Einsicht ist gut, Regeln sind besser

Der Zug aus Köln fährt in Mannheim ein. Einsteigen. Es geht pünktlich los. Sensation! Zehn Minuten später wird durchgesagt, dass die Toilettenspülung ausgefallen ist und der ICE daher seine Fahrt in Karlsruhe beenden muss. „Sie haben folgende Verbindungen …“ Das ist doch nicht vernünftig? Aber wohl Vorschrift. Die Bahnkunden, die mal müssen, haben nun den Druck auf dem Bahnsteig, nicht im Zug. Das ist erlaubt. Ich fragte noch zum Abreagieren von Aggression, ob wir nicht einfacher alle aussteigen lassen, die mal müssen, und dann weiterfahren? Böser Blick.

Oder: Das Frühstück steht auf dem Tisch. Ich bin krank, ich nehme eine Aspirin. Sofort kommt Tadel: „Das nimmt man nach der Mahlzeit.“ – „Wieso?“ – „Alle wissen das, nur du nicht.“ – „Hör mal, Acetylsalicylsäure und Ascorbinsäure sollen nicht allein im Magen sein, weil es Säuren sind. Das ist der Grund für diese Regel. Wenn ich jetzt aber ein paar Sekunden später etwas esse, löst sich die Tablette nicht allein im Magen auf. Alles gut.“ – „Woher willst du denn das wissen mit der Säure?“ – „Weiß ich. Ist doch aber klar.“ – „Nein, die Regel ist …“ – „Die Regel wird für Leute gebraucht, die sich nicht auskennen.“

Oder: Das Flugzeug darf nicht starten, weil ein Crew-Klappsitz (für Start und Landung) nicht runterklappt. Reparaturversuche scheitern. Ich schlage vor, dass sich die Flugbegleiterin neben einen Passagier setzt. Das ist streng verboten!! Aha? Einer mit vielen Streifen auf dem Jackett entscheidet, ohne die Flugbegleiterin zu fliegen. Da aber für je 60 Passagiere immer ein Flugbegleiter dabei sein muss, müssen nun 60 Passagiere aussteigen. Sie wissen aber nicht, nach welchem Verfahren sie das entscheiden. Sie holen sich Rat von einem was weiß ich Lufthansavorstand. Alle müssen aussteigen, wieder einchecken. Ich durfte mit, das wusste ich, denn ich hatte einen Koffer aufgegeben. Sie werden doch nicht so dumm gewesen sein, die Koffer neu zu sortieren? So sicher war ich nicht, ich zitterte etwas. Irgendwann flogen wir.

Oder: In eine Super-Mega-*****-Klinik kommen die Hoffnungslosen, die alle normalen Therapien erfolglos hinter sich haben. Ein Super-Star-Arzt findet dort endlich das Problem, stellt die richtige Diagnose und gibt sie in den Computer ein. Der sagt: „Patienten mit diesen Daten haben normalerweise xy. Wollen Sie das überschreiben?“ – „Ja.“ – „Wirklich?“ – „Ja.“ – „Dann schreiben Sie mir ein Gutachten dazu, warum Sie abweichen.“ In diese Klinik kommen diejenigen, an den alles ausprobiert wurde. Nun bekommen sie fast immer eine Diagnose, die der Computer nicht akzeptiert. Also schreiben die raren *****-Ärzte hauptsächlich Aufsätze.

 

Quelle: Pixabay

 

Das Einengen unserer Entscheidungsmöglichkeiten durch eiserne Vorschriften führt zu Entmenschlichung unserer Arbeit und bereitet deren Automatisierung vor. Wenn es nichts mehr zu entscheiden gibt, braucht’s keinen Menschen für Anspruchsvolles mehr. Einsicht schadet dann, weil sie gegen optimierte Prozesse ohnmächtig ist. Gediegenes Wissen macht wütend. Man muss die Regeln einhalten und darf nie abweichen. So managt man eben alle Leute, ohne voraussetzen zu müssen, dass sie auch nur einen Funken Bildung mitbringen.

