„Age of first interest“ – Bringt bei, was interessiert, nützt oder fesselt! Über Schwarze Löcher, Dinos, Ritter und Smartphones

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Wahrheiten als Querdenkerisches verkleidet, von Gunter Dueck
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Das deutsche Kind soll alles von Erwachsenen Gewünschte zum ersten möglichen Zeitpunkt können: Krabbeln, Laufen, Zahnen, Sprechen, Erfolgstopfsetzen, Dankesagen, Zimmeraufräumen, Zähneputzen. Das wird ihm beigebracht, ob es will oder nicht. „Zahn endlich! Andere Babys sind schon im Vorteil!“ Was das Kind selbst interessiert, nervt eher. „Das kannst/verstehst du noch nicht.“ Wieder anderes soll nicht interessieren. Besser nie: Sex. Diese erwachsene Haltung programmiert die Kinder, wo man sie doch entfalten könnte.

Vielleicht kann ich heute nicht gut googlen. Ich habe nach dem „Alter ersten Interesses“ für irgendetwas im Internet gesucht. „Earliest age“ oder „erstes Interesse“. Es kommen Treffer der Art „first age of intercourse“ oder „Alter beim ersten Mal“. Gibt es eine Liste, wann Dinos, Planeten, Atommodelle, Ritter, Hexen oder Computer interessieren? Könnten wir nicht immer gerade all das, was wirklich brennend interessiert, im Unterricht behandeln, wenigstens zu einem guten Teil?
Wenn Kinder etwas interessiert, fragen sie uns Löcher in den Bauch. Warum nutzen wir das nicht aus? Sie lernen dann zehn Mal schneller und viel, viel mehr. Wenn es nützlich ist, lernen Kids auch höchst langweiligen Kram, so wie etwa bei der theoretischen Führerscheinprüfung, die JEDER besteht, auch ohne Hauptschulabschluss und Alphabetentum. Was meckern wir über unsachkundigen Gebrauch des Internets durch Kids? Wir könnten verlangen, dass sie einen Internetführerschein machen, in Stufen wie beim Freischwimmen. Machen sie! Gerne! Freisurfen!

Jeder lernt gern, wenn eines oder mehreres vom Folgenden zutrifft:

•    Das Gelernte nützt und hilft weiter
•    Das Gelernte fesselt die Aufmerksamkeit oder macht Freude oder Spaß
•    Das Gelernte eröffnet eine neue Welt des Interesses

Fahrschule nützt, Erste Hilfe nützt. Hexen, Zootiere und Smartphones fesseln. Oft eröffnet Gelerntes einen neuen Blick und erzeugt ein Interesse, das lebenslang anhält. Baukästen können Ingenieure „erzeugen“, Bücher den Geisteswissenschaftler, ein Altenpflegepraktikum einen Menschenberuf. Vorbilder helfen, große Erlebnisse, Siege im Sport, Musik, Reiseerfahrungen – Begegnungen, die haften bleiben und zum Teil ungeheure Energien freisetzen: Lust, Schaffensfreude, Unternehmertum, Pflichtbewusstsein oder Selbstdisziplin.

Das Problem scheint zu sein, dass „da kein System dahinter steckt“, sonst könnten wir danach vorgehen. Unsere Erziehungssysteme tendieren aber immer mehr dazu, den Erziehungsprozess zu systematisieren und letztlich zu industrialisieren. Sie stellen sich taub gegen alle Vorwürfe dieser Art:

•    „Tödlich langweilig und nervig, viel zu abstrakt.“
•    „Nutzlos. Niemand braucht‘s im Leben, außer wer’s studieren will.“
•    „Keine Beispiele, es steht neben dem Leben.“

Immer wieder werden Leute im TV gefragt: „Was davon konnten Sie anwenden?“ Die Antwort ist stets sehr ernüchternd, auch weil man im echten Leben Wirtschaft, Psychologie, Kommunikation, Management, Jura, Geschäftsprozesse oder Medizin gut gebrauchen könnte, die aber nie in der Schule vorkommen. Warum dafür Latein? Warum gerade so die ganze Organisation der naturwissenschaftlichen Fächer? Sie ist doch wohl wahrscheinlich insgesamt (Mathematik der Differential- und Integralrechnung, Chemie mit den Atommodellen) von einer Physiklobby aus dem frühen 20. Jahrhundert so zeitlich koordiniert in den Schulplan gepresst worden, dass ein Abitur gut auf ein Physikstudium vorbereitet? Sind einfach nur Horaz, Faust II und die Quantenmechanik die Ziele unseres Seins, das leider damit sehr wenig während und nach der Schule zu tun hat? Haben Physiker, Goetherianer und Altphilologen für immer unser Leben bestimmt?

