Noether ist eine der zentralen Figuren in dieser kompletten Neuausrichtung der Mathematik. Ihre Leistungen stehen zumindest gleichberechtigt neben denen der berühmtesten Mathematiker des 20. Jahrhunderts: David Hilbert und John von Neumann. Da sie die Einführung der höheren Abstraktion entscheidend vorantrieb, ist Emmy Noether in der Mathematik sogar eine der einflussreichsten Personen aller Zeiten. Geradezu nebenbei löste sie auch ein zentrales Problem der modernen Physik und machte so den Weg frei für das heutige Verständnis der Quantentheorie: Das „Noether-Theorem“ ist eines der bedeutendsten, wenn nicht gar das führende Prinzip der theoretischen Physik.

Dass ihr Name trotz ihrer überragenden Bedeutung bis heute praktisch unbekannt ist, liegt vor allem an einem Umstand: Emmy Noether war eine Frau. Unter grossen Mühen musste sie sich einen Platz an der Universität erkämpfen, erst als Studentin, dann als wissenschaftliche Mitarbeiterin und ausserordentliche Professorin im damaligen Weltzentrum der Mathematik: Göttingen. Weil es für ihre männlichen Kollegen unvorstellbar war, dass eine Frau die Mathematik bis in ihre Tiefen durchdringen könnte, ergab sich eine merkwürdige Diskrepanz zwischen der Bewunderung für Emmy Noethers Leistungen und der Unfähigkeit, einer Frau dieselben Möglichkeiten zuzugestehen wie jedem anderen auch. Denn Emmy Noethers Leistungen waren unbestreitbar und wurden auch von jenen, die den universitären Betrieb am liebsten weiterhin rein in Männerhand gesehen hätten, nicht angezweifelt. Ab Ende der 1920er-Jahre war sie sogar in der Fachwelt weltberühmt und wurde mit höchsten Auszeichnungen bedacht. Doch auf der universitären Karriereleiter war Emmy Noether schon früh an die berühmte gläserne Decke gestossen: Männer mit geringeren mathematischen Fähigkeiten wurden mit attraktiven Positionen belohnt und verdienten genug Geld, um eine Familie zu ernähren. Diese Art der Anerkennung wurde Emmy Noether in Deutschland bis zum Ende vorenthalten. Erst in den letzten beiden Jahren ihres kurzen Lebens, in der Emigration in den USA, wurde der inzwischen weltberühmten Mathematikerin ein nennenswertes Gehalt zugesprochen.

Nach ihrem frühen Tod 1935 lebte Emmy Noethers Mathematik weiter, ihre Erkenntnisse haben die Mathematik revolutioniert und gehören heute zu den Grundlagen aller naturwissenschaftlichen Bereiche. Doch ihre Person geriet in Vergessenheit. Nur wenige Biografen nahmen sich ihrer Geschichte an, darunter Auguste Dick, Cordula Tollmien, Mechthild Koreuber und Peter Roquette.

Erst in den letzten Jahren erinnert man sich in weiteren Kreisen an den von Entbehrungen und Zurücksetzungen gekennzeichneten Lebensweg Emmy Noethers. Eine Reihe von Stipendien und anderen Fördermassnahmen wurde in ihrem Namen auf den Weg gebracht, um die wissenschaftliche Karriere von Frauen zu unterstützen. Emmy Noether hätte dies bestimmt gefallen.

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Ihre tiefen, heute zentralen mathematischen Einsichten und ihr nicht weniger tiefes physikalisches Noether-Theorem machten Emmy Noether zu einem der historisch raren Menschen, deren Arbeiten sowohl für die (theoretische) Physik als auch für die (reine) Mathematik derart bedeutend waren, dass sie als an der Spitze beider Disziplinen stehend angesehen werden muss. Emmy Noether würde heute ohne Frage die beiden höchsten Auszeichnungen dieser Disziplinen verdienen: den Physik-Nobelpreis und die Fields-Medaille.

