Der Begriffsapparat des Anatomen – eine satirische Fussnote

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Über einen schöneren, ausgefeilteren terminologischen Apparat als die Anatomie verfügt eigentlich keine Wissenschaft. Vor allem, weil's lauter Latein und Griechisch ist, und das klingt ja schon von vorneherein so furchtbar schlau. Lassen Sie mich einige Bauteile dieses Apparates, dieses feinbegrifflichen Wunderwerks, definieren und erläutern.

Da hätten wir zunächst freilich die Begriffe der Deixis (was an sich schon ein herrlicher Gräzismus ist), also die Begriffe des einfachen Zeigens, Feststellens und Benennens. Da, der Nervus peronaeus, da, das Tendo capitis longi musculi bicipitis brachii, da, die Hirnschwiele – die deiktischen Begriffe bilden den Kern der terminologischen Maschinerie. Freilich, so als echte Wissenschaft, da muss auch analysiert und synthetisiert werden. Analytische Begriffe, also die der Zergliederung und Unterteilung: wie viele herrliche, feinverflochtene Ketten von immer kleiner ineinander geschlungenen Begriffsgliedern hält die Anatomie bereit! Musculus – Fasciculi – Fibra – Fibrilla – Sarcomeren – Filamente … abwärts bis an die Grenzen der Molekularbiologie reicht das penibel gegliederte Wörterbuch, mit dem man z.B. die Anatomie des Muskels beschreibt. Und aufwärts, synthetisch, die Teile wieder verbindend, zum Ganzen fügend, von den Vesicula nuda, densa und palliata der Synapsen bis zum denkenden Gehirn, bis vor die Tore der Philosophie schwingen sich die anatomischen Begriffe auf, die das Zerteilte wieder zum Ganzen fügen. Und endlich, endlich die köstlichen Termini der theoretischen Durchdringung all dieser Deixis, dieser Analysen und Synthesen, die Konzepte der Anatomie: Vegetatives und Somatisches, Pyramidales und Extrapyramidales, Sympathisches und Parasympathisches, und wie sie alle heissen, die herrlichen Theoriegebäude, deren Namen und Glanz den Laien verwirren.

Die Praxis der Anatomie ist der tägliche Präparierkurs zusammen mit den Studierenden. Da müssen mitunter gewisse Abstriche gemacht werden – es geht ja um die Praxis, nicht um irgendwelche Begriffsverliebtheit um der schieren Schönheit der Termini willen. Es werden also einige neue, knappe, aufs wesentliche reduzierte, dem handwerklichen und intellektuellen Geschick der Studenten (und vieler Dozenten) Rechnung tragende Definitionen fällig:

Anatomischer Begriffsapparat, für alle sichtbaren Strukturen anwendbar:
Pinzette
Analytischer, zergliedernder Apparat:
Skalpell, mitunter auch Pinzette (sofern damit man zu heftig an Nerven zerrt)
Synthetischer, zusammenfügender Apparat:
Bindfaden, auch Sekundenkleber hat sich bewährt
Theoretischer Apparat:
"Also theoretisch könnt' ich schwör'n, dass der Nerv da gestern noch dran war … den hat jemand anders abgeschnitten!"

"Encheiresin naturae, nennt's die Anatomie;
spottet ihrer selbst, und weiss nicht wie."

Klar, das Zitat ist – leicht verändert – aus des Geheimrats "Faust" geklaut. "Encheiresin" heisst übrigens "in die Hand nehmen" oder "begreifen". Und ich will's vorsichtshalber mal offen lassen, ob ich Goethes Sarkasmus auf die Theorie oder die Praxis der Anatomie bezogen haben will.
"Deus est ineffabile", und die Welt, so denk' ich manchmal, auch. "Impracticabile" ist sie sowieso.

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

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