Olle Kamellen, aufgewärmt

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Die Kraft eines Muskels ist proportional zur Summe der Querschnitte seiner Muskelfasern, und die wiederum ist proportional zur Quadratwurzel seines Volumens. Dicker Bizeps – dicke Kraft. Viel Hirn – viel Geist?

Die Volumina des Menschenhirns wurden eifrigst vermessen, vor allem in den letzten zwei Jahrhunderten des vergangenen Milleniums. Weltrekord: Iwan Turgenjew ("Väter und Söhne"): knapp über 2 Kilogramm. Im Durchschnitt hat die Menschheit so etwa 1300 bis 1400 Gramm Hirnschmalz unter der Schädeldecke. Unter 1000 Gramm wird es so langsam eng: da liegt die Grenze zu dem, was man früher kollektiv als "Idiotie" bezeichnet hat. Es gibt also einen Zusammenhang zwischen Hirngrösse und mentaler Kapazität, zumindest gibt es eine kritische untere Grenze. Oberhalb dieser Grenze aber: keinerlei Korrelation von "Mens" und "Massa" (Geist und Masse). Einsteins Hirn wog 1230 Gramm, und wahrscheinlich haben viele von Ihnen mehr Masse im Kopf, ohne dass Ihr Name jedoch je dem Nobelpreiskomittee zu Ohren kommen würde.

Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten:
– entweder hat der Geist mit der Hirnmasse nichts zu tun (wogegen allerdings der untere Grenzwert spricht),
– oder es fehlt das geeignete Verfahren, den Reichtum des Geistes und die Leistungskraft des Gehirnes zu messen (wogegen die Alltagserfahrung spricht, die uns Genies und Deppen sehr wohl erkennen lässt. Denn was, so könnte man sarkastischerweise anmerken, wäre denn unser ganzes Bildungs- und Prüfungssystem [das universitäre insbesonders…], wenn nicht ein System zu deren Erzeugung. [Lesen Sie, falls Ihnen der Sarkasmus entgangen sein sollte, den letzten Satz nochmal und vergegenwärtigen Sie sich den grammatikalischen Bezug des Wortes "deren".])

Ähh – was wollt' ich sagen?

Ach ja: dass es noch eine dritte Möglichkeit gibt. Dass es womöglich Dinge gibt, die sich prinzipiell nicht messen lassen. Der "Geist" zum Beispiel. Wenn er sich aber nicht messen lässt, dann lässt er sich auch nicht reproduzierbar messen, und wenn man ihn nicht reproduzierbar und unter kontrollierten Bedingungen messen kann, dann ist er der naturwissenschaftlichen Untersuchung nicht zugänglich.

Jetzt gibt es schon wieder zwei Möglichkeiten:
– entweder zu behaupten, dass das, was sich den Naturwissenschaften entzieht, im ontologischen Sinne auch nicht sei,
– oder zu behaupten, dass Quantifizierbarkeit (Messbarkeit) nur eine mitunter auftretende Sonderform des Seins sei, hinter/unter/über der etwas ganz anderes, nicht Messbares steckt.

Raten Sie mal, welcher Auffassung ich zuneige.

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

10 Kommentare

  1. angeln Sie

    Werter Herr Wicht,
    ihre Aussagen schliesen sich aber nicht zwingend aus.
    Die Lehre vom seienden schließt immer die Dinge aus, die mit den definierten Mitteln, nicht nachweisbar sind.
    Die zweite Antwort drängt der Aussage, die an sich durch aus Bestand hat,einen esoterisch/okulten Charakter auf.
    Das Weltbild der Menschen wird in der Neuzeit oft durch die wissenschaftliche Sicht bestimmt.
    Das diese durchaus Erkenntnisse enthalten könnte, die der Qualität der Aussage:”Die Erde ist eine Scheibe.” entsprechen, lässt sich , auch heute nicht wirklich Ausschließen.

    Ich traue Ihrem Gehirn durchaus zu, je nach Kontext, Elemente beider Aussagen zu vertretten.
    Ein Fuchs im Schafspelz! 🙂

    Gruß Uwe Kauffmann

  2. @ Kaufmann

    …ye got me, we die Amis sagen würden.