Bis in die Gegenwart gibt es niemanden, der beide Preise erhielt, nur ein Physiker wurde ausgezeichnet mit der Fields-Medaille, dafür aber nicht mit dem Nobelpreis: Edward Witten, 1990. Die Fields-Medaille wird seit 1936 vergeben und hat eine Altersgrenze von vierzig Jahren. Letztere hätte gerade so gereicht für Emmy Noether, war sie bei der Publikation ihres bekanntesten (mathematischen) Aufsatzes im Jahre 1921 doch erst neununddreissig Jahre alt. Den Nobelpreis für Physik gibt es bereits seit 1901. Diesen hätte Emmy Noether mehr als verdient, doch wurde der Wert ihrer Arbeit von 1918 erst weit nach ihrem Tod als fundamental bedeutend erkannt.

Auch jenseits ihrer mathematischen Brillanz war Emmy Noether in ihrer Persönlichkeit, ihrer Einstellung und ihrem menschlich faszinierenden, warmherzigen Verhalten anderen gegenüber ein grosses Idol. Sie hatte vor allem nicht den Ehrgeiz, immer im Vordergrund stehen zu wollen, wie das bei Männern auch in der Mathematik oft der Fall ist.

Noch heute kann Emmy Noether für viele Mädchen und Frauen als grosses Vorbild angesehen werden: wegen ihrer Kraft, das Gegenteil von dem zu tun, was die Gesellschaft damals von ihr als Frau erwartete; wegen ihrer inneren Stärke, gegen so manchen männlichen Widerstand ihrem Ziel zu folgen, und dies in einer Zeit, in der Frauen gegenüber Männern noch als intellektuell minderwertig angesehen wurden; auch wegen ihrer Energie und Durchsetzungskraft; wegen ihrer Selbstgewissheit und ihres Glaubens an ihre Bestimmung; wegen ihrer Entschlossenheit, mutig ihren eigenen Weg zu gehen; nicht zuletzt wegen ihrer Warmherzigkeit allen Menschen, selbst potenziellen Feinden, gegenüber.

Bis zu einer ersten deutschen ordentlichen Professorin für Mathematik an einer Universität dauerte es, wie wir sahen, dann noch einmal zweiundzwanzig Jahre nach Emmy Noethers Tod: Ruth Moufang war nach Emmy Noether die erst dritte deutsche Frau, die eine Habilitation erreichte. Doch waren Frauen selbst in den 1960er-Jahren als Professorinnen ganz allgemein noch nicht richtig anerkannt. Ein beschämendes Beispiel hierfür war, dass Ruth Moufang während der alljährlichen Tagung von Nobelpreisträgern in Lindau als offizielle Delegierte des Rektors der Frankfurter Universität nicht am wissenschaftlichen Programm teilnehmen durfte, sondern nur am sogenannten „Damenprogramm“.

Heute gibt es zahlreiche Professorinnen für Mathematik weltweit. Emmy Noether überragt die allermeisten von ihnen allerdings wohl immer noch: In einer Darstellung auf der Weltausstellung 1964, die die bedeutenden Mathematiker der modernen Welt abbildete und beschrieb, war sie die einzige Frau. Würde eine Frau in einer heutigen Weltausstellung dazustossen? Kaum – ausser vermutlich die 2017 mit vierzig Jahren verstorbene Maryam Mirzakhani, die eine von bisher einzige nur zwei Gewinnerinnen der Fields-Medaille (die zweite sehr kürzlich, im Jahr 2022).

