Vom Nutzen des Nychthemeron (und eine Frage zur korrekten Zitierweise in den Naturwissenschaften)
BLOG: Anatomisches Allerlei
Meiner Wissenschaft fehlt ein Wort. Nicht nur meiner Wissenschaft: Es fehlt ganz generell.
Die Wissenschaft, um die es geht, ist die Chronobiologie, also jener Zweig der Lebenswissenschaften, auf dem man sich mit der zeitlichen Verfasstheit des Lebendigseins beschäftigt. Nun – nicht alle Zeit, nicht das Leben über die Jahre von der Wiege bis zur Bahre, nicht das Leben in Äonen und Jahrmillionen der Evolutionen, nicht die Wissenschaft von den Stunden, den Minuten und Sekunden …
(sagte ich schon, dass ich Stabreime mag?)
… also all das nicht. Oder nur am Rande. Kerngeschäft dessen, was man die “Chronobiologie” nennt, ist das Leben im Tagesrhythmus, der Schlaf, das Wachen, deren Timing in Relation zu inneren und äusseren Rhythmen.
Der Tag.
24 Stunden.
Ganz einfach.
Ganz verzwickt.
Denn – sieh’ da – wir haben kein Wort dafür. Kein eindeutiges jedenfalls. Denn was ist das: “der Tag”? Der lichte Tag? Gehören nicht, wenn ich sage: “in drei Tagen” mindestens noch zwei Nächte dazu? Hat nicht der Tag 24 Stunden? Gehört also nicht auch die Nacht zum Tag?
Lauter Unklarheiten. Im Lateinischen auch. Meine Wissenschaft redet von circadian, wenn sie einen Vorgang meint, der etwa einen Tag lang (dies – lat. für “der Tag”) dauert. Etwa einen astronomischen Tag lang, wohlgemerkt, also etwa 24 Stunden. Solche circadianen, etwa tageslange, periodische, physiologische Prozesse gibt es in Massen: Schlaf-/Wachzyklus, Körpertemperatur, Hormonschwankungen. Sie treten hervor, wenn man Mensch, Pflanze oder Tier von der astronomischen Information über Hell und Dunkel abschneidet – dann machen sie alle im etwa tageslangen, selbstgemachten, circadianen Rhythmus weiter. Sie haben nämlich innere Uhren, deren Pendel eine Phasenlänge von etwa 24 Stunden haben, bei manchen ein paar Stunden mehr, bei anderen weniger.
Lässt man sie aus dem Bunker, in dem man solche Isolationsexperimente macht, wieder in die Welt hinaus, dann werden Pflanze, Mensch und Tier ganz fix wieder diurnal (das ist schon wieder lateinisch von dies), d.h. die Phasenlänge ihrer schwankenden physiologischen Aktivitäten beträgt dann genau 24 Stunden, entspricht also dem astronomischen Tag. Zumindest haben wir in der Chronobiologie das Wort so definiert. Diurnal heisst: synchron zum Takt jener 24 Stunden, die dieser Globus braucht, um sich in seinem Elend einmal um sich selbst zu wälzen.
Das Elend ist nun aber auch, dass diurnal in der Biologie noch etwas anderes bedeutet: Tagaktiv nämlich. Die Hühner auf dem Hofe sind diurnal. Die Eulen im Walde nachtaktiv, also nocturnal (von lat. nox – “die Nacht”). Synchron zu den 24 Stunden des Tages sind sie aber beide allemal, ergo ist das Huhn ein diurnales diurnales Wesen und die Eule ein nocturnales diurnales Wesen, was allerdings tautologischer und paradoxer Schwachsinn ist – eben weil das Wort diurnal nicht sauber bzw. doppelt definiert ist.
Was wiederum daran liegt, dass schon das Wort “Tag” ambivalent ist. Ist jetzt die Nacht dabei, oder nicht? HABEN wir überhaupt ein Wort für den Zeitraum, den ein Tag und eine Nacht überspannen, ohne dass wir zu den sperrigen “24-Stunden”, dem “astronomischen” oder dem “kalendarischen” Tag greifen müssten?
Wir haben, glaub’ ich, keines. Die Römer hatten keines, die Angelsachsen haben keines.
Aber die ollen Griechen hatten eines! Zugegeben: Übertrieben elegant ist es nicht, sie haben einfach die Worte für Tag und Nacht hintereinander gepappt, und dann kommt
νυχθήμερον
(nychthemeron)
dabei heraus, das “Dunkelhelle”, “NachtundTag”. Solche plump-agglutinierende, zusammenkleisternde Wortbildung machen wir im Deutschen ja auch gerne (bis zum albernen “Donaudampfschiffahrtsgesellschaftskapitän”); das Griechische hat halt den Vorteil, dass es die Banalität der Konstruktion hinter der Schönheit des Klanges verbirgt:
nychthemeron …
Man könnte ins Träumen kommen, vor allen, wenn man das “chi” ganz weich ausspricht und das “theta” wie ein englisches “th”…
Nychthemeron,
die Zeit fliecht davon,
der Tag und die Nacht,
kaum da, schon vollbracht …
(usf, *schwelg* … das “fliecht” ist lyrische Absicht, jawoll!)
