Von Moral und Kriegsmoral. Teil I: Die Notwendigkeit der Prioritätensetzung

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
un/zugehörig

Ab wann beginnt eine ethische Diskussion wertvoll zu sein?

Ab dem Moment, in dem man aufhört, mit Parolen zu sprechen, und beginnt, Prioritäten zu setzen.

Die Moral besteht aus allgemeinen Werten, die eine Gesellschaft – normalerweise per Gesetzgebung und Anwendung legitimer Staatsgewalt – durchzusetzen bereit ist. Doch was passiert, wenn zwei Werte, die an und für sich positiv bewertet werden, nicht zur selben Zeit umgesetzt werden können?
 
Nehmen wir als Beispiel den alten Zwiespalt zwischen Sozialismus und Liberalismus, der uns seit dem 19. Jahrhundert begleitet. Beide Weltanschauungen haben eine jeweils andere Vorstellung von Gerechtigkeit, weil jeder ein anderer Wert zugrunde liegt: Im Sozialismus ist es die Gleichheit, die als Endziel angestrebt wird und dann auch gewisse Freiheiten gewähren soll, während es im Liberalismus die Freiheit ist, die es anzustreben gilt und welche wiederum zur marktbedingten Gleichheit der Erfolgsaussichten führen soll. Aber kein Sozialist würde heute sagen, dass individuelle Freiheit ihm nichts wert ist. Und genauso wenig Liberalisten gäben heute zu, dass Gleichheit ihnen per se unerwünscht ist.
 
Woran soll sich also die Gesellschaft orientieren?
 
Wenn man nun einem belieben Menschen die Frage stellte, ob ihm Gleichheit wichtig ist, würde er die Frage höchstwahrscheinlich bejahen. Würden wir ihm aber die Frage stellen, ob ihm denn Freiheit wichtig ist, so würde er mit genauso hoher Wahrscheinlichkeit auch diese Frage bejahen. Die Massen bilden also nach wie vor das beste Absatzgebiet für Demagogie.
 
Allerdings kann man nicht beides zugleich haben. Auch wenn man ein delikates Gleichgewicht herstellen will, muss man im einen oder anderen Punkt (Einkommensteuer, Erbschaftssteuer, Arbeitslosenfürsorge etc.) Zugeständnisse machen, ob an den einen oder anderen Wert. Es kommt also immer wieder darauf an, welcher Wert einem wichtiger ist, sowie daran, wie groß bei einem der Abstand zwischen den Bedeutungen ist, die man jeweils den Werten beimisst.
 
Mit anderen Worten: Es reicht nicht, sich zum einen oder anderen Wert zu bekennen, sei es etwa "Individualismus" oder aber "Solidarität", "Redefreiheit" oder aber "streitbare Demokratie". Denn solche Parolen helfen kaum weiter, wenn man über eine bestimmte Politik zu entscheiden hat und entweder dem Individualismus oder der Solidarität, entweder der Redefreiheit oder der Streitbarkeit der Demokratie (usw. usf.) den Vorrang geben muss.

Was man dann braucht, ist eine (hoffentlich gut argumentierte) Prioritätensetzung.

  • Veröffentlicht in: Ethik

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www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

13 Kommentare

  1. Braucht es zum Töten Argumente?

    Wir demokratischen Westeuropäer haben die Todesstrafe abgeschafft, weil eine unserer Prioritäten der Schutz von Leben und Würde des Menschen ist. Selbst abscheulichste Verbrechen werden nicht mit der Sühne von Tod durch Tod bestraft. Dieses humanistische Verständnis von zivilgesellschaftlichem Miteinander und Staatsräson haben die meisten hier verinnerlicht. Die von Ihnen argumentierte Notwendigkeit, vorsätzlich zu töten kann hier also kaum auf Verständnis stoßen. Gründe für Morde (und das sind Raketen auf die Zivilbevölkerung, selbst wenn ein Terrorist darunter ist) zu erläutern scheint mir genauso unsinnig und illegitim, wie schweigend zu töten.

  2. @ Anita

    1. Jede Politik braucht Argumente, mit denen wir Chancen und Risiken, Gewinn und Verlust wägen können. Aus Bauchgefühl heraus Unschuldige zu töten, kann genauso immoralisch sein, wie aus Bauchgefühl heraus Mörder nicht zu töten.

    2. Naja, auch ich bin gegen die Todesstrafe, aber dieser Position liegt kein Bekenntnis zu einer “humanistischen” Zivilreligion, sondern ein Argument zugrunde, und zwar, dass es doch Fälle gibt, wo sich Jahrzehnte nach dem Prozess herausstellt, dass der früher für Schuldig Befundene die Tat doch nicht begangen hat. Allerdings bin ich dafür, dass die Todesstrafe in Israel, die heute leider nur für NS-Mörder und deren Helfer gilt (im heutigen Europa schändlicherweise nicht einmal in solchen Fällen), auch für sonstige Massenmörder wie Terroristen eingeführt wird, damit unsere Moral nicht (etwa aus falschem Mitgefühl) abschmilzt.