Der große Philosoph Georg Christoph Lichtenberg „zitierte“:

 

Der Pfarrer sagt: „Du sollst nicht stehlen wollen.“

Der Schlosser sagt: „Du sollst nicht stehlen können.“

 

Einsicht/Ethik wird durch Zwang ersetzt. Die heutige Bürokratie geht noch weiter. Für den Fall, dass die Schlösser nicht reichen, muss vorgesorgt werden.

 

Der Bürokrat sagt: „Du musst stets dokumentiert haben, dass du nicht stehlen konntest.“

 

Ich erinnere an mein visionäres Buch „Lean Brain Management.“ Dringend noch einmal ans Herz gelegt!

 

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

13 Kommentare

  1. Regeln, Prinzipien, sind nicht schlecht, rein praktisch, damit nicht immer wieder individuell neu überlegt werden muss, sie sollten aber stets als möglicherweise falsch in Betracht gezogen bleiben.

    Wobei bei der Falsch-Feststellung dieser Regeln einem Vorgang gefolgt werden darf, der idealerweise bereits vorgesehen ist, gesellschaftlich oder bspw. auch im Rahmen einer Unternehmenskultur.

    Mit freundlichen Grüßen, HO, HO, HO und so,
    Dr. Weihnachtswebbaer

  2. Regeln entlasten (davon Verantwortung zu übernehmen natürlich).
    Verbote entlasten (davor dummes Zeug zu tun, weil man es darf).

    Dazu lese man Richard David Precht: “Die Menschen lieben Verbote”

    Precht: Ich glaube, es geht leichter, als Sie denken. Die Menschen lieben Verbote. Das ist etwas, was Politiker nicht verstehen. Die meisten Leute sind natürlich erst einmal dagegen, aber nachher sind sie froh, dass es die Verbote gibt. Denken Sie nur an das Verbot, in öffentlichen Räumen und Gaststätten nicht mehr rauchen zu dürfen. Wie haben viele gesagt: Das kann man in Deutschland nicht machen, das werden sich die Menschen sich nicht verbieten lassen! Die Mehrheit war gegen das Rauchverbot. Und heute? Es ist geradezu unvorstellbar, dass man mal überall mal rauchen durfte und dass Ihnen jemand im Restaurant seinen Zigarrenqualm ins Gesicht bläst. Bei einer Umfrage wären die meisten heute für das Verbot!

  3. Man lese: Ich will Verbote! mit der Einführung

    Wir leben über unsere Verhältnisse. Deshalb brauchen wir jemanden, der uns auf die Finger haut. Anders ist die Welt nicht zu retten, sagt unser Autor.

  4. Kollektivisten lieben Verbote, diejenigen, die dem philosophischen Individualismus folgen, lieben Gebote, oder Anstand.
    Vgl. auch mit den zehn Geboten.
    >:->

    Vgl. auch mit FFF (“Fck for Forest” – so etwas gab es bereits, hier gerne bedarfsweise gerne mal selbst recherchieren), wo dann junge Leutz mit Plakaten herumliefen auf denen doch sage und schreibe stand : “Verbietet uns etwas!”

    Opi, der schon längere Zeit im Geschäft ist, fühlt sich hier an “Lieber rot als tot!” erinnert, lol,
    MFG + schöne Weihnachtszeit schon einmal,
    Dr. Webbaer

  5. Zu Dr. Webbaer
    “Kollektivisten lieben Verbote…”
    Der Kollektivist geht dann wahrscheinlich davon aus, dass er dem Individualist, der glaubt, dass er an jeden Baum pinkeln kann, weil er als Alpha -Tier sein Revier markieren möchte, dieses im Interesse der Allgemeinheit verbietet. Individualisten halten sich in der Regel nicht an die Regeln, nicht einmal an die zehn Gebote, es sei denn, sie können sich damit profilieren , Geld verdienen oder Macht ausüben.Verbote sind dann sozusagen notwendig, um diese verlogene “Pinkelei ” dieser Umweltzerstörer zu unterdrücken…

    • Der Kollektivist definiert Freiheit in der Regel positiv, das Individuum darf dieses oder jenes machen, der (philosophische) Individualist negativ, das Individuum darf einiges nicht machen ohne Strafe fürchten zu müssen, den Rest darf es ohne dieser Furcht tun.

