Unwiederbringlich weg

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Um mal provokant das Kind mit dem Bade auszuschütten – wenn “Reproduzibilität” zum zentralen Definiens dessen, was Wissenschaft ausmacht, erhoben wird, dann sind alle Wissenschaften, die sich mit historischen Vorgängen beschäftigen, aussen vor.

Denn die Geschichte wiederholt sich nicht, nicht als Tragödie, nicht als Farce, sondern einfach gar nicht. Vorbei ist vorbei, jedes historische Ereignis ist singulär. Die Mechanismen, die einen Sulla, einen Marius, einen Caligula oder einen Hitler an die Macht brachten, mögen sich ähneln, dennoch reproduziert sich keine dieser Gewaltherrschaften in einer der anderen.

In der historischen Wissenschaft, in der ich gross geworden bin – der Evolutionsbiologie – hat diese Einsicht sogar “Gesetzesrang”. Dollos Gesetz. Salopp könnte man es so formulieren: “They never come back.” Weg ist weg. Eine einmal ausgestorbene Art kommt nie wieder.

Physikalisch gesprochen will mir scheinen, dass Dollos Gesetz dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ähnelt – zwar wäre es durchaus möglich, dass ein Organismus ein Genom und einen Körper entwickelt, die mit dem eines entfernten Vorfahren fast identisch sind. Aber es ist eben aufgrund der Zufallsmechanismen, die der Mutabilität der Organismen zugrunde liegen, unwahrscheinlich. Extrem unwahrscheinlich.

Mit anderen Worten: Wir Evolutionsbiologen – und eigentlich alle, die es irgendwie mit historischen Vorgängen zu tun haben – forschen an etwas herum, das sich nicht reproduzieren lässt. Unsere Einzelexperimente – die sind wiederholbar. Manche zumindest. Wenn wir Gensequenzen bestimmen, um Abstammungsverhältnissen auf die Spur zu kommen: Dann kann man die Sequenzen reproduzieren. Aber die tatsächliche Historie – die bleibt im Dunkel. Und entsprechend ändern sich unsere Hypothesen über den Verlauf der Geschichte alle naselang. Mal hat’s der Neanderthaler mit dem Homo sapiens getrieben, mal wieder nicht – kommt immer drauf an, was man technologisch gerade so drauf hat, ob und welche Gene man sequenziert oder ob man morphologische Merkmale sortiert. Ein simples Drei-Taxon Problem wie die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen Neunaugen und Schleimaalen und kiefertragenden Wirbeltieren – in meinen 30 Jahren als Forscher auf diesem Gebiet hat sich die Taxonomie drei mal gedreht.

Ist aber eigentlich nicht weiter schlimm. Denn, wie gesagt: die Geschichte, mit der wir uns beschäftigen, ist ja eben nicht reproduzierbar, ist singulär. Es ist sogar völlig wurscht – für die Gegenwart oder die Zukunft – ob wir uns mit Neanderthalern gepaart haben, oder nicht, denn wir werden es nie wieder tun können, noch können wir das, was geschehen oder nicht geschehen ist, ändern. Alles, was wir können, ist Geschichten über die Geschichte erzählen. Ein Narrativ draus machen, wie die Geisteswissenschaftler sagen würden. Aber HIER liegt der Clou: die Produktion dieses Narrativs muss reproduzibel und transparent sein, selbst wenn das, wovon es handelt, uns auf alle Ewigkeit entzogen ist.

Acta sunt fabula.

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

9 Kommentare

  1. Doppelt unwiederbringlich weg

    Die Spuren, die von der Geschichte (oder auch von den Toten) übrigbleiben zeugen von ihr (von ihnen). Wer sie für immer beseitigt beseitigt in gewissen Masse die Geschichte.

    Doppelt unwiederbringlich weg ist also etwas von dem man auch alle Spuren beseitigt hat.

  2. Die unendliche Geschichte

    Dass das so ist – dass die Geschichte (inkl. die Evolution) irreproduzierbar ist(und so ist es), ist nur zum verzweifeln, wenn man erwartet, dass man die Wahrheit haargenau erkennen kann.

    Sonst ist es eine Erinnerung daran, dass auch Wissenschaft eine ewige Geschichte ist, dass nie zu Ruhe kommt (oder kommen kann), aber immer wieder weiterwachsen (und weiterwachsen muss).

    Gerade deshalb finde ich Ihre geschichte so schön. Ja, die Geschichte ist unwiederbringlich weg und vergangen. Dafür ist aber der Zukunft da.

    Es gibt gar nichts zu bedauern.

