Der Klang der alten Lieder

BLOG: Denkmale

Es gibt etwas zu sehen
Denkmale

Schon da, wo sie fassbar – zum Beispiel in Form von Mauerresten – oder anschaulich – zum Beispiel auf Gemälden – erscheint, ist das, was wir über die Vergangenheit mit Sicherheit sagen können, oft verblüffend wenig.

Kein Wunder, dass erst recht die Versuche im Vagen bleiben müssen, Flüchtiges zu rekonstruieren. Das trifft auf den Geschmack zu (Holzofenbrot), aber genauso auch auf den Klang alter Musik. Zwar gibt es etwa seit dem 9. Jahrhundert schriftliche Aufzeichnungen von Melodien. Diese Verschriftlichung war aber vor allem für die Zeitgenossen eine nützliche Gedächtnisstütze und Ergänzung zu  schon Bekanntem – und die Aufzeichnungen galten nicht der weltlichen Musik, sondern der geistlichen. Aus heutiger Sicht lassen die damaligen Notationen viele Fragen offen – und auch die bei uns heute noch gebräuchliche, erheblich umfassendere Notation ist im Hinblick auf die historische Aufführungspraxis ja immer wieder gern umstritten.

Wie viel schwerer muss es also sein, etwa die musikalische Vortragstechnik der homerischen Epen zu rekonstruieren oder den Klang der mittelalterlichen Musik. Originale Musikinstrumente gibt es so gut wie nicht mehr – von Sensationen wie dem Fund etwa der “Trossinger Leier” aus dem 6. Jahrhundert abgesehen, die vor einigen Jahren fast vollständig erhalten und noch in spielfähigem Zustand aufgefunden wurde. Inzwischen gibt es etliche Nachbauten (Kopien, nicht Rekonstruktionen!) und verschiedene Musiker und Musikhistoriker, die versuchen, sich mit diesem Instrument der mittelalterlichen Musikpraxis anzunähern. Zu den renommiertesten gehören Stefan Johannes Morent und Benjamin Bagby. Ich empfehle eine ganz kurze Zeitreise zu zwei ganz unterschiedlichen Versionen davon, wie mittelalterliche Musik sich – vielleicht – angehört haben könnte:

Zunächst ein kurzer Videoausschnitt von Benjamin Bagby:

 

Stefan Johannes Morent gibt auf der Webseite des von ihm gegründeten Ensembles „Ordo virtutum“ einen Überblick über verschiedene von ihm erarbeitete Stücke. Ein (wie der Beowulf von Bagby) episches Stück – eine Passage aus dem althochdeutschen Georgslied – fängt bei Minute 1:03 an.

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Ich bin Kunsthistorikerin und arbeite freiberuflich als Redakteurin/Lektorin/Autorin. Dieser Blog enthält Überlegungen und Informationen, die ich sonst nirgendwo unterbringe. Die aber rauswollen.

5 Kommentare

  1. Neues Wort:(“Rekonstr.”)! – Selbe Leier?

    Eva Bambach schrieb (01. November 2012, 19:34):
    > “Trossinger Leier” aus dem 6. Jahrhundert […], die vor einigen Jahren fast vollständig erhalten und noch in spielfähigem Zustand aufgefunden wurde.

    (Nebenbei bemerkt: Laut http://de.wikipedia.org/wiki/Trossinger_Leier waren

    Reste der vermutlich aus Darm bestehenden Saiten […] nicht
    erhalten.

    )

    > Inzwischen gibt es etliche Nachbauten (Kopien, nicht Rekonstruktionen!)

    Eine nähere Erklärung des Unterschiedes würde mich sehr interessieren; insbesondere natürlich, diesem SciLog entsprechend, aus kunstgeschichtlicher Perspektive.

    (Zur vollständigen Offenlegung des Kommentar-Hintergrundes:
    der Begriff des “Kopierens” bzw. “Klonens” tritt auch im Fachbereich Physik auf;
    die Gegenüberstellung eines Gegenteils, wie z.B. “Rekonstruktion” oder
    “Gleichwertigkeit” oder “Nachvollziehbarkeit”, kommt dabei aber kaum zum Ausdruck.)

  2. Rekonstruieren oder kopieren?

    Wie es sich in der Physik verhält, weiß ich nicht. In der Denkmalpflege ist eine Rekonstruktion die Wiedererstellung von Verlorengegangenem – notfalls auch ganz ohne Originalfund. Eine Kopie oder Reproduktion kommt ohne Spekulation aus – sie ist die Nachbildung eines Originals, gegebenenfalls mit den entsprechenden Fehlstellen.

  3. Harmonie der Interdisziplinarität

    Eva Bambach schrieb (02.11.2012, 12:16):
    > In der Denkmalpflege ist eine Rekonstruktion die Wiedererstellung von Verlorengegangenem – notfalls auch ganz ohne Originalfund. Eine Kopie oder Reproduktion kommt ohne Spekulation
    aus – sie ist die Nachbildung eines Originals, gegebenenfalls mit den entsprechenden Fehlstellen.

    Danke; insbesondere den Hinweis auf “Fehlstellen” finde ich interessant.

    Zwischen “Kopie” und (noch vorhandenem) “Original” können demnach auch (noch) Vergleiche gezogen werden, die nicht an eventuellen überlieferten Beschreibungen des
    “zeitgenössischen Originalzustandes an sich” orientiert sind;
    während sich eine “Rekonstruktion” besonders auf solche Überlieferungen stützen würde.

    (Eine “Rekonstruktion” könnte man wohl auch “geeignet nachaltern lassen”; aber die dadurch nachgestellten/spekulativen “Fehlstellen” gingen wiederum mit Individualisierung bzw. Unterscheidbarkeit einher.)

    > Wie es sich in der Physik verhält, weiß ich nicht.

    In der Physik wäre mit “Kopie” offenbar das Selbe gemeint wie in
    Kunstgeschichte/Denkmalpflege (wobei die “Güte” von Kopien entsprechend dem
    No-Cloning-Theorem” einschränkt ist);
    und “Rekonstruktion” entspricht wohl “Eigenzustand, entsprechend bestimmten vorgegebenen/überlieferten Eigenwerten kompatibler Messoperatoren”.

  4. @Frank Wappler

    Danke für den Hinweis auf das No-Cloning-Theorem – da habe ich jetzt was zum drüber Nachdenken fürs Wochenende. Klingt spannend.

  5. Die empathische Lücke: Wer waren sie? ..

    die Altvorderen. Nur schon unsere Eltern. Was für sie selbstverständlich war, können wir nur erahnen, vielleicht nachvollziehen, aber nicht wirklich nachfühlen. Es gibt also so etwas wie den Terror der Gegenwart. Nur sie – die Gegenwart – können wir verstehen und erfühlen. Die Vergangenheit ist immer eine Erfindung – vergleichbar mit Woody Allens Radio Days. Eine Verklärung im günstigsten Fall, eine nebelverhangene Landschaft im Normalfall.

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