Fundsache

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Man hält mir – womöglich zu Recht – vor, meine Aufmerksamkeit auf Nebensachen, auf Marginalien zu richten, mich im Gestrüpp meiner Assoziationen zu verheddern und lieber in Labyrinthen als auf hellen Wegen zu wandern. Stünde mir ein Zen-Meister zu Seite, er würde vermutlich sagen, dass das Äffchen meiner Aufmerksamkeit mal hierhin und mal dahin hüpft und dabei allerlei wirre Knoten knüpft. Ich kann nichts dafür, so ist der Fadenlauf des geistigen Hemdes, das mein Hirn webt.

Und als ich neulich ein email von Herrn Ingo-Wolf Kittel bekam (wie einige andere hier wahrscheinlich auch), in dem er sich über eines gewissen Herrn Professor Birnbaums Ausführungen in der FAZ (?) echauffierte, war mir das Hemd näher als der Kittel (seh'n Sie: so hüpft das Äffchen von Assoziation zu Assoziation…) – und ich interessierte mich für die Marginalien des mails und nicht für seine message.

Und die Marginalie, auf die der Affe hüpfte, bestand aus vier Worten:
"Die Tafeln von Chartres"

Zucker, dachte ich, Zucker für den Affen, vielleicht gar Material für eine bissige Glosse. Da steckt doch mindestens die Offenbarung des Hermes Trismegistos dahinter, oder wenigstens kabbalistischer Kaffeesatz, drolliges Druidentum und okkulter Obskurantismus, rosicrucianische Rätselei und illuminierter Irrsinn. Nur – warum kenne ich den Begriff nicht längst aus Umberto Ecos grandiosem "Foucaultschen Pendel"? Da ist doch sonst alles verbraten, was es an altweltlichem Abrakadabra gibt.

Also ab zu Google, erster Link auf Wikipedia, und in Erwartung magischer Mandalas, fialenverschnörkelter Filigrangotik wie in der Kathedrale von Chartres, "klick" gemacht…

Enttäuschung. Zwei Quadrate, zwei Kreise, zwei Rechtecke, rot und blau. Natürlich geht's bei Wiki nicht ganz ohne esoterisches Klingeling, ein wenig heiliger Gral, ein wenig Merlin, die Tafelrunde des Artus, mindestens, zigeunerisches Geheimwissen, simsalabim  … trotzdem: fade Quadrate. Ein Meditationsbild, soso. Gebrauchsanweisung gelesen, die Tafeln auf DIN A4 ausgedruckt und ausprobiert. Ist ja auch simpel genug: schielend so auf die Tafeln gucken, dass ein virtuelles Überlagerungsbild der rechten und der linken Formenreihe in der Mitte entsteht.

Sehr schnell habe ich gemerkt, dass man mit diesem Ding offenbar die Hemisphärendominanz der Kognition überwachen kann – man merkt's am Wechsel der Überlagerungsfarben im virtuellen mittleren Bild. Ein schmutziges Violett: Balance. Macht Spass.

Abends, daheim, ein wenig länger gucken, einfach nur gucken und das Äffchen wandern lassen. Hie und da verschwindet eine Form, taucht wieder auf … dem Äffchen wird fade, es guckt einfach nur interesselos auf die mittlere Formenreihe … nett, so ruhig … war da was? … nö, egal … so ruhig … stille, Affe, stille … nein, da war nichts … das Äffchen schaut … es schaut … es … ommmmm … AUA!

Ein Bleistiftanspitzer, geworfen von meinem erbosten Eheweib, landet schmerzhaft auf meinem Schädel. Radiergummi und Feuerzeug hatte sie schon vorher nach mir geworfen, aber nur Streifschüsse produziert. Sie ist ziemlich stinkig: "Sag' mal, du arroganter Schnösel, "red' ich gegen die Wand? Seit 15 Minuten glotzt Du auf das Ding, ich hab' Dich DREI mal gefragt, was das soll, und Du hörst mir nicht mal zu?"