Ich versuche zu verstehen, wie wohl diese Bildungsvorstellung entstanden ist… Weiß das jemand? Ich fühle folgende Prinzipien:

•    Das amtlich historisch kulturell Wertvolle wird gelehrt, ohne Rücksicht auf die Zeit. Bei-spiel: Latein ist wertvoll, Englisch ist nützlich.
•    Neues wird erst gelehrt, wenn es amtlich anerkannt ist, also Patina ansetzte. Nützlich ist, was sich schon Jahrzehnte bewährte.
•    Alles wird abstrakt und systematisch gelehrt – im Sinne der Wissenschaft
•    Alles wird so früh wie möglich und, wenn nötig, in mehreren Abstraktionsrunden gelehrt.
•    Alle Erziehung wird nach Altersstufen betrieben, um die Logistik des Systems zu entlasten und große uniforme Klassen zu ermöglichen.
•    Die treibenden Kräfte im Menschen, sich alles anzueignen, sind Disziplin, Fleiß, Ordnungsliebe, Pflichtgefühl und Unterdrückung von widerstrebendem Gefühl, von Lust und divergierendem Interesse.
•    Selbstverleugnendes Pflichtgefühl ist nicht Ziel der Erziehung, sondern eine Voraussetzung für den Erfolg der Erziehung, die mitgebracht werden muss (von den Eltern erzeugt werden muss oder bei Glück angeboren sein könnte).

Diese Prinzipien sind ein absolutes Anti-Energie-Paket im Menschen. Selbst Kant fand, dass ein Leben leichter fällt, wenn Neigung und Pflicht zusammenfallen – aber die Pflicht stand natürlich am höchsten! Das Beste, was man tun kann, ist nach Kant und damit wohl wirklich, mit Spaß all das zu tun, was man tun muss. Das implizieren unsere Erziehungsprinzipien.
Alle anderen Energien im Leben werden nicht genutzt, weil sie die Prinzipien aufweichen oder beschädigen. Wer die vollen Energien der Kinder mitnehmen will, muss Nachteile hinnehmen und Kröten schlucken – also Kompromisse machen. Warum lesen wir denn alle Faust („Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum.“), lernen ihn auswendig und verstehen mit Absicht nicht, was er uns sagen will?

Kinder könnten zehn Mal mehr lernen, aber sie müssten viel individueller nach ihren langsam zum Vorschein kommenden Talenten, Begabungen, Kräften und Neigungen gebildet werden. Es sind Abstriche an der Wissenschaftlichkeit der Bildungsinhalte nötig – zugunsten von Einzelinhalten und Einzelproblemstellungen, die mehr Symbol- oder Beispielcharakter haben und so einfach wirklich Freude machen können, wo Wissenschaft so trocken („grau“) wäre. Es sind Abstriche in der Systematik und der Prüfungslogistik notwendig! Ja! Kröten schlucken! Wir alle lamentieren doch schon heute gegen zu systematisches Wissen, was gegen das als besser empfundene vernetzte, assoziative und kreative Denken steht? Pflicht muss vom heiligen Sockel gestoßen werden, es ist die Haupttugend des alternativlos ohnmächtigen Untertanen aus der Sicht des Herrschers aus der früheren Zeit und des Paukers aus der jetzigen.
Wollen wir nicht einmal das Logistik-Herrscher-Wissenschaftler-Systematik-Pflicht-Paket infrage stellen? Das ist zu GRAU!

Es gibt so viel Grünes und Goldenes. Jedes beliebige Kind würde einen Bachelor in Dinosauriern, vergleichender Smartphonekunde, in Schwarzen Löchern und belebten Planeten, Pop-Hit-Lyrics, Hexensprüchen oder in Jediritterkunde hinbekommen. Jedes! Dann, wenn es sich in seinem Alter gerade dafür interessiert. Ohne Pflicht – einfach aus Neigung. Lassen Sie uns nicht den größten Teil der Menschenenergie wegwerfen und auch nicht all die Menschen, die nur alternative Energien in sich tragen, also sehr viel Neigung und nicht so viel Pflicht.