    3. Ich weiß leider nicht, wie viele Verbrechen verhindert bzw. Leben unschuldiger Opfer gerettet werden, indem Mörder bei uns, wie auch in Europa, kaum bestraft, sondern oft jahrzehntelang vom Steuerzahler getragen werden und nebenbei per Fernstudium Universitätsabschlüsse erwerben können. Ob diese Behandlungsweise viel zur Abschreckung beiträgt, erscheint mir irgendwie zweifelhaft. Aber das ist alles eigentlich nicht das Thema des obigen Beitrages.

    4. Was mich zur Frage bringt: Was hat dein Kommentar eigentlich mit dem Beitrag zu tun, auf den er sich bezieht bzw. beziehen sollte?

  3. Es gibt wenig absolute Werte, dagegen viele, die sich ändern und vom Wohlstand, der Bildungssituation und auch der zufälligen Entwicklung des Zeitgeistes, der politischen Konzepte und auch von Einzelpersonen (Hitler, Mao, Stalin, Pol Pot)abhängen. Deshalb ist es gut, dass es viele unterschiedliche Staaten und Modelle gibt, wo man aus der Beobachtung des Erfolgs der anderen lernen kann.

  4. Ach ja, die Todesstrafe…

    Hallo Yoav,

    nun verfolge ich Deine Beiträge und die Diskussionen dazu, seitdem “Gibt es gute Kriege?” online ist. Mich überrascht die geringe Zahl der Widerworte. Offenkundig trauen sich nur wenige, sich aus dem Fenster zu lehnen?! Ich mache das hiermit.

    Arvid Leyh hat es in seinem Kommentar vom 7.1. auf den Punkt gebracht und er spricht mir aus der Seele: Beitrag und Diskussion sind angesichts des Elends der 1,5 Millionen Menschen, die im Gazastreifen eingepfercht sind, kaum zu ertragen. Das ist die eine Seite der Dinge, ich weiß! Aber wir sitzen an unseren Schreibtischen und diskutieren Gedankenwelten, in denen das Alte Testament mit einer aus theologischer Sicht äußerst fragwürdigen Begründung als Legitimierungsgrund für einen Krieg herhalten muss? Ich kann auch den angeblichen Zynismus bzw. “kaltblütigen Realismus” in Deiner Argumentation nicht erkennen, wie Du in einem Deiner Kommentare schreibst. Das ist lediglich eine einseitige Sicht der Dinge, die so keinen versöhnlichen Charakter hat und kontraproduktiv bleiben muss.

    Ach ja, die Todesstrafe, die Du nun in Deinem gestrigen Kommentar zum obigen Beitrag als gerechtfertigt beschreibst: So ganz scheinst Du nicht gegen sie zu sein, wenn Du über “jahrzehntelang vom Steuerzahler getragene” Inhaftierte schreibst; Deine Worte sind widersprüchlich.

    Ein Argument, das gegen die Todesstrafe spricht, führst Du selbst auf. Es gibt sogar sehr viele Fälle, in denen sich die Unschuld Hingerichteter nachträglich erwies. Und wie oft stellte sich die Unschuld lange Zeit Inhaftierter heraus, die zum Glück “nur” lebenslänglich hinter Gitter gebracht worden waren. Bis ins späte Mittelalter hatte jeder Ort mit Marktrecht seinen eigenen Galgen. Zum Glück leben wir aber nicht mehr im Mittelalter, doch scheint der Gedanke an die angebliche Notwendigkeit der schlimmsten Strafe noch immer in vielen Köpfen fest zu sitzen; immer wieder flackert der Wunsch nach Wiedereinführung der Todesstrafe auch bei uns wieder auf.

    Zwei Gründe, weshalb ich Todesstrafe strikt ablehne: Zum einen lehne ich sie aus rein moralischen Gründen ab, dafür benötige ich keine Begründung irgend einer religiösen Schrift, obgleich mir die Worte der Bergpredigt viel bedeuten. Zum anderen lehne ich die Todesstrafe ab, weil sie nachweislich in keiner Kultur und zu keiner Zeit eine abschreckende Wirkung je hatte bzw. hat. In unserem Kulturkreis hat Strafe allgemein nur in geringfügigen Fällen wie Diebstahl etc. abschreckende Wirkung. In all jenen Fällen, in denen Menschen vorsätzlich getötet werden, haben sich die Täter bereits so weit von allen gesellschaftlichen und moralischen Grundsätzen entfernt, dass sie eine wie auch immer gestaltete Strafe ganz sicher nicht in ihrem Handeln beeinflusst. Abschreckung gibt es hier schlichtweg nicht. Und weil Du sie explizit nennst: “Terroristen” oder religiöse Fanatiker lassen sich ganz sicher nicht durch irgend etwas oder irgend wen auf der Welt von ihrem Handeln abhalten oder gar abschrecken.