Ich hab' sie nicht gehört, ehrlich nicht. Und ob es 15 Minuten waren, das weiss ich auch nicht. Es kam mir wie ein paar Sekunden vor – nein, das ist nicht richtig: es fühlte sich zeitlich irgendwie garnicht an. Ich weiss also nicht, ob ich den Umgang mit diesen Tafeln wirklich weiterempfehlen kann. Dem Ehefrieden könnten sie abträglich sein. Aber der innere Friede, diese herrliche Leere … jedenfalls ist es das erste Meditationsbild, das bei mir so halbwegs funktioniert.

Wahrscheinlich sind' ja mal wieder olle Kamellen … aber wie funktioniert das?

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

13 Kommentare

  1. @ Wicht

    Ich halte vom Stieren auf Quadrate nichts. Fällt mir gleich -man vergebe mir -Nietzsche ein: “Selig sind die Schläfrigen: denn sie sollen bald einnicken. -“

  2. Erscheinungen

    Hallo alle,
    einfach nur beim betrachten(ohne schielen), erscheinen bei mir in den mittleren Figuren, gleichfarbige (hellere/dunklere) Kreise/Kreisringe auf dem Kreis, kleinere Vollquadrate/helles kleines helleres Quadrat auf dunklem Quadrat das wiederum auf der eigentlichen Raute liegt/kleinere Quadrate in den rechten und linken Ecken der Raute.
    Ganz witzig aber nicht so witzig wie der Beitrag.

    Gruß Uwe Kauffmann

  3. Frankfurter Illusion

    Das wahrnehmungspsychologische Stichwort ist hier wohl “binokulare Rivalität”, vermute ich einmal. Googlet (schreibt man das so?) man danach, erhält man neben den Wikipedia Links auch einen Link “Frankfurter Illusion”: http://www.michaelbach.de/ot/sze_Frankfurter/index.html. Gemeint ist wahrscheinlich das Frankfurter Würstchen, das man bei dieser Illusion zu sehen bekommt.
    Herr Wicht hingegegen ist zwar offenkundig ein Frankfurter aber ebenso offensichtlich alles andere als ein Würstchen – eher eine Wucht von Blogger, wie auch in seinem aktuellen Text nicht zu überlesen.
    Ich warte noch sehnlichst auf einen Kommentar zum Hirnforschungsvortrag von Prof. Metzinger in Frankfurt, Herr Wicht: Haben Sie die Anreise trotz ÖPNV geschafft?? Lassen Sie das Äffchen springen!

  4. @ Hoppe

    Der zunächst andeutungsweise erhobene und dann in ein Lobeswort verwandelte Vorwurf des Würstchenseins schmeichelt mir. Danke. Wiewohl ich zugeben muss, dass ich wurschtig genung war, NICHT zu Metzingers Vortrag zu fahren. Es reut mich aber…

    Ob es die schiere binokulare Rivalität ist, das weiss ich nicht. Es ist nämlich so, dass – nach Erzeugung des Überlagerungsbildes – einzelne Formen der rechten und linken “Originalreihen” verschwinden und wieder auftauchen. Selten oder nie aber verschwindet die ganze rechte oder linke Reihe (was in der Tat für binokulare Rivalität spräche), und in der Überlagerungsform kann, selbst wenn eine ihrer Urspungsformen aus dem Bewusstsein gerät, die Mischfarbe dennoch erhalten bleiben.

    Ich denk’ also schon, dass es “Rivalität” auf einem Niveau “jenseits” der reinen optischen Zentren des Gehirnes ist, zumindest auch jener Zentren, die mit Aufmerksamkeit zu tun haben.

  5. @ Hilsebein

    Dietmar,
    schimpf’ mich nicht, das tut schon meine Frau.

    Nietzsche hat ja recht, aber Shakespeare wusste es schon früher (nur das “perchance a dream” am Ende würde ich rauslassen, und das “not to be” nicht, wie Shakespeare, mit “death” gleichsetzen):

    “To be or not to be, that is the question:
    Whether ’tis nobler in the mind to suffer
    The slings and arrows of outrageous fortune,
    Or to take arms against a sea of troubles,
    And by opposing, end them? To die: to sleep;
    No more; and by a sleep to say we end
    The heart-ache and the thousand natural shocks
    That flesh is heir to, ’tis a consummation
    Devoutly to be wish’d. To die, to sleep;
    To sleep: perchance to dream: ay, there’s the rub!”