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www.omnisophie.com

Bei IBM nannten sie mich "Wild Duck", also Querdenker. Ich war dort Chief Technology Officer, so etwas wie "Teil des technologischen Gewissens". Ich habe mich viel um "artgerechte Arbeitsumgebungen" (besonders für Techies) gekümmert und über Innovation und Unternehmenskulturen nachgedacht. Besonders jetzt, nach meiner Versetzung in den Unruhestand, äußere ich mich oft zum täglichen Wahnsinn in Arbeitsumgebungen und bei Bildung und Erziehung ein bisschen polarisierend-satirisch, wo echt predigende Leidenschaft auf Stirnrunzeln träfe. Es geht mir immer um "artgerechte Haltung von Menschen"! Heute bin ich als freier Schriftsteller, Referent und Business-Angel selbstständig und würde gerne etwas zum Anschieben neuer Bildungssysteme beitragen. Ich schreibe also rund um Kinder, Menschen, Manager und Berater - und bitte um Verzeihung, wenn ich das Tägliche auch öfter einmal in Beziehung zu Platon & Co. bringe. Die Beiträge hier stehen auch auf meiner Homepage www.omnisophie.com als pdf-download bereit. Wer sie ordentlich zitiert, mag sie irgendwo hin kopieren. Gunter Dueck

6 Kommentare

  1. Denke ähnlich, sehe aber anderes Ziel

    Müssen Kinder nützliche Dinge lernen? Ja! Nur ist das was gerade angesagt und angeblich wichtig ist – egal von wem angesagt oder für wichtig erklärt – eben nur Sachwissen und ob man nun mehr übers Klima weiß oder blitzschnell in der Anwendung von binomischen Formeln ist, ist in langer Frist gesehen gar nicht so wichtig.
    Lernen und Bildung sollte den Menschen verändern – mehr verändern als es ein paar Fakten tun. Wichtig finde ich deshalb “tiefes Wissen”, eine Form des Verständnisses, die nur zustande kommt, wenn das Kind sich intensiv mit etwas beschäftigt. Deshalb braucht es auch Interesse, deshalb sollte der Schüler brennend an dem interessiert sein, was er tut und lernt. Am ehesten ist das mit einem Individualunterricht zu erreichen, der gezielt auf die Interessen des Kindes eingeht. Das verlangt sehr viel vom Lehrer.

  2. Was war das jetzt?, ein Plädoyer für die Beliebigkeit in Pädagogik und anderswo? Oder ist man hier schon soweit ‘alternative Energien” zu promovieren?

  3. Wirkliches Lernen ist nie sinnlos

    Wir müssen deutlich unterscheiden zwischen Pauken und Lernen. Pauken ist aus meiner Sicht das gebetsmühlenartige Wiederholen, bei dem allein die Wiederholung einen – geringen – einprägenden Effekt hat.
    Lernen dagegen fällt leicht, ist mit Freude und Spaß verbunden und hat einen Sinn. Kinder, aber auch Erwachsene, können dann alles Lernen.
    Ich habe ein wunderschönes Buch von Enja Riegel gelesen: “Schule kann gelingen”.

    Das Problem mit uns Älteren ist einfach, daß wir aus unserer eigenen Schulzeit glauben zu wissen wie man lernt. Wir wollen unseren Kinden diese Form aufzwingen und wundern uns dann über Widerstand.

    Ich hatte in meinem Leben einige Initialzündungen, die mich zum Lernen brachten.
    Da war einmal die Mondlandung 1969. Dadurch fing ich an mich für Science Fiction zu interessieren. Das brachte mich zu Naturwissenschaften und Technik.
    Dann war da die Olympiade 1972, wo Mark Spitz zeigte, wie man schwimmen kann. Ich begann Schwimmen als Leistungssport zu betreiben. Ich lernte so, meine eigenen Grenzen zu überwinden.
    Gleichzeitig wurden meine schulischen Leistungen trotz weniger Zeit (täglich mindestens 2-4 Stunden Training) deutlich besser.

    Ich bin heute noch der Meinung, daß ich das, was ein anderer lernen und begreifen kann, auch kann.

    Ich interessiere mich für unglaublich viele Dinge, je älter ich werde, des mehr. Für mich gehört Probieren, Lesen und Lernen zum täglichen Leben. Ich kenne keine Langeweile, denn allein das Lesen eröffnet mir andere Welten, andere Kulturen, anderes Wissen.

    Wenn wir nur eins tun können, dann unseren Kindern des Spaß am Lesen beizubringen.