    Es wird jetzt schwierig werden, meine Replik zu formulieren, denn sie wird sich in der Tat zwischen den Fallstricken dessen, was man zu Recht als “Obskurantismus”, “Okkultismus” oder “Esoterik” schilt, bewegen müssen – ohne jedoch, wie ich hoffe, zu straucheln und sich ihn ihnen zu verheddern.

    Das “Hirnvolumen” und dessen (unverstandene) Beziehung zu “kognitiver Kapazität” (oder wie immer Sie es nennen wollen) diente mir nur als Aufhänger. Die These, die ich vertreten möchte, ist die: Dass es auf allen Ebenen des Seins, egal wie man sich ihnen annähert (naturwissenschaftlernd, schriftstellernd, künstlernd oder, ja, vielleicht einfach nur “vor sich hinlebend”), dass es auf allen diesen Ebenen des Seins und unter allen diesen Formen der Annäherung an sie immer einen “unauflöslichen Rest” geben wird. Etwas, was sich der jeweiligen Herangehensweise entzieht, etwas, das man am ehesten noch zu ahnen bekommt, wenn man sich ihm mit allen Herangehensweisen zugleich annähert. Aber selbst dann wird es sich entziehen, es wird der notorisch unsagbare und unfassbare Rest sein – der aber deshalb nicht nicht IST, sondern von dem man das unausprechbare Gefühl hat, dass er der EIGENTLICHE Kern der Sache sei.

    Die Theologen würden sagen “Deus est ineffabile” (Gott ist unaussprechlich). Ich will keine Lanze für den Theismus brechen, nein. Aber das Gefühl und die Überzeugung, die in diesem Satz ihren Ausdruck finden – für die beiden will ich schon einen Strauss ausfechten.

    Am Grunde der Welt liegt ein Rätsel, von dem ich nicht weiss, ob wir’s jemals werden buchstabieren, geschweige denn lösen können.

  3. das Absolute @ Helmut Wicht

    Nun ist es ausgesprochen und nicht nur von Ihnen: es ist und bleibt die Suche nach dem Unaussprechlichen, das sich nicht in Begriffe setzen läßt und uns auch nicht als Anschauung gegeben ist. Wir können zwar etwas wahrnehmen, doch wir wissen nicht, ob das, was wir da wahrnehmen, Funktion unseres Hirns ist oder ob das Hirn die Klaviatur dessen ist, der sich vergeblich versucht uns über das Hirn mitzuteilen. Kaum meinen wir, es erfassen zu können, entzieht es sich wieder. Und dennoch kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß der Raum dabei weiter wird, der Rahmen in dem der Wille agiert sich vergrößert. Dabei wird allerdings auch die Leere und Langeweile stärker empfunden -eine Art Wüstenerfahrung -so möchte ich meinen.

  4. Volumen / Grenzen der Wissenschaft

    Hallo Helmut,

    also zur Frage des Hirnvolumens fällt mir eine nette Diskussion mit einer Philosophieprofessorin in Mainz ein. Es ging darum, dass Frauen im Mittel kleinere (leichtere) Gehirne hätten, worauf die Professorin antwortete: Es komme ja nicht auf das Volumen, sondern den Vernetzungsgrad an (in Sachen Intelligenz). Ein vorlauter Student erwiederte dann, wo mehr Volumen sei, könne ja aber prinzipiell auch mehr vernetzt sein — was über den faktischen Vernetzungsgrad im Einzelnen freilich nichts aussagt.

    Und zu dem Schluss von naturwissenschaftlicher (Un-)Messbarkeit noch meine zwei Cent: Stimmte das, dann gäbe es für unsere physikalische Welt kein Fundament. Theoretische Überlegungen können nämlich zeigen, dass es aufgrund bestimmter Naturkonstanten (v.a. Lichtgeschwindigkeit) nicht möglich ist, in den Mikrokosmos jenseits einer bestimmten Grenze einzudringen (wenn ich mich recht entsinne, so ca. um 10^-50m). Gibt’s das also alles nicht?

    Und über die Vergangenheit können wir übrigens auch keine naturwissenschaftlichen Experimente machen, jedenfalls nicht ohne Zeitmaschine. Gibt’s die also auch nicht?

    Wenn umgekehrt ein Physiker 10^9 Kollisionen in einem Teilchenbeschleuniger durchführt und dabei ein oder zwei interessante Reaktionen misst, dann überzeugt mich das nicht von der Realität dieser experimentellen “Realität”.

    Ist von dem Wein noch ‘was übrig? Sag bescheid, wenn du Hilfe brauchst.

    Stephan

  5. @ Schleim

    Hirnvolumen:
    Es lässt sich zeigen (mathematisch und empirisch), dass der “Vernetzungsgrad” (Anzahl Synapsen/Neuron) mit der Zunahme des Volumens ABnimmt. Die Anzahl der “logischen Schaltelemente” (Neurone/Synapsen) wächst also NICHT proportional zur Hirngrösse. Es werden vielmehr immer mehr “Strippen” benötigt, um den Konnektivitätsgrad zu halten. Vulgo: mehr Kabelsalat, aber (relativ) weniger Steckerplätze.

    Metaphysik:
    Doch. Ja. Die Welt hat kein Fundament. Sie hat keinen Grund. Sie ist vielmehr ein Abgrund. Und die Naturwissenschaften werden scheitern, wenn sie den Anspruch erheben, ihr mit ihren Methoden einen “Boden” einzuziehen.
    Begründung? Erstmal keine. Ein Argument aus dem Bauch des Nihilisten..

    Wein:
    Hätte ich ihn schon gesoffen, schriebe ich anders.

  6. Ähh – ich wollt sagen, das ist gut, das liest sich gut und ist ungemein amüssant.
    Wieso erfahre ich erst jetzt, daß Du ‘n blog hast?
    Gruß, Jörg

  7. Preisträger

    Nachdem Helmuts Blog mit den Scilogs Preis 2008 ausgezeichnet wurde, traut er sich nun endlich darüber zu reden. 😉

  8. @ Jörg Sader @all

    Die Albernheit dieses Postings, mit dem ich mich bei Jörg für die Komplimente bedanke, wird dem ersichtlich, der begreift, dass “Sein” ein durch und durch relationales Etwas ist. Es gibt keine Substanzen, es gibt nur Relationen.

    Die Relation zwischen Jörg und mir ist folgende: er wohnt eine Treppe unter mir….

    Falls es wirklich der “Jörg Sader”, der Germanist ist, den ich kenne und schätze.

    So.

    Morgen schreib’ ich auch wieder mal was inhaltlich relevantes.

  9. geist messen

    die größe eines geistes ist eine äußerst eindimensionale größenordnung und unpräzise, angenommen ich hab ein kleines gehirn dann ist mir logisches denken nur bis zu einem bestimmten maße möglich das erklärt die untere grenze. angenommen ich hab ein unglaublich großes gehirn, dann kann ich unglaublich logisch denken oder assoziativ, was nun der “größere” geist ist ist wohl das logische in den meisten fällen. es kommt nicht drauf an wie viel man hat sondern was man draus macht. bspw. delphin, riesengehirn denkt aber höchstwahrscheinlich nciht wie ein mensch, ob sein geist nun “kleiner” ist hängt nur davon ab welche funkktionen ich für groß erachte und welche für klein, … naja bin für kritik offen, kenne keine gegenargumente die durch präzisierung nicht aus dem weg zu schaffen sind
    bin gespannt was ich für eine antwort erhalte

  10. @ Anton

    Hirn ist messbar. In Gramm, Kubikzentimetern, Energieverbrauch pro Stunde und Volumen, Anzahl der Neurone.

    Geist ist schwierig in Zahlen zu fassen.

    Wenn Sie Spass an diesen Dingen haben:
    Stephen Jay Gould: “The mismeasurement of man” (deutsch: “Der falsch vermessene Mensch”), schon etwas älter, aber immer noch klasse. Mitunter hart an der Grenze des Allgemeinverständlichen, aber über weite Strecken auch herrlich anekdotisch.

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