Gutgut.
Das Nychthemeron ist der Ausdruck, den ich brauche, um immer dann, wenn ich diurnal im Sinne von “24 Stunden” meine, dieses durch nychthemeral zu ersetzen(1). Trifft sich gut, ich schreib’ gerade an einer ernsthaften wissenschaftlichen Publikation, da kann ich das einführen. Nur werd’ ich der geschätzten Leserschaft auch erklären müssen, wo der Begriff eigentlich herkommt. Und, als eifriger Altphilologe, auch die Originalquelle des Wortes nennen. Und das wird der Hauptspass, weil’s keiner erwartet:
Paulus von Tarsus, zweiter Korintherbrief, 11: 25.
Wie zitiert man das Neue Testament im griechischen Originaltext in APA?
Fussnoten:
(1) Um mich nicht gänzlich mit fremden Federn zu schmücken – sehr sporadisch taucht der Begriff schon jetzt in der chronobiologischen Literatur auf.
Helmut Wicht schrieb (30. November 2015):
> Kerngeschäft dessen, was man die “Chronobiologie” nennt, ist das Leben im Tagesrhythmus, der Schlaf, das Wachen, deren Timing in Relation zu […]
> Das Nychthemeron ist der Ausdruck, den ich brauche, um immer dann, wenn ich diurnal im Sinne von “24 Stunden” meine, dieses durch nychthemeral zu ersetzen […] als eifriger Altphilologe
Also die „Geo-Rotationsperiode“; für all jene, die eventuelles (Alt-)Griechisch nur insofern voraussetzen mögen, als es per Duden oder zumindest Fremdwörterbuch bzw. Enzyklopädie als allgemein zugänglich und ohne ausdrückliches Zitat nachvollziehbar gilt.
Herzloser Technokrat!
😉
Wie klingt denn das:
“georotationsperiodizidal”
Da möcht man ja als Sprachliebhaber suizidal werden!
Helmut Wicht schrieb (30. November 2015 17:07):
> Wie klingt denn das: “georotationsperiodizidal” [?!]
Richtig gemein?
> Da möcht man ja als Sprachliebhaber suizidal werden!
Sentimentaler Hermetiker (?) …
Sentimental: ja.
Hermetiker: nein.
Hermeneutiker wär mir lieber.
Gruss
Helmut Wicht
Helmut Wicht schrieb (1. Dezember 2015 13:59):
> […] Hermeneutiker wär mir lieber.
Wem nicht?.
Und mich hätte „scilog-loser Technokrat“ eher getroffen.
Die nordischen Sprachen haben Wörter dafür: Dänisch+Norwegisch “døgn”, Schwedisch “dygn”.
Besser geeignet als Vorbild wäre hier vielleicht das altnordische “solarhringr” (das immer noch auf Isländisch erhalten ist), d.h. “Sonnen-Ring”.
Das könnte man wohl auch auf Deutsch verwenden?
Bedeutet dieses “dogn”/”dygn” wirklich Tag UND Nacht?
Wie heisst dann der lichte Tag?
“Sonnenring” ist wirklich schön, danke.
Das probier’ ich dann in den nächsten Publikation und zitiere die Edda.
🙂
Im Schwedischen (dänisch kann ich nur lesen) steht “dag” für den hellichten Tag und für einen bestimmten Tag, der genannt werden soll. “dygn” steht dagegen für einen Zeitraum. Moderne Schweden werden sich darunter wohl 24 Stunden denken, aber da auch Schweden nicht Tag und Nacht arbeiten, kann wohl auch hier manchmal ein Arbeitstag von acht Stunden oder ein Werktag von vielleicht 16 Stunden gemeint sein. “Das schaffe ich in einem Tag.”
Danke.
Je mehr ich darüber lerne, desto nützlicher erscheint mir das “nychthemeron”. Die Chinesen – so lehrt mich mein Kollege au dem Reich der Mitte – haben ein ähnliches Problem. Auch dort sei “Tag” ambivalent, könne die Nacht einschliessen, oder auch nicht.
Was machen die Physiker/Astronomen/Meteorologen, wenn’s genau daruf ankommt? Reden sie wirklich von der “Georotationsperiodik?”
Ach, die Astronomen haben ja ganz andere Probleme: Ist ein Tag die Zeit von Sonnenaufgang bis zum nächsten Sonnenaufgang (dann wäre er jeden Tag unterschiedlich lang), oder rechnen wir mittlere Sonnentage. Oder vielleicht doch besser Sternentage? Der Sternentag ist fast vier Minuten kürzer als der Sonnentag, weil die Erde immer ein Stück weiter rotieren muss, um die Sonne wieder am selben Punkt zu sehen. Schließlich ist sie am Tag 1/365,2425 weiter auf ihrer Bahn.