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www.larsjaeger.ch

Jahrgang 1969 habe ich in den 1990er Jahren Physik und Philosophie an der Universität Bonn und der École Polytechnique in Paris studiert, bevor ich am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden im Bereich theoretischer Physik promoviert und dort auch im Rahmen von Post-Doc-Studien weiter auf dem Gebiet der nichtlinearen Dynamik geforscht habe. Vorher hatte ich auch auf dem Gebiet der Quantenfeldtheorien und Teilchenphysik gearbeitet. Unterdessen lebe ich seit nahezu 20 Jahren in der Schweiz. Seit zahlreichen Jahren beschäftigte ich mich mit Grenzfragen der modernen (sowie historischen) Wissenschaften. In meinen Büchern, Blogs und Artikeln konzentriere ich mich auf die Themen Naturwissenschaft, Philosophie und Spiritualität, insbesondere auf die Geschichte der Naturwissenschaft, ihrem Verhältnis zu spirituellen Traditionen und ihrem Einfluss auf die moderne Gesellschaft. In der Vergangenheit habe ich zudem zu Investment-Themen (Alternative Investments) geschrieben. Meine beiden Bücher „Naturwissenschaft: Eine Biographie“ und „Wissenschaft und Spiritualität“ erschienen im Springer Spektrum Verlag 2015 und 2016. Meinen Blog führe ich seit 2014 auch unter www.larsjaeger.ch.

7 Kommentare

  1. “Dass ihr Name trotz ihrer überragenden Bedeutung bis heute praktisch unbekannt ist, liegt vor allem an einem Umstand: Emmy Noether war eine Frau.” Der Punkt ist doch wohl eher, dass die Bedeutung ihrer Arbeiten dem breiten Publikum (und übrigens auch den meisten Naturwissenschaftlern) kaum zu erklären ist. Alexander Grothendieck, der vielleicht nach ihr bedeutendste Algebraiker, hat dasselbe Problem, den kennen eher noch weniger Leute als Noether.

    Übrigens hat sie das “Noether-Theorem” der Physik nicht nebenbei gefunden, sondern 1918 bevor sie mit den mathematischen Arbeiten begann, für die sie heute bekannt ist. Tatsächlich waren ihre Arbeiten in Erlangen eher noch im Stil Gordans, also auf Berechnungen gerichtet, und ihr auf Abstraktion gerichteter revolutionärer Zugang zur Mathematik entwickelte sich erst ab 1920.

  2. Emmy Noether: Jüdin und Deutsche
    Frauen waren zur Zeit Emmy Noethers auf ein paar Frauenberufe beschränkt und Wissenschaftsberufe gehörten nicht dazu, wohl weil für die damaligen Zeitgenossen Frauen als angeblich schwaches Geschlecht sowohl über einen schwachen Körper als auch einen schwachen Geist verfügen sollten.
    Klar war diese Einschätzung der Frau der damaligen patriarchalen Gesellschaft zu verdanken und damit einer bestimmten Kultur, die das damalige Denken und die damaligen Handlungsoptionen jedes Individuums bestimmten.

    Doch Emmy Noether war nicht nur Frau und Mathematikerin, sie war auch Jüdin und Deutsche. Und das war wohl der Grund, dass für sie bis zu einem gewissen Grad eine Ausnahme gemacht wurde und sie ausserordentliche Professorin in Deutschland werden konnte. Denn Deutschland war damals die führende Wissenschaftsnation und es war schon damals wichtiger ein guter Wissenschaftler, eine gute Wissenschaftlerin zu sein als dem richtigen Geschlecht anzugehören.

    Nicht nur Emmy Noether erhielt damals eine Anstellung an einer deutschen Universität obwohl sie eine Frau war. Auch Edith Stein (Philosophin) und Hannah Arendt (Philosophin) waren Frauen, Deutsche und Wissenschaftlerinnen. Und ja, alle drei waren auch Jüdinnen. Auch das war mit ein Grund für ihren für die damalige Zeit aussergewöhnliche Karriere. Denn im Judentum hatten schon damals Individualismus und Bildung einen hohen Stellenwert und kulturelle Unterstützung im Judentum [Zitat Wikipedia: Emmys Familie gehörte zum liberalen Judentum, für das es selbstverständlich war, auch Töchtern eine gute Ausbildung zu verschaffen]. Und wohl nicht zufällig starben zwei von ihnen, Emmy Noether und Hannah Arendt nämlich, im Exil in den USA. Denn die Nazis gingen schon früh gegen Juden und erst recht jüdische Frauen vor und zudem waren die USA schon damals ein Anziehungspunkt für Wissenschaftler egal woher sie kamen.