      Der philosophische Individualismus / Liberalismus hat ja auch in sog. Liberalen Demokratien gewonnen, was wohl am “Sapere aude!” liegt, das sozusagen Schwarmintelligenz freisetzen konnte und für kompetitive Auseinandersetzung sorgte, auch im Wirtschaftlichen und insbes. auch in der Wissenschaft.
      Was dieser Staatsform als Alleinstellungsmerkmal zum Durchbruch verholfen hat. (Klar, die real existierende liberale Demokratie ist oft mangelhaft, die BRD bewegt sich aus diesseitiger Sicht hier nichts sehr günstig, Dr. Webbaer unterstellt den Deutschen gerne mal geborene Kollektivisten zu sein.)

      Dem Anstand widersetzt sich der Liberalist nicht, er ist auch sozial, er muss sozial sein, denn er setzt auf Kooperationsverhältnisse und auf die Weiterentwicklung der Staatlichkeit.
      Also auch die ‘Regeln’ meinend, die er immer wieder hinterfragt, in einem gesellschaftlichen Diskurs, manchmal, nur manchmal auch verletzt.
      Er ist für Kollektive und gegen den Kollektivismus.

      Mit freundlichen Grüßen
      Dr. Webbaer

  6. Herr Dueck,
    ich finde Ihren Artikel amüsant im Sinne von Tragikomik. Mein Tipp aus Erfahrung: Leben Sie möglichst die meiste Zeit minimalistisch und teilisoliert in einer Nische.

    Übrigens, das implementierte Rechtschreibprüfprogramm für Kommentare “kennt” weder Dueck noch minimalistisch und auch nicht teilisoliert.

    Ist das schon ein Ergebnis deutscher KI oder noch “klassischer” Algorithmus?

  7. Querdenker,

    (am Rande bemerkt:) …was meinen Sie mit 10 Geboten? Sie meinen höchst wahrscheinlich die weit verbreitete euphemistische Deutung dieser.

    ABER *Jesus beschränkte seine Gruppe der Erretteten streng auf die Juden, in dieser Hinsicht stand er in der alttestamentlichen Tradition, eine andere kannte er nachweislich nicht. „Du sollst nicht töten“, bezog sich ausschließlich auf Juden. Es hieß vielmehr ganz gezielt: Du sollst keine Juden töten. Die gleiche Ausschließlichkeit beinhalten alle Gebote, in denen von deinem «nächsten« oder »deinem Nachbar« die Rede ist. »Nachbar« bedeutet Mitjude.

    *Der Gotteswahn, Kapitel: Liebe deinen Nächsten, Seite 353

    Weiterführendes**
    1. Gebot „Du sollst keine anderen Götter neben mir haben“
    Wie Richard Dawkins u.a. ausführt: …“Nicht zuletzt verstößt das erste Gebot auch bereits gegen unsere Verfassung und die allgemeinen Menschenrechte (Prinzip der Religionsfreiheit). Niemand hat mir vorzuschreiben ob – und wenn ja, wie viele Götter ich verehren soll.

    5.Gebot
    „Du sollst nicht töten“

    Gleich nachdem er den Israeliten gesagt hatte, sie sollen nicht töten, befahl er ihnen, zu töten. Die Israeliten sollten in den Krieg gegen die Kanatiter ziehen um alle zu töten, „auch die Frauen und Kinder und auch das Vieh.“
    Im Kontext heißt „Du sollst nicht töten“ folglich nur: „Du sollst keine Mitglieder deiner eigenen Sippe töten“. So hat das Gott damals gemeint, so hat er es praktiziert, mit der Versklavung und Ermordung von Nicht-Israeliten hatte er über die gesamte Bibel hinweg nie Probleme gemäß der zahlreichen Bibelautoren gehabt.