  3. Es perpetuieren keine dei ex machina

    Wenn es mal eine Maschine ist…

    Wenig Zeit, kurzer Einspruch:

    Geschichte muß sich wiederholen; als weißes Rauschen fände sie gar nicht statt.

  4. @ jörg schütze

    “Geschichte muß sich wiederholen; als weißes Rauschen fände sie gar nicht statt.”

    Es mögen ja oft ähnliche, wenn nicht identische Mechanismen am Werke sein, aber die Individuationen, die sie zeugen, sind doch stets andere.

  5. Repro

    Um mal provokant das Kind mit dem Bade auszuschütten – wenn “Reproduzibilität” zum zentralen Definiens dessen, was Wissenschaft ausmacht, erhoben wird, dann sind alle Wissenschaften, die sich mit historischen Vorgängen beschäftigen, aussen vor.

    Es wird einige vielleicht überraschen, aber die moderne Wissenschaftlichkeit dient den Menschen, generiert Nutzen und Theorien haben neben der beschreibenden und erklärenden Komponente auch eine prädiktive. – Prädiktion und Reproduzierbarkeit hängen zusammen.

    Den zitierten Satz versteht der Schreiber dieser Zeilen nicht ganz, denn auch der Geschichtsforscher, derjenige der zu erkennen sucht, was gewesen ist, hat seine Quellen. Und mithilfe dieser Quellenarbeit können durchaus Einschätzungen/Theorien durch andere reproduziert werden.

    MFG
    Dr. W

  6. Was wir (vor allem) beachten

    Helmut Wicht schrieb (25. Januar 2013, 14:44):
    > Aber HIER liegt der Clou: die Produktion dieses Narrativs muss reproduzibel und transparent sein, selbst wenn das, wovon es handelt, uns auf alle Ewigkeit entzogen ist.

    Hört, hört!
    Den Unterschied zwischen reproducibility und replicability (Nachvollziehbarkeit vs. Wiederholbarkeit) müssen manch andere offenbar noch begreifen.

    p.s.

    Joachim Schulz schrieb (25. Januar 2013, 22:01):
    > Manche Linien bestätigen sich beim Wiederholungen des Experiments. Sie treten mit gleicher Form und Höhe jedes Mal wieder auf. […]

    In Histogrammen, die (wie im abgebildeten hochauflösendes Photoemissionsspektrum von atomarem Europium) Einträge in willk. Einheiten beinhalten ?

    Und in Bins, deren (in der Abbildung “Bindungsenergie” genannte) Einteilung scheinbar nicht einmal Versuch für Versuch reproduzierbar genug wäre, um sie mit irgendwelchen (wenn auch willkürlichen) Einheiten zu vergleichen und zu ordnen?

    (Irgendwelche Koordinaten-Zahlen über Bins streuseln — meinentwegen Zahlen zwischen 9.7 und 10.8 — kann man ja auf jede “x-bliebige” Weise.)

  7. @ Helmut Wicht

    “Es mögen ja oft ähnliche, wenn nicht identische Mechanismen am Werke sein, aber die Individuationen, die sie zeugen, sind doch stets andere.”

    Meine Folgerung hieraus ist: ‘Die Individuationen können sich, also, nicht qua selbst zeugen’ – Bevor ich ggf. mehr und zuviel schriebe, möchte ich fragen, ob wir da überein stimmen.

    Gruß

  8. @ schütze

    Ich hab’ mich wahrscheinlich zu pathetisch ausgedrückt. Ich wollte nur behaupten, dass – wiewohl die gundlegenden Mechanismen der Evolution stets gleich geblieben sind – sie noch nie zwei Wesen hervorgebracht hat, die absolut identisch sind.

    (Das gilt m.E. auch für Klone insofern, als diese zwar genetisch identische, aber räumlich getrennte Wesen sind, d.h. qua unterschiedlicher “Verortung” auch unterschiedlichen Umwelten ausgesetzt sind.)

  9. @ Helmut Wicht

    “Ich wollte nur behaupten, dass […] sie noch nie zwei Wesen hervorgebracht hat, die absolut identisch sind.”

    Ich denke auch. Das kann man auszuschließen, aber nicht “getrost”. Wir müssen ja auch nicht zwei Instrumente absolut identisch stimmen, um sie wohlklingend harmonieren lassen zu können. Sie müssen nur hinreichend ähnlich klingen.

    Insofern bin ich überzeugt, daß ein Kriterium absoluter Identität gar nicht wesentlich für das empirische (meßbare) Phänomen der von mir behaupteten Wiederholung der Phänomene ist – sonst erschiene unsere Umgebung wesentlich unbestimmt, und wie könnte dann etwas darin “leben”? Ohne Metrik gewissermaßen.

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