    Nur Edith Stein, nicht aber Emmy Noether und Hannah Arendt, starb im KZ. Denn Edith Stein siedelte 1933 nicht in die USA um, sondern in die Niederlande. Und anstatt Wissenschaftlerin zu bleiben wurde sie – nach Konversion zum Katholizismus – karmelitische Nonne. Gerade die Konversion war mit ein Grund für ihre Verhaftung und Eliminierung im KZ Auschwitz.

    Emmy Noethers Habilitationsversuch wurde durch David Hilbert (den damals führenden deutschen und europäischen Mathematiker) unterstützt und Emmy Noether erhielt 1932 zusammen mit Emil Artin sogar den Ackermann-Teubner-Gedächtnispreis [entspricht der heutigen Fields.Medaille] für ihre gesamten wissenschaftlichen Leistungen.

    Edith Steins und Hannah Arendts damaliger Kollege und von beiden bewunderter Philosoph Martin Heidegger dagegen setzte sich nicht für Juden und Frauen ein. Er war ja selbst ein Nazi.

  3. Leider bleibt Noether’s Theorem auch heute oft unerwähnt. Im Physikstudium ist es mir nicht begegnet, und auch in neuesten Büchern wie dem von Sabine Hossenfelder “Lost in Math” bleibt es unerwähnt. Im letzten Fall ist es besonders unverständlich, weil sich Frau Hossenfelder über die Suche der Physiker nach Symmetrien aufregt.

    • Das verwundert doch sehr. Wann haben Sie denn Physik studiert? Das Noether-Theorem ist schließlich spätestens dann verzichtbar, wenn man verstehen will, wieso die Quantentheorie so aussieht, wie sie aussieht. Man erhält doch gerade die Begründung für die Kommutatorregeln der selbstadjungierten Operatoren, die Observablen beschreiben, aus den Symmetrieprinzipien, also aus den Lie-Algebren der kontinuierlichen Raumzeit-Symmetrien (Galilei-Gruppe für die nichtrelativistische Poincare-Gruppe für die speziell-relativistische Physik).

      In meinem Studium (Diplom 1997) kam das 1. Noether-Theorem im Theorie-Zyklus bereits in “Theoretische Physik 1” vor, also bei der Behandlung der analytischen Mechanik im Lagrange- und Hamilton-Formalismus.

      Was leider nie erwähnt wurde, ist das 2. Noether-Theorem, das sich in moderner Sprechweise auf “lokale Symmetrien” bezieht und daher mindestens genauso wichtig ist für die moderne Physik, weil es eben für das Verständnis lokaler Eichsymmetrien unabdingbar ist. Noethers Paper von 1918 (“Invariante Variationsprobleme”) ist da schon vollständig und vor allem auch sehr klar, und viele moderne Lehrbücher fallen hinter diese Vollständigkeit und Klarheit leider zurück.

      Was mich immer gewundert hat, ist, daß Emmy Noethers Ausflug in die theoretische Physik doch relativ kurz war und sie sich meines Wissens nach nie mit Quantentheorie beschäftigt hat. Aus den og. Gründen wäre das doch die naheliegende Fortsetzung ihrer Anwendung der Invariantentheorie auf die theoretische Physik gewesen, zumal in Göttingen ja mit Born und Jordan die eher mathematisch orientierten “Gründungsväter” anwesend waren.

      Die Erklärung in dem schönen Buch von Herrn Jaeger ist, daß sie sich schlicht nicht weiter dafür interessiert und lieber die abstrakte Algebra begründet hat.

  4. “Würde eine Frau in einer heutigen Weltausstellung dazustossen? Kaum”

    Warum eigentlich? Die ganzen Hürden, die Frau Noether überwinden musste, gibt es doch schon lange nicht mehr.

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