    9. Gebot
    Das neunte Gebot „Du sollst dir kein Bildnis von mir [deinem Gott] machen“ dient wieder einzig und allein dem Eigennutz Gottes und verstößt auch wieder gegen die Meinungs- und Kunstfreiheit. Konsequent zu Ende gedacht verbietet es sogar jeden konkreten Theismus, also auch den Glauben des Judentums und den des Christentums, die beide ein sehr konkretes Bild eines personalen, allmächtigen Gottes zeichnen.

    **Quelle https://de.richarddawkins.net/articles/die-10-gebote
    … und siehe auch die Ausführungen der giordano bruno stiftung zu den 10.Geboten https://www.giordano-bruno-stiftung.de/sites/gbs/files/download/10angebote.pdf

  8. The Dalai Lama: “Know the rules well, so you can break them effectively.”

    Doch was bedeutet es in Deutschland die Regeln zu brechen?
    Und was bedeutet es, Regeln einfach nicht zu beachten? (wird man gleich behandelt wie ein Betrunkener?)

  9. Mein Eindruck: Nur wenig Deutsche können sich mit generell höheren Preisen für Kohle, Öl und Erdgas anfreunden (hei ich muss doch heizen, Auto fahren, in die Ferien fliegen: das sind doch Grundbedürfnisse ), für Verbote aber von SUV’s und Inlandflügen (bei einigen auch Kreuzfahrten und Fleischverzehr) aber können sich viel mehr begeistern. Warum? Ich vermute, weil viele Deutsche das Böse mit Verboten eindämmen wollen und Böse kann ja nur der SUV des Nachbarn sein, nicht aber der VW-Golf in der eigenen Garage oder die Erdgasheizung, die das Eigenheim kuschelig warm hält.

    • Es besteht halt die Möglichkeit per sinnhaft erscheinenden, plausiblen Verboten (versus Geboten) Macht, illegitime, über Andere zu erlangen.
      Dies ist reizvoll, denn ein Entscheider in der Spitze muss nun mal nicht, wie er findet, finden muss auch, Regeln beachten, die er aufgestellt hat, denn er ist wichtig.
      Räte und Räte-Republiken leben von dieser Idee, am Schluss wird sich, wenn sich unsicher gefühlt wird, in Wandlitz-Siedlungen zurecht gefunden, in sog. Gates Communities und mit besonderer Währung und besonderen Geschäften beispielsweise.
      Honecker ließ irgendwann, sofern sich der Schreiber dieser Zeilen korrekt erinnert, auch das sog. Containern seiner Abfälle abweisen, per Gesetzestext.
      Oder durch Anweisung an sein Sicherheitspersonal.
      “Räte” verfügen idR über besonderen Schutz, der sie gegenüber bestimmten Übergriffen eben zu schützen weiß.

      Im Rat selbst steckt das Undemokratische, gerade auch sog. Experten meinend,
      MFG
      Dr. Webbaer (der übrigens Jürgen Trittin als Minister, einige Male im Zug erwischt hat, was er nett fand)

  10. Ich liebe dieses Blog; es spricht mir oft aus der Seele – wohl auch, weil ich mich ebenfalls stets für artgerechte Menschenhaltung einsetze. Mein Weg dorthin ist allerdings über ehrenamtliche außerschulische naturwissenschaftliche Bildungsarbeit (Gründung von Verein und Stiftung dafür, Organisieren von Sommerschulen etc.) und wenn man mit Menschen in der Wüste auf Karawane unterwegs ist oder irgendwo im Nirgendwo auf Reisen um den Globus oder in einem Astro-Camp, dann lernt man sie von ihrer ursprünglichsten, menschlichsten Seite kennen: Überall, wo Menschen sind, menschelt es – mal positiv, mal negativ. Ich finde es schön, hier die Sachen zu lesen, die ich selbst auch beobachte & denke und habe das (mitunter im Alltagsgetümmel rar werdende) Gefühl, dass es doch wirklich Artgenossen auch für mich gibt.