    Gewalt löst generell Gegengewalt aus und hat im Laufe der Menschheitsgeschichte noch kein einziges Problem gelöst.

    Viele Grüße

    Stefan

  5. Hallo Yoav,

    im Titel schreibst Du “von Moral und Kriegsmoral”, in Deinem Beitrag finde ich davon nichts wieder. Und dann machst Du “Anita Leyh” den Vorwurf mit ihrer Kriegsdiskussion daneben zu liegen.

    Aber ansonsten stimme ich Dir zu: man muss immer zwischen verschiedenen Zielen und Verpflichtungen abwägen.

    Konkret im aktuellen Gaza-Krieg liegt in der einen Waagschale der Schutz unschuldiger Israelis vor ständiger Bedrohung durch Raketen und die moralische Verpflichtung Verbrecher zu bestrafen, in der anderen Waagschale liegt die Bevölkerung des Gaza-Streifens, die am Raketenbeschuss unschuldig sind. Dies sind sicherlich mehrheitlich die Frauen, weil diese in einer islamischen Gesellschaft überhaupt nicht die Möglichkeiten und Rechte haben Einfluss zu nehmen. Es gibt dort aber auch sicherlich viele unschuldige männliche Moslems; schließlich haben nicht alle die Hamas gewählt.

    Lösung: Es gibt keine bessere Lösung als möglichst gezielt gegen die Kämpfer der Hamas und ihre Unterstützer vorzugehen. Auch hierbei muss man wieder abwägen, denn der Schutz der moslemischen “Zivilbevölkerung” (so weit es sie gibt) gefährdet natürlich die israelischen Soldaten.

    mfg
    Luchs

    P.S. die Linke würde sicherlich uneingeschränkt das Ziel “Freiheit” unterstützen, weil ja schon Karl Marx von einem kommunistischen Staat mit möglichst wenig Gesetzen und Organisationen geträumt hat. Die FDP würde sicherlich nicht das Ziel “Gleichheit” unterstützen, sondern allenfalls das Ziel “Chancengleichheit”, sofern damit keine Erbschaftssteuern verbunden sind 😉

  6. @ Luchs

    Zum Titel: Es heißt da auch: “Teil I”. Das mit der Kriegsmoral ist erst für den 3. Teil geplant. Und damit jede These für sich besprochen werden kann, will ich jeder einen Beitrag widmen. Im obigen Beitrag geht es vorerst nur um die Frage, wie sich Werte zueinander verhalten bzw. um (und das steht ja auch im Titel) “die Notwendigkeit der Prioritätssetzung”.

    Zur Zivilbevölkerung: Zivilbevölkerung ist keine passive Zuschauerschaft. Ihr obliegt aktive Verantwortung, nicht nur bei den Wahlen, sondern auch zwischen den Wahlen. Was unterstützt sie? Was lässt sie nicht zu? Würdest du schweigen, wenn der Bundestag ein Gesetz zur Hinrichtung aller Homosexuellen verabschieden würde? Würdest du zulassen, dass die Schule deiner Kinder als Ort zum Raketenabschuss gebraucht wird? Hoffentlich unterstützt man es spätestens dann nicht mehr, nachdem man mit den unmittelbaren Folgen konfrontiert worden ist.

    Zu deinem PS: Vielleicht hätte ich das Beispiel nicht einfach so bringen dürfen, sondern zunächst mit Begriffsbestimmungen von “Freiheit” und “Gleichheit” anheben müssen. Dann wäre es wohl klar geworden, dass wir hier mit sehr unterschiedlichen Vorstellungen vom jeweiligen Begriff zu tun haben. Ich habe das aber weggelassen, weil den meisten Menschen, wenn sie eine Entscheidung treffen müssen, schließlich keine mehreren Vorstellungen von ein und demselben Begriff vorschweben. Es ist daher im Endeffekt egal, was Freiheit und Gleichheit für den Sozialisten X und was sie für den Liberalisten Y bedeuten; wichtig ist nur, was sie dir bedeuten, wenn du die Werte gegeneinander abwägst.

    PS. Wenn wir schon beim Thema sind: Die (erst kommunistische) Freiheit von “jedem nach seinen Bedürfnissen” (oder auch die sozialistische Freiheit von “jedem nach seiner Leistung”) setzt nicht nur den Zwang von “jeder nach seinen Fähigkeiten” voraus (Wer entscheidet darüber? Und wenn ich keine Lust habe? Daher: Arbeitszwang), sondern birgt schon in sich den latenten Zwang, dass man nicht einmal darüber frei entscheiden darf, wer in Genuss der Ergebnisse seiner eigenen Arbeit kommen darf.

  7. mörderische Prioritäten

    Ich verstehe Ihre Beiträge als – ehrlich gesagt, an dieser Stelle bedenklichen – Legitimierungsversuch für zielgerