Prosopagnosie in der Literatur und bei Prominenten
Wenn Prosopagnosie (also die Unfähigkeit, einer Person ein Gesicht zuzuordnen) bei über zwei Prozent der Bevölkerung vorkommt, warum ist sie dann vor 2004 fast unbekannt gewesen? Sollte das Phänomen nicht irgendwo in Romanen oder Biographien erwähnt worden sein – unter anderem Namen vielleicht oder als persönliche Eigenheit? Und sollte es nicht auch Prominente geben, die darunter leiden? Sehen wir uns mal um.
Die Weltliteratur ist eine ziemlich umfangreiche Lektüre. Und es reicht natürlich nicht, nach Szenen zu suchen, in denen A seinen Freund B nicht gleich erkennt. Das kann schließlich alle möglichen Gründe haben. Andererseits scheint das Thema durchaus schon lange bekannt zu sein. Als ich an meiner Dissertation zu dem Thema schrieb, machten mich Freunde und Bekannte auf einige Texte aufmerksam, die damit zu tun haben könnten. Zum Beispiel dieses englische Volksmärchen aus einer Märchensammlung:
„Wie ich eines Tages die Straße entlangging, da sah ich diesen Kerl entgegenkommen und weißt du, ich hätte schwören können, er wars, und weißt du, er hätte schwören können, ich wars. Wir kamen einander näher, und ich war ganz sicher, er wars, und er war ganz sicher, ich wars. Wir kamen noch näher, und war verdammt sicher, er wars und er war vollkommen überzeugt, ich wars. Und weißt du was, wie wir nebeneinander stehen, da wars keiner von uns.“
Nun ja, man erkennt sich nicht immer richtig, und das hat offenbar schon zur Zeit der Entstehung dieses Märchens niemanden wirklich gewundert. Lassen wir es dabei, bevor wir uns noch in der absurden Logik der Erzählung verheddern.
Gehen wir noch etwas weiter zurück bis zu Homer: Odysseus kehrte nach zwanzig Jahren zurück nach Ithaka, der griechischen Insel, auf der er König gewesen war. Er galt seit mehrere Jahren als tot (schließlich hatte er schon viele Jahre nichts von sich hören lassen, und Facebook, Whatsapp oder Instagram waren noch nicht erfunden). Seine Königin Penelope musste sich der Avancen von Freiern erwehren, die gerne Thron und Weib erheiratet hätten. Die Göttin Athene verwandelte Odysseus äußere Erscheinung in die eines alten Bettlers. Man darf vermuten, dass sie nicht allzu viel Arbeit damit hatte, er muss ziemlich gealtert sein auf seiner langen Reise. So kam er (beinahe) unerkannt in den Palast, tötete alle Freier und nahm, Athene sei dank, seine wahre Gestalt wieder an. Aber seine Frau erkannte ihn nicht. Erst als er ihr eine Eigenschaft ihres Hochzeitsbetts beschrieb, die nur er kennen konnte, war sie überzeugt. Und sie lebten glücklich und zufrieden …
Litt Penelope unter Prosopagnosie, oder hatte sich Odysseus in den zwanzig Jahren einfach zu sehr verändert?
In jedem Fall erschien die Erzählung den Zuhörern oder Lesern in den letzten 2800 Jahren ausreichend plausibel. Die Erkennung von Gesichtern unter erschwerten Umständen war offenbar noch nie eine Selbstverständlichkeit.
Der folgende Auszug aus dem vierten Buch der Buchserie „Anne of the Green Gables“1 weist dagegen eindeutig auf Prosopagnosie. Ein Vater, dessen kleiner Sohn an einer Pneumonie starb, ist ungeheuer beglückt, dass ihm jemand ein Foto seines Sohns schenkt:
„Sie können nicht wissen, was das für mich bedeutet“, sagte er schließlich gebrochen. „Ich hatte kein Foto von ihm. Und ich bin nicht wie andere … Ich kann mir kein Gesicht merken … Ich sehe keine Gesichter vor meinem geistigen Auge, wie die meisten anderen Leute. Es war furchtbar, seit der Kleine Mann starb. Ich konnte mich einfach nicht erinnern, wie er ausgesehen hat.“2
Der Text stammt aus dem Jahr 1936, lange bevor das Wort „Prosopagnosie“ überhaupt erfunden worden war. Die Bloggerin qatheworld hat diesen Beitrag gefunden. Sie leidet selbst unter Prosopagnosie.
Prominente mit Prosopagnosie
Politiker müssen Kontakte pflegen, und dazu gehört unbedingt, dass sie immer wissen, wen sie vor sich haben. Je höher sie aufsteigen, desto genauer achtet ihre Umgebung darauf, wie sie andere Politiker oder ausländische Diplomaten begrüßen und behandeln. Freundlichkeit und Herzlichkeit sind auf Wirkung berechnet und haben eine Bedeutung. Muss jemand mit Prosopagnosie hier nicht schon im Ansatz scheitern?
Nein, muss er nicht. Zwei Beispiele: Robert Cecil, dritter Marquess von Salisbury war mit kurzen Unterbrechungen von 1885 bis 1902 britischer Premierminister. Er stammte aus uraltem britischen Adel. Mit vollem Namen hieß er: Robert Arthur Talbot Gascoyne-Cecil, 3rd Marquess of Salisbury, Earl of Salisbury, Viscount Cranborne, Baron Cecil of Essendon. Einer seiner Vorfahren diente bereits Elisabeth I. als Minister.
Er hatte, wie sein Enkel und Biograf David Cecil berichtet, enorme Schwierigkeiten, sich Gesichter zu merken.3 Folgende Anekdote belegt das:
„Er fand es schwierig, seine Mitmenschen zu erkennen, sogar seine Verwandten, wenn er sie unter unerwarteten Umständen traf. Einst stand er hinter dem Thron bei einer Hofzeremonie, als er einen jungen Mann sah, der ihn anlächelte. „Wer ist mein junger Freund?“, flüsterte er seinem Nachbarn zu. „Euer ältester Sohn“, antwortete der Nachbar.
Aber Robert Cecil war sich genauso wenig sicher, ob er jemanden nicht kannte. David Cecil berichtet:
„Auf dem Weg vom Bahnhof Hatfield [nahe seines Familiensitzes] fand er sich eines Abends in der Gesellschaft eines Mannes, der ihn zu kennen schien und den er deshalb für einen alten Bekannten hielt, den er nicht zuordnen konnte. Plötzlich sprach der Mann: ‚Lord Salisbury’, sagte er ernsthafter Stimme, ‚Ich bin gekommen, um ihnen eine Botschaft des allmächtigen Gottes zu überbringen.‘
Mein Großvater sagte nichts, aber bei seiner Ankunft ging er in sein Arbeitszimmer, und rief, nachdem er sich an die Arbeit gesetzt hatte, einen Diener.
‚Ich habe einen Verrückten in der Eingangshalle gelassen‘, sagte er ruhig. ‚Würden Sie wohl dafür sorgen ihn loszuwerden?‘ und setzte sich wieder an seine Papiere.“
Doch, man kann mit Prosopagnosie mehr als 15 Jahre Premierminister sein. Übrigens war Robert Cecil der letzte britische Premierminister, der dem Oberhaus angehörte.
Aber auch in den USA verträgt sich Prosopagnosie mit einer politischen Karriere. John Hickenlooper, langjähriger Gouverneur von Colorado (2011 – 2019) und jetziger Senator des Bundesstaates, erklärte 2019 öffentlich, dass er unter Prosopagnosie leide. Er hat gelernt damit zu leben. Er ist einfach freundlich zu jedem.