  6. Meditation

    Helmut, das ist ein toller Selbsterfahrungsbericht. Ich fasse zusammen: Meditation macht sprachlos, isoliert, einsam und provoziert Gewalt. Hm, das wäre eigentlich genau das richtige für mich. 😉

  7. @ Huhn

    Sarkast, elender!

    Ich mag Sarkasten … und wie Du siehst: ich hatte ein kleines “OMM”, und was passiert: ich schwätze hinterher um so munterer drauf los, habe jede Menge netter Gesprächspartner, wiewohl ich doch einsam am Rechner sitzen sollte, um meine eigentlichen Aufgaben zu erledigen.

    Hm.

    Um in der Affenmetapher zu bleiben:
    (postmeditativer Kater)
    “Gar fröhlich dann das Äffchen hüpft,
    wenn’s erst wieder losgeknüpft.”

  8. @ Wicht

    “Nietzsche hat ja recht, aber Shakespeare wusste es schon früher”

    Natürlich. Gibt es denn etwas Neues unter der Sonne? Es muß nur wiederentdeckt und in unsere Sprache übersetzt werden. Ich schaue nach rechts und schaue nach links und erkenne: “alles ist Windhauch” So sattle ich mein Pferd und trabe weiter.

  9. Meine Erklärung

    Lieber Prof.Wicht,

    Ein interessantes Experiment, das zum Nachdenken führt.
    Die Augen müssen dabei nicht konvergent schielen, sondern divergent die Sehachsen aus der binokularen Fixierung in die völlig ungewohnte parallele Stellung bringen.
    Dann sieht jedes Auge die gleiche Figur, nur in verschiedenen Farben, und die stereoskopisch übliche Verschmelzung der beiden Eindrücke im Cortex ergibt die einfarbische Mischfigur.
    Die willkürliche Parallelstellung der Sehachsen ist für uns sehr ungewönlich, sie muß gegen den normalen Fixierszwang gehalten werden, was nur mit größter Aufmerksamkeit möglich ist.
    Dabei ist die virtuelle dritte Figur allerdings ein gut wirksames Feedback; die Konzentration auf die mittleren Figuren fällt uns leicht und sie erzwingt die parallele Ausrichtung der Sehachsen.
    Der meditativ-zeitlose Aspekt ist wohl eine Folge der starken Konzentration der Aufmerksamkeit.
    Es gibt übrigens auch bunte Bilderbücher, welche mit gleicher Technik betrachtet aus chaotischen Strukturen zu dreidimensionalen Bildern führen.
    Es ergeben sich die Fragen, ob das Phänomen auch mit anderen Formen (Oval, Dreieck usw.) und anderen Farben funktioniert. Ich plädiere für ja, solange die Figuren gleich und im Augenabstand sind.
    Und noch etwas: Wikipedia ist doch gar nicht so übel; was Eco nicht beschrieb und Wicht nicht kannte, können wir dort eventuell finden.

    Mit freundlichen Grüßen
    Steffen Rehm

  10. Nachtrag

    Das Ungewöhnliche ist nicht allein die Parallelstellung der Sehachsen, denn die wird ja beim Blick in die Ferne annähernd erreicht.
    Sehachsen in die Ferne und den dioptrischen Apparat in die Nähe einstellen (Akkommodation) ist die gegen alle Gewohnheit gerichtete Schwierigkeit, für die viel Konzentration nötig ist.

    S.R.

  11. Kopfschmerz

    Woran liegt es, dass ich lediglich Kopfschmerzen bekomme, wenn ich auf die Tafeln schielend schaue?

  12. @ Göldner -Kopfweh

    Warum Kopfweh?

    Deine Hemisphären sind dermassen unbalanciert (die rechte vermutlich seit Jahren off-line), dass bei der Wiederinbetriebnahme – in Analogie zum untrainierten Muskel – ein sogenannter Hirnkater resultiert.

    Die Schielerei will gelernt sein. Das muss ganz LOCKER kommen.

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