@Joachim Schulz: “Der Sternentag ist fast vier Minuten kürzer als der Sonnentag.” Genau: als der mittlere Sonnentag. Zur Zeit ist der Sternentag mehr als vier Minuten kürzer als der Sonnentag, da erstens die Erde nah an ihrem sonnennächsten Punkt und damit schneller ist und mehr als 1/365,2425 weiter auf ihrer Bahn.Und zweitens die Erdachse fast maximal gegen die Ekliptik gekippt ist und sie deshalb länger als 4 Minuten braucht, um die zusätzlichen gut 1/365,2425 aufzuholen.
Helmut Wicht schrieb (1. Dezember 2015 10:32):
> Was machen die Physiker/Astronomen/Meteorologen, wenn’s genau darauf ankommt? Reden sie wirklich von der “Georotationsperiodik?”
Ja: Sofern Physiker/Astronomen/Meteorologen usw. eine Ahnung davon haben, worauf es ankommt, reden sie bestimmt unter Verwendung von Worten, die sie im Wortschatz all ihrer Peers vermuten können.
Und sofern es Physikern auf die Nachvollziehbarkeit von Messwerten, und speziell von Dauerverhältnissen ankommt, reden sie bevorzugt von der „Marzke-Wheeler-Konstruktion“.
Jürgen Bolt schrieb (1. Dezember 2015 15:19):
> Zur Zeit ist der Sternentag mehr als vier Minuten kürzer als der Sonnentag, da erstens die Erde nah an ihrem sonnennächsten Punkt und damit schneller ist und mehr als 1/365,2425 weiter auf ihrer Bahn […]
Relevant scheint eher, dass sich die Erde gegenwärtig (noch) dem sonnennächsten Punkt ihrer Bahn nähert, und sich deshalb die Winkelgeschwindigkeit der Erd-Orbitalbewegung gegenwärtig (noch) vergrößert.
> Und zweitens die Erdachse fast maximal gegen die Ekliptik gekippt ist und sie deshalb länger als 4 Minuten braucht, um die zusätzlichen gut 1/365,2425 aufzuholen.
Relevant scheint eher, dass die (geeignet definierte) „Kippung der Erdachse“ gegenwärtig (noch) zunimmt.
Vgl. https://en.wikipedia.org/wiki/File:Zeitgleichung.png
@Frank Wappler Schon mein erster Kommentar war vielleicht zu weit weg vom eigentlichen Thema, deshalb nur ganz kurz: ich fürchte, Sie irren sich. Der Sonnentag ist jeweils zwischen den Extrempunkten des von Ihnen verlinkten roten Graphen länger bzw. kürzer als 24 Stunden; vom 3.11. – 11.2. ist er länger.
https://de.wikipedia.org/wiki/Zeitgleichung
Jürgen Bolt schrieb (2. Dezember 2015 15:40):
> […] ich fürchte, Sie irren sich.
Stimmt, bitte um Entschuldigung, und Danke für den Hinweis;
ich hatte mich auf die „Veränderung von Mittag zu Mittag“ konzentriert (um mir deren Zusammenhang mit den Bewegungsabläufen und Achskippungen zu veranschaulichen),
und dabei vergessen, dass stattdessen der Vergleich zu Ganzjahresmittelwerten gefragt war.
Merke: Was bis zum Jahreswechsel nicht abgefeiert werden kann, lässt sich immer noch auf Mitte Februar schieben.
Wie wäre es denn mit Helltag für den Tagestag. Könnte man allerdings leicht mit Hellday verwechseln 🙂
Übrigens: Ist uns eigentlich bewusst, dass uns 24h Tage im Jahr fehlten, drehte sich die Erde in Gegenrichtung um die eigene Achse?!
“nychthemeron” … könnte glatt aus dem “Herr der Ringe” stammen…
Guten Tag. Ich versuche mich, aus einer Laune heraus, mal mit einer Antwort, wie man sie heute durchaus in Foren, die sich mit +/- wissenschaftlichen Fragen beschäftigen, erwarten könnte:
“Tut’s aber nicht. Sie phantasieren sich da was zusammen. Könnte, könnte! Na und? Könnte es sein, daß Sie an einem religiösen Wahn leiden? Wieso muß der Dicktuerbegriff “Nychthemeron” von dem Herrn Doktor Angeber Wicht gleich von jedem mit mythologischer Attitüde aufgeladen werden?”
Wie gesagt, das steht hier nur so. Auf Wiedersehen.
Immer noch der Alte. Wie schön, dass sich manche Dinge nie verändern. Wie die Philosophie über Tag/Nacht.