In einem CNN-Interview erklärte er zu seiner Prosopagnosie:
„Ich denke, dass sie mein Leben in einem relative geringen Maße anstrengender macht, weil da eine gewisse Unsicherheit [Anxiety] ist, aber ich denke, am Ende hat sie mir eher genutzt. Und wenn ich ehrlich bin, denke ich, dass die Welt besser dran wäre, … wenn jeder auf den anderen zugeht, ob er ihn kennt oder nicht, und eine gewisse Freundlichkeit zeigt.“
Wer gelegentlich die Klatschpresse liest, weiß vielleicht auch bereits, dass die Kronprinzessin Victoria von Schweden sowohl unter Prosopagnosie als auch unter Dyslexie leidet. Das Internetportal des Fernsehsenders Vox zitiert dazu aus einem Interview, das sie dem Magazin „Föräldrakraft“ gegeben hat.
„Es fällt mir sehr schwer, mich an Namen und Gesichter zu erinnern, das ist in meiner Rolle ein großer Nachteil.“
Schon ein normaler Mensch könnte als abweisend oder arrogant angesehen werden, wenn er sich an Menschen nicht erinnert. Aber bei Mitgliedern einer königlichen Familie fällt das deutlich stärker auf. Und Prinzessin Victoria leidet auch darunter:
„Ich strenge mich unheimlich an, damit ich mir Namen und Gesichter merken kann. Aber sie wollen sich einfach nicht festsetzen“.4
Dieses Problem teilt sie sich mit Brad Pitt, er drückte sich nur deutlicher aus. In einem Interview mit der US-Zeitschrift Esquire sprach er im Jahr 2013 über seine Probleme, Menschen wiederzuerkennen. ‚Man trifft so verdammt viele Leute‘, sagte dem Interviewer. ‚Und dann trifft man sie wieder.‘ Das Problem irritierte ihn schließlich dermaßen, dass er nicht mehr gerne ausging. Aber als Person des öffentlichen Lebens ist er natürlich stets im Mittelpunkt des Interesses und muss Termine wahrnehmen. Und er macht sich Sorgen, dass man ihn für ein Arschloch halten könnte, weil er er einfach nicht schafft, sich Leute zu merken.
Der Autor des Artikels war aber sicher, dass eine eventuelle persönliche Begegnung seine Leser überzeugen werde, dass Brad Pitt alles andere als ein Arschloch ist.
Eigentlich wünscht man allen Prominenten so verständnisvolle Journalisten.
Bei Wissenschaftlern wundert man sich vielleicht weniger, wenn sie tief in Gedanken versunken ihre Umwelt ignorieren. Aber es stört sie natürlich trotzdem, wenn sie keine Gesichter erkennen. Die berühmte Primatenforscherin Jane Goodall kämpfte ihr Leben lang mit dem Problem und dachte lange, sie sei ein Einzelfall. Zitat aus ihrer Autobiografie:5
„Als ich mit einem Freund sprach, fand ich zufällig heraus, dass er unter dem gleichen Problem litt. Es konnte es einfach nicht glauben. Dann entdeckte ich, dass Judy, meine eigene Schwester, ähnlich Peinlichkeiten kannte. Möglicherweise gab es ja noch andere. Ich schrieb an den bekannten Neurologen Dr. Oliver Sacks. Hatte er von dieser ungewöhnlichen Störung schon mal gehört? Er hatte nicht nur davon gehört – er litt selbst darunter. Und seine Situation war sehr viel ausgeprägter als meine.“
Jane Goodall veröffentlichte ihre Autobiografie im Jahr 2000. Damals waren weltweit weniger als 10 Fälle von angeborener Prosopagnosie in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben. Trotzdem kam niemand auf die Idee, Goodalls Beobachtung als Indiz dafür zu betrachten, dass die angeborene Prosopagnosie sehr viel häufiger vorkommt als damals vermutet.
Aktuelle Studien
Viele Fragen rund um die Prosopagnosie sind noch offen und vieles noch nicht endgültig beantwortet. Aktuell haben wir zur Prosopagnosie einige Studien aufgesetzt und würden uns über aktive Unterstützung freuen.
