Der nächste Schritt in der Entwicklung künstlichen Lebens

BLOG: Beobachtungen der Wissenschaft

Grenzgänge in den heutigen Wissenschaften
Beobachtungen der Wissenschaft

Als der umstrittene Gentechnik-Pionier Craig Venter im Jahr 2010 verkündete, dass er aus dem Bakterium Mycoplasma capricolum erstmals einen Organismus mit einem komplett künstlichen Genom geschaffen hatte, war das Medienecho überschaubar. Aber es war ein Meilenstein in der modernen Gentechnik (auch wenn wichtige Funktionen in den Zellen für das natürliche Leben erhalten geblieben waren). Eigentlich klang es ganz einfach: Es war gelungen, das komplette Genom aus einem Computerdatensatz zu synthetisieren und in eine bestehende Zelle zu transplantieren, der man die DNA entfernt hatte. Knapp vier Jahre später gelang es Jef Boeke, ein komplettes Chromosom der Hefe mit ein paar künstlichen Veränderungen zu rekonstruieren. Hefen sind so genannte Eukaryoten. Das Erbgut der Hefe ist wesentlich umfangreicher und komplizierter als das der Bakterien und Viren in Venters Studien. Auch der Mensch ist ein Eukaryot; im Grunde ist der Sprung vom Bakteriengenom zum Genom der Bäckerhefe größer als der vom Genom der Bäckerhefe zum menschlichen Genom. Die ersten Schritte zur künstlichen Erzeugung komplexerer Lebensformen waren also getan. So sprach Venter nach seinem Erfolg von einer neuen “digitalen Ära” in der Biologie, in der die DNA als “Software des Lebens” nach Belieben programmiert werden kann, um Mikroorganismen nach Bedarf zu erzeugen. Diese könnten genau gewünschte Aminosäuresequenzen, d.h. Proteine, produzieren, was z.B. die Herstellung neuer Medikamente ermöglichen würde, die bisher nur sehr schwer und teuer zu produzieren waren.

Der Ehrgeiz der Gentechniker geht aber noch weiter: Sie wollen nichts weniger als lernen, die Programmiersprache des Lebens zu nutzen, um bessere Genome herzustellen, als es die Natur getan hat. Dies könnte völlig neue Organismen ermöglichen, und zwar mit ganz konkreten Vorteilen: Neben Anwendungen in der Medizin hofft man auf Anwendungen in der Energieerzeugung (z.B. Elektrizität oder kohlenwasserstoffproduzierende Bakterien), dem Abbau von Ölverschmutzungen in den Weltmeeren, der Zersetzung von Plastik, dem CO2-“Essen” durch Bakterien, einer effizienteren Nahrungsmittelproduktion oder einer besseren Landwirtschaft.

Der nächste Schritt waren nun «echte» Tiere. Wie erwähnt, ist der Schritt von Hefen zu größeren Tieren nicht so groß, wie intuitiv angenommen. Doch das heisst nicht, dass dies alles so einfach ist. So gaben Wissenschaftler um Magdalena Zernicka-Goetz in Cambridge (UK) am 26. August 2022 nach mehr als 10 Jahren harter Arbeit bekannt, dass sie synthetische Mausembryonen ohne Ei- oder Samenzellen, sondern aus Stammzellen erzeugt haben – die Masterzellen des Körpers, die sich zu fast jedem Zelltyp im Körper entwickeln können[1]. Diese Arbeit könnte die Vorstellung davon, wie ein menschliches Wesen im Detail entsteht, entscheidend prägen. Auch wenn die Methode noch lange nicht perfekt ist (nur ein sehr kleiner Teil der synthetischen Embryonen wuchs wie gewünscht, und selbst das beste Ergebnis unterscheidet sich noch in wichtigen Details vom natürlichen Vorbild), so ermöglichte die Arbeit den Forschern dennoch, die Entwicklung von Organen bei einem Säugetier in noch nie dagewesener Detailgenauigkeit zu beobachten.

