(Dietrich Starck und) das Kopfproblem (III)

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Im zweiten Teil sahen wir, was die Neuroanatomie zur Lösung des Kopfproblems beizutragen hat. Auf den ersten Blick – die Lösung: Hirnnerven sind modifizierte Rumpfnerven, Kopf und Rumpf haben also einen gemeinsamen (Nerven-)bauplan. Auf den zweiten Blick aber: Verwirrung. Sobald man sich die Nerven genauer beschaut, sie nicht nur als reine "Strippen" nimmt, sondern ihre Zusammensetzung analysiert, stellt sich heraus, dass Kopf- und Rumpfnerven sehr verschiedene Dinge sind. Um es in Goethes Diktion – immerhin der Erfinder des Problems – zu sagen: "Hier steh’n wir nun, wir armen Thoren, und ha’m uns in Details verloren!"

Das war alles ziemlich negativ – wenden wir uns, gegen Ende meines Vortrages, den positiven Seiten zu, darunter auch der Rolle, die Dietrich Starck für das Problem gespielt hat.

Eine der positiven Seiten versteckte sich schon implizite in dem, was ich bislang ausführte: das Kopfproblem ist – selbst wenn es unlösbar sein sollte – ein ungeheuer mächtiger Integrator einer Fülle von Daten, die ansonsten ganz disparat im Raume stünden. Und das war auch die Rolle, die Dietrich Starck spielte: die eines mächtigen Integrators von Daten, eines Sammlers und Komparators der disparatesten Befunde.

Und seine Antwort auf das "Kopfproblem?"

Ich denke, dass ihm das, was ich hier vortrug, gefallen hätte. Auch er war der Ansicht (ich zitiere), "dass ein grundsätzlicher Gegensatz zwischen Branchial- und Spinalnerven" bestünde, "dass starre Segmenttheorien des Kopfes überholt seien", dass "die Organisation des Kopfes und des Rumpfes grundsätzlich verschieden" seien.

Statt dessen – das obige Bild stammt von ihm – schlug er ein Organisationsschema vor, in dem sich verschiedene Metameriereihen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun haben, überlagern. Die prosencephale Region kommt weitgehend ungegliedert daher. Die rhombencephale Region wird von der Branchiomerie gegliedert und der Rumpf wiederum von der Myomerie der Somiten, die mit der Branchiomerie nichts gemein hat. Das Rhombencephalon selbst, das Rückenmark auch, erschienen ihm ungegliedert, es sei am Rumpf die Myomerie, am Halse die Branchiomerie, die den peripheren Nerven ihr iteratives Muster aufzwänge.

Und dann schreibt er einen Satz, den man eigentlich immer schreibt, wenn man sich einem so komplexen Problem nähert – man relativiert seine eigene Hypothese. "Ein Fortschritt", so schreibt er, "ist nur zu erwarten wenn morphologische, entwicklungsphysiologische, teratologische, embryologische und genetische Erkenntnisse zu einem Gesamtbild der Vorgänge synthetisch verarbeitet werden."

Das schrieb er vor einem guten halben Jahrhundert. Und recht hat er gehabt, der Fortschritt ist eingetreten, er kam aus der Genetik  – aber die Klarheit kam nicht mit.

Die Rhombomeren, die Segmente des Rhombencephalon, es gibt sie nämlich DOCH, und auch das Rückenmark ist intrinsisch segmental gegliedert.

Und, ärger noch: die ganze "rhombencephal-branchiomere" Region Starck’s wird – früh in der Ontogenese – von EINEM Gliederungsprinzip beherrscht, über alle Keimblätter, über Kiemendarm, Neuralrohr, Neuralleiste, Ekto- und Mesoderm hinweg – dem Code der Hox-Gene. Und nochmals ärger – dieser Code ist es auch, der die regionale Identität am Rumpf spezifiziert, also bewirkt z. B. bewirkt , dass ein thorakaler Wirbel einer des Brustkorbes werde, und keiner der Lende.

Also doch Kopfsegmente?

Ich fang jetzt nicht nochmal von vorne damit an, die Argumente aufzudröseln, von Neuralleiste zu reden und von Plakoden, von den anderen regulatorischen Genen, die mal segmentiert, mal unsegmentiert daherkommen, vom Lanzettfisch, bei dem wieder alles anders ist – dafür reicht weder die Zeit noch meine Expertise.

Statt dessen will ich meinen Vortrag mit zwei Thesen zum Kopfproblem schliessen, die mir wichtig sind. Beide klangen oben schon an:

1) Das Kopfproblem, so abgedreht es auch erscheinen mag, ist ein wichtiger Integrator für disparate Befunde. Es vereinigt verschiedenste Disziplinen und ermöglicht es erst, deren Ergebnisse in Bezüge zu setzen.

2) Dem Kopfproblem fehlt momentan jemand wie Dietrich Starck. Jemand, der die Bezüge, die Integration, die Synthese des "state of the art" zusammenbringt, ohne die Historie aus den Augen zu verlieren. (siehe Fussnote) Mit dieser Doppellaudatio des Problems und seines Bearbeiters möchte ich schliessen. Ich danke für Ihre Geduld.

 

Fussnoten:

Der obige Vortragstext ist drei Jahre alt. Mittlerweile ist mir diese aktuelle Synopse in die Hände gefallen:

T.J. Horder, R. Presley, J. Slipka (2010): The head problem. The organizational significance of segmentation in head development. Acta Universitatis Carolinae, Monographica CLVIII, The Charles University in Prague Karolinum Press. 

Die Zitate der Abbildung und Texte Dietrich Starcks stammen aus:

D. Starck (1963) Die Metamerie des Kopfes der Wirbeltiere. Zoologsicher Anzeiger, 170: 393-428

D. Starck (1975) Embryologie. Ein Lehrbuch auf allgemeinbiologischer Grundlage. Thieme, Stuttgart.

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

1 Kommentar

  1. Problemkopf am Schopf

    Text (notwendig), so steht es geschrieben. Gut.

    Weder eine anatomische Grundausbildung (über die der gemeinen allgemeinen hinaus) noch die Teilnahme an einem Präpkurs genossen, wage ich zu äußern, es verstanden zu haben; was für den Lehrenden spricht. Danke, kurzweilig und immer wieder interessant. Da ist frau fast gewillt, dem spielenden Gedanken, noch einmal die Studiumbank zu drücken, nachzugehen.

    (Schade, dass Sie Twitter den Rücken kehrten. Aber, es ist so einfach — so, einfach.)

    Herzlich

    A.

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