  4. Das ist ja man ein sehr schönes Plädoyer für eine vernünftige Art zu lernen. Aber erklären Sie das mal den Bertelsmännern und Frauen dieser Welt, angefangen natürlich beim gleichnamigen deutschen Konzern und der dahinter stehen Stiftung. Die werden das garantiert anders sehen, da sie doch eine der, wenn nicht sogar DIE treibende Kraft hinter der völligen “verbetriebswirtschaftlichung” unseres Lebens sind. – Also alles was ist, muss sich in einem betriebswirtschaflich erfassbaren Rahmen darstellen lassen. Wenn es keinen gibt, dann baut man einen, egal wie nützlich, bzw. sinnlos der von der Sache her ist. Sie brauchen Kennzahlen um sie vergleichen zu können, und weitere um zu verschleiern, das möglicherweise Äpfel mit Birnen verglichen werden. – Das ist das völlige Gegenteil von dem, was Sie hier schreiben. Okay, die Stiftung mag einiges korrekt analysieren, aber die Schlüsse, die sie daraus zieht, darf man dann doch oft bezweifeln. Aber genug geärgert.

    @Martin Holzherr: An der Uni Bielefeld gibt es die sogenannte Laborschule, die bei Bildungsfachleuten recht bekannt ist, weil sie ein besonderes Konzept der individuellen Bildung hat. Da gibt es z.B. in den ersten 9 Jahren überhaupt keinen Frontalunterricht, und im 10. Jahr nur deshalb, weil einige Schüler danach auf’s Gymnasium wechseln werden, da sie an der Laborschule kein Abi machen können. (Ist eine reine Sekundarstufe I Schule.) Den Namen Laborschule trägt sie übrigens deshalb, weil sie dem pädagogischen Instituten der Uni-Bielefeld als genau dass dient: einem Labor, in dem Bildungskonzepte in der Praxis erprobt bzw. überprüft werden. Nach allem, was ich bisher über diese Schule gelesen habe, finde ich, das dieses Konzept bundesweit eingeführt werden sollte. Dann wären wir meiner Ansicht nach nicht nur bei PISA und Konsorten immer unter den Top-5, sofern wir daran überhaupt noch teilnehmen würden. Sondern auch als Gesellschaft freunbdlicher als wir es zur Zeit sind. Und natürlich auch Leistungsfähiger. Aber das System dahinter wiederspricht so gewissen Machtstrukturen in unserer Gesellschaft, und würde diese mit der Zeit aufbrechen und zerstören, was die Besitzer der Macht natürlich nicht wollen. Welcher “Kommandant” lässt sich auch schon gerne sein Kommando entreissen?

  5. @Hans: Lehrer + individuellerUnterricht

    Viele jüngere Studien zeigen, dass der Lehrer den Unterschied macht und nicht die Schulform. All die Schulreformen, die sich vor allem an den Formen des Unterrichts und Vorstellungen über die soziale Funktion der Schule orientieren werden deshalb nie durchschlagenden Erfolg haben, denn sie können nicht besser sein als die Lehrer die all dies tragen und vermitteln müssen.

    Wenn sie über die Laborschule der Uni Bielefeld mit Verzicht auf Frontalunterricht und individueller Lehrbetreung sprechen und das zum neuen Regelfall machen wollen, so vergessen sie, dass an dieser Laborschule mit grosser Wahrscheinlichkeit Lehrer mit sehr viel Allgemein- und Fachwissen und zudem mit didaktischer Begabung lehren. Diejenigen eben, die eine bessere Schule nicht nur wollen, sondern die auch die kognitiven und einstellungsmässigen Vorausseztungen dazu haben. Doch genau darum ist solch eine Schulform nicht in die Breite übertragbar: weil der 08/15-Lehrer aus dem Super-Konzept nicht das herausholt, was möglich wäre.

    Wer die Schule besser machen will muss den Lehrer besser machen. Durch Verordnungen und schöne, gutgemeinte Lehrmittel macht man die Lehrer aber noch nicht besser. Ansetzen müsste man schon bei der Auswahl der Lehrer und bei ihrem Image.

  6. Der Lehrer brings (oder auch nicht)

    Im A4-Blatt Die Qualität der Lehrer bestimmt den Schulerfolg liest man:
    “Unterrichten Toplehrkräfte mittelmäßig begabte Schüler, so gehörten diese schließlich zu den besten 10% ihres Jahrgangs”
    Und die PISA-Spitzenreiter Finnland, Hongkong und Singapur bilden ihre Lehrer so aus:
    “In Finnland müssen alle Lehrer einen
    Masterabschluss haben. In Hongkong und Singapur werden nur die oberen 30% der
    Studienabsolventen als Lehrer eingestellt. Ginge es nach der Höhe der Bezüge, müssten Spanien, Deutschland und die Schweiz ganz oben rangieren. Das ist nicht der Fall.”