Konkret ahmten die Forscher die natürlichen Prozesse im Labor nach, indem sie die drei Arten von Stammzellen, die in der frühen Entwicklung von Säugetieren vorkommen und die drei frühen Gewebearten repräsentieren, in den richtigen Proportionen und in die richtigen Umgebungen lenkten, um ihr Wachstum zu fördern, und zwar bis zu dem Punkt, an dem sie zu kooperieren beginnen. Indem sie die Expression einer bestimmten Gruppe von Genen induzierten und ein einzigartiges Umfeld für ihre Interaktionen schufen, konnten die Forscher die Stammzellen tatsächlich dazu bringen, miteinander zu kommunizieren. Damit organisierten sich die Stammzellen selbst zu Strukturen, die die verschiedenen Entwicklungsstadien durchliefen, bis sie über ein schlagendes Herz und die Grundlagen des Gehirns sowie den Dottersack verfügten, aus dem sich der Embryo in den ersten Wochen entwickelt und mit Nährstoffen versorgt wird. Im Gegensatz zu anderen synthetischen Embryonen erreichten die in Cambridge entwickelten Modelle den Punkt, an dem sich das gesamte Gehirn zu entwickeln begann.

Geplant sind nun entsprechende Experimente und eine ebenso detaillierte Beobachtung des sehr frühen Stadiums mit menschlichen Stammzellen. Die Technik könnte eines Tages Experimente an lebenden Tieren in der entwicklungsbiologischen Forschung ersetzen oder zur Züchtung von Organen und Gewebe für die Transplantation in den Menschen verwendet werden. Spätestens dann sollte klar sein: Hier stellen sich ethische Fragen. In vielen Ländern sind Versuche an menschlichen Embryonen verboten, in vielen anderen (wie auch in England) gilt die so genannte 14-Tage-Regel, nach der Embryonen, die bei einer künstlichen Befruchtung übrig bleiben, nicht länger als zwei Wochen im Labor gezüchtet werden dürfen. Es ist jedoch unklar, ob und unter welchen Bedingungen menschliche synthetische Embryonen als Embryonen im rechtlichen Sinne gelten. Wann ist ein Embryo ein Embryo? Das bleibt eine offene Frage … bis jetzt.

[1] Magdalena Zernicka-Goetz et al., Stem cell-derived mouse embryos develop within an extra-embryonic yolk sac to form anterior brain regions and a beating heart, Nature (26. Aug. 2022)

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www.larsjaeger.ch

Jahrgang 1969 habe ich in den 1990er Jahren Physik und Philosophie an der Universität Bonn und der École Polytechnique in Paris studiert, bevor ich am Max-Planck-Institut für Physik komplexer Systeme in Dresden im Bereich theoretischer Physik promoviert und dort auch im Rahmen von Post-Doc-Studien weiter auf dem Gebiet der nichtlinearen Dynamik geforscht habe. Vorher hatte ich auch auf dem Gebiet der Quantenfeldtheorien und Teilchenphysik gearbeitet. Unterdessen lebe ich seit nahezu 20 Jahren in der Schweiz. Seit zahlreichen Jahren beschäftigte ich mich mit Grenzfragen der modernen (sowie historischen) Wissenschaften. In meinen Büchern, Blogs und Artikeln konzentriere ich mich auf die Themen Naturwissenschaft, Philosophie und Spiritualität, insbesondere auf die Geschichte der Naturwissenschaft, ihrem Verhältnis zu spirituellen Traditionen und ihrem Einfluss auf die moderne Gesellschaft. In der Vergangenheit habe ich zudem zu Investment-Themen (Alternative Investments) geschrieben. Meine beiden Bücher „Naturwissenschaft: Eine Biographie“ und „Wissenschaft und Spiritualität“ erschienen im Springer Spektrum Verlag 2015 und 2016. Meinen Blog führe ich seit 2014 auch unter www.larsjaeger.ch.

