Wahl-O-Matismus oder Parteiprogramm-Topimierung
BLOG: WILD DUECK BLOG
Die Würfel sind gefallen. Die Wahl ist getroffen. Die Stimmen verteilen sich bei der Bundestagswahl auf mehrere Parteien, sie dekonzentrieren sich. Die Würfel sind gerollt und gefallen: Ich kenne viele, die heute Morgen am Wahltag gar nicht so genau wussten, was sie wählen sollten. Sie suchten Rat beim Wahl-O-Mat. Der schlug vor, manchmal ganz unerwartet. „So also bin ich?“, fragten sich manche.
Die Fragen vom Wahl-O-Mat sind ja bekannt. Wenn also eine Partei die Wahl gewinnen will, muss sie zu den Fragen des Wahl-O-Mates geschickt in ihrem Parteiprogramm so antworten, dass der Wahl-O-Mat die Wahl dieser Partei empfiehlt.
Ich weiß ja nicht, was die Parteien da so machen, aber ich könnte sagen, was ein nüchterner Mathematiker wie ich anstellen könnte und würde, wenn er keine Moral hätte. Mathematiker haben aber leider zu oft eine Moral und Politiker verstehen nichts von Mathematik. Daher ist es unwahrscheinlich, dass so gehandelt wird, wie ich mir das denke.
Etwa so: Fast alle Unternehmen haben Spezialkräfte, die nichts anderes tun als Nachhaltigkeitsberichte, Agilitätsvorhaben, Corporate-Social-Responsibility-Projekte, Gleichstellungsprospekte und Handelsbilanzen zu pimpen. Es gibt also eine große Erfahrung, Unternehmen in allen Aspekten gut herauszustellen, ohne eigentlich in der Sache viel tun zu müssen. Die Investoren wollen auf ihre Fragen hochbefriedigende Antworten. Die bekommen die „dummen“ Aktionäre auch, egal welches Unternehmen wo wozu was produziert. Kennen Sie den unter Kapitalanlegern berüchtigten Aphorismus des Bankiers Carl Fürstenberg?
„Aktionäre sind dumm und frech: Dumm, weil sie Aktien kaufen, und frech, weil sie dann auch noch Dividende haben wollen.“
Diese saubere Argumentationslinie kann ja auch für die Politik verwendet werden.
„Wähler sind dumm und frech: Dumm, weil sie diese Partei wählen, und frech, weil sie dann auch noch die Erfüllung der Versprechen von ihr erwarten.“
Ich erkläre es etwas abstrakter: Es geht um das Topimieren, das inverse Optimieren.
Bei Optimieren versucht man, die beste aus vielen oder allen Möglichkeiten herauszufinden. Der Wähler sucht also per Wahl-O-Mat die beste Partei heraus. Der Wahl-O-Mat ist gewissenmaßen die Optimierungssoftware, die er verwendet, um sein persönliches Optimum zu errechnen. Auf der anderen Seite des Optimierers agieren die Topimierer. Sie sind bemüht, die von ihnen selbst angebotene Möglichkeit als beste für möglichst alle Optimierer herauszustellen. Die Topimierer stellen ihren Status Quo als „TOP!!“ hin. Zum Beispiel: Das Unternehmen zeigt seine Schokoladenseite oder putzt sich für die Aktionäre heraus. Und ebenso topimieren die Parteien ihr Wahlprogramm derart, dass es beim Wahl-O-Mat als das beste erscheint.
Daher sind nun alle Parteien für Gerechtigkeit oder für Fortschritt, ja sogar für Digitalisierung! Echt! Digitalisierung! Wo wir doch alle wissen, dass sie im Bundestag ihre alten PCs zum Virenzüchten nutzen und später an Museen verkaufen. Aber der Wahl-O-Mat-Algorithmus bekommt nur ausgesprochen artige Antworten aus dem Parteiprogramm. Alles klar?
Die Würfel rollten und sind nun gefallen. Weil wir uns zufällig für irgendwelche sorgsam geplanten Partei-Top-Antworten entschieden haben.
Ich habe eben noch einmal den Wahl-O-Mat geärgert und überall neutral angeklickt. Da antwortet er, er weiß nicht, was ich wählen soll. Wenn also Wählern alles egal ist, hilft der Wahl-O-Mat nicht weiter. Der Egalo muss dann wohl würfeln.
Das Ergebnis von heute Abend sieht jedenfalls so aus, als wäre es durch allseitige Topimierung entstanden.
Könnte man nicht einen Partei-O-Mat bauen? Also einen Algorithmus, der aus zum Beispiel Ihren ureigenen Überzeugungen ein Parteiprogramm zusammenstellt, das genau zu Ihren Überzeugungen passt? Dann käme bestimmt heraus, dass es im Prinzip doch gute Parteien geben könnte, die von Herzen wählbar wären. Ohne Wahl-O-Mat.
Der Partie-O-Mat wäre natürlich spitze.
Nur: Wenn man bei dem Einen nicht weiß, dann kann beim Anderen auch nicht viel mehr rauskommen oder?
Algoritmenlogik…
Apropos:
Wenn ich einen fest definierten Eingangsdatensatz habe, der mit einem fest definierten Algoritmus berrechnet wird…
Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis mehrerer Berechnungen unterschiedlich ausfällt?
Mindestens genauso gut wäre natürlich ein Wahl-O-Mat, der statt der Versprechen der Parteien deren tatsächliches Abstimmungsverhalten beurteilen würde…oh, Moment, den gibt’s ja schon:
Die Ergebnisse sind allerdings zumindest in meinem GooglePlus-Kreis so nah am Wahl-O-Maten, dass dieser allem Anschein nach gar nicht so schlecht programmiert wurde.
Was zu dieser interessanten These nicht passt:
der Wahl-O-Mat wurde ja erst NACH Veröffentlichung der Parteiprogramme von einem Team aus Erstwählern und Politologen entwickelt. Die Fragen wurden so formuliert, dass Unterschiede zwischen Parteien sichtbar werden sollten. Deshalb sind die Fragen auch für jede Wahl individuell.
Bisher war es bspw. keine Frage wert, ob der Holocaust Teil unserer Erinnerungskultur sein soll oder ob das Strafmündigkeitsalter auf unter 14 Jahre abgesenkt werden soll. Diese Fragen haben wir einer bestimmten Partei zu “verdanken”.