Wer also Probleme hat, andere Menschen an ihren Gesichtern zu erkennen, sich Gesichter zu merken, oder auf Märkten, Bahnhöfen oder Flughäfen Fremde von Bekannten zu unterscheiden, darf mir gerne eine E-Mail schicken. Die meisten Untersuchungen und Tests finden aktuell aufgrund der aktuellen Coronalage online statt. Hier die E-Mail-Adresse für alle, die sich jetzt angesprochen fühlen:
prosopagnosie[at]comfood.com.
Das [at] bitte durch den Klammeraffen @ ersetzen. Jede sichtbare E-Mail in einem Blog landet leider sofort in den Fängen der Spamversender. Deutschsprachige Informationen gibt es auch auf unserer Infoseite prosopagnosie.de.
Natürlich dürfen sich auch Prominente gerne melden.
Anmerkungen
[1] Die Buchserie „Anne of the Green Gables“ ist in Amerika so bekannt wie in Deutschland Pippi Langstrumpf oder früher die Serie der „Goldköpfchen“-Bücher.
[2] Im Original: Oh, you don’t know what this means to me,” he said brokenly at last. “I hadn’t any picture of him. And I’m not like other folks… I can’t recall a face…. I can’t see faces as most folks do in their mind. It’s been awful since the Little Fellow died. I couldn’t even remember what he looked like.
[3] Grüter, T., & Grüter, M. (2007). Prosopagnosia in biographies and autobiographies. Perception, 36(2), 299-301.
[4] Eines der Promiportale im Internet charakterisieren die Prosopagnosie als „lebenslange Krankheit“, was natürlich nicht richtig ist. Es handelt sich um eine angeborene Wahrnehmungsschwäche. Die Behauptung, Prosopagnosie und Dyslexie (oder Legasthenie) träten häufig zusammen auf, ist ebenfalls nicht richtig.
[5] Goodall, J. & Berman, P. (2000). Reason for Hope (London: Thorsons) pp XIII – XIV
Lässt sich wie gemeint in diesem Sinne :
-> https://de.wikipedia.org/wiki/Agnosie
… die sog. Prosopagnosie besonders einordnen?
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An sich wäre es ja eher anti-intuitiv von der Mustererkennung hier wegzugehen und besonderen humanen Bezug i.p. Gesichtsausprägung zu suchen?
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Webbaer (der anscheinend am “Brad Pitt-Syndrom” leidet, a bisserl, bei deutlich niedriger Popularität (bisher!))
Der Roman “Rip Van Winkle” von Washington Irving beschreibt einen Mann, der 20 Jahre unter einem Baum geschlafen hat. Als er in sein Dorf zurückkehrt erkennt er niemand mehr und nur eine alte Frau erkennt ihn.
Hat er Drogen genommen, hatte er einen Gedächtnisverlust oder die hier beschriebene Prosopagnosie.
Bei den vielen Zauberschlaf-Sagen rund um den Globus ist die Fremdheit von Menschen und Sitten nach scheinbar kurzem Schlaf das Hauptmotiv. Sie sind aber, wie auch bei der Sage von Rip van Winkle, eher kein Beispiel für eine individuellen Gesichtserkennungsstörung. Schließlich erkennt der Zauberschläfer und seine Mitmenschen erkennen sich gegenseitig nicht, weil sie sich tatsächlich fremd sind. In der Erzählung von Rip van Winkle erkannte ihn eine alte Frau schließlich wieder. Aber die übrigen Dorfbewohner hatten ihn noch nie gesehen, und er sie auch nicht.
Martina Grüter,
“Aber die übrigen Dorfbewohner hatten ihn noch nie gesehen, und er sie auch nicht.”
Rip van Winkle kann ja nicht 20 Jahre geschlafen haben. Also ist diese “Tatsache” nicht wörtlich zu nehmen.
Sie bedeutet eine innere Entfremdung von den Dorfbewohnern. Und aus dieser Sicht kann die Prosopagnosie psychologisch gedeutet werden , als eine Ablehnung. So wie ein Psychopath kein Leid wahrnimmt. (Vermutung)