5 Kommentare

  1. Es wäre hilfreich zu verstehen wie sogenannte Zellen die hier gemeinte Lebensdatenhaltungen, DNA und RNA können als Datenhaltungen (vs. “Software”) verstanden werden, umsetzen, nicht wahr?
    Auch müssten Datenhaltungen semantisch sein, diese Semantik bleibt zu verstehen zu suchen, sog. Erfassung (bei Craig Venter wird hier von einigen und wie einige meinen, nicht immer ganz korrekt von “Entschlüsselung” geredet).
    MFG
    WB

  2. Die ethische Frage wurde sozusagen im voraus u.a. durch jene amerikanischen Staaten verschärft die eine Abtreibung ab schlagendem Herz verbieten. Darf ein im Labor “produzierter” Embryo dann nicht mehr zerstört werden, wenn die Zellstruktur des Herzens beginnt zu schlagen?

  3. @Hauptartikel

    „Sie wollen nichts weniger als lernen, die Programmiersprache des Lebens zu nutzen, um bessere Genome herzustellen, als es die Natur getan hat.“

    Was ja nun auch gefährlich werden könnte. Vermehrungsfähige Organismen, die sich in Habitaten etabliert haben, kann man nicht wieder zurückholen. Wenn man beispielsweise an Bakterien arbeitet, die Mikroplastik abbauen können, dann könnte dabei auch ein Bakterium herauskommen, dass PVC angreift und verstoffwechselt, und sich daran macht, sich global auszubreiten und sämtliche Isolierungen von Stromleitungen anzuknabbern.

    Andererseits sind natürlich die Verlockungen durchaus attraktiv. Wenn man Bakterien beibringt, tierisches Eiweiß und tierisches Fett zu produzieren, und als alleinige Energiequelle Wasserstoff zu verwerten, dann könnte man damit unbegrenzt Tierhaltung ersetzen und wäre dabei völlig unabhängig von Anbauflächen. Für Photovoltaik braucht man viel weniger Platz als für Photosynthese, weil Pflanzen vergleichsweise ineffektiv sind, und die Module kann man auch in der Wüste aufstellen. Und die Bakterienkulturen brauchen praktisch kein Wasser, nur CO2 und einige Nährstoffe.

    • Es stellen sich aus diesseitiger Sicht nicht nur ‘ethische Fragen’, i.p. CRISPR/Cas-Methode, sondern auch systematische Fragen.

      Wenn wie gemeint Funktionalität von Lebewesen, vgl. auch so – ‘So sprach Venter nach seinem Erfolg von einer neuen “digitalen Ära” in der Biologie, in der die DNA als “Software des Lebens” nach Belieben programmiert werden kann, um Mikroorganismen nach Bedarf zu erzeugen.’ – geändert werden soll, nicht nur der sog. Gen-Reis oder die Gen-Kartoffel.

      Seiteneffekte sind hier, bei höheren Lebewesen, bei Tieren inbesondere die Gefahr.
      Die so erblich würden.


      Daran, dass Mikroorganismen so besonders tauglich werden könnten, waffentauglich, glaubt Dr. Webbaer schon, aber insgesamt geht es im herkömmlich so anzustrebenden Wege um Nutzpflanzen.
      Daran würde sich Dr. Webbbaer gerne festhalten wollen, wenn es um
      die CRISPR/Cas-Methode geht.

      Mit freundlichen Grüßen
      Dr. Webbaer

  4. Hallo Herr Jeckenburger, Sie haben recht.
    Wirkungsgrad der Photosynthese: unter 2 Prozent.
    Wirkungsgrad der Solarzellen: über 20 Prozent.
    Wirkungsgrad der Elektrolyse: rund 70 Prozent.
    Eine gute Methode zur Herstellung von Einzellerprotein
    ist die Verwendung von Wasserstoff oxidierenden Bakterien,
    die Kohlenstoffdioxid und Stickstoff verarbeiten können
    (z. B.: bei Solar Foods und econutri).
    https://solarfoods.com/solein/
    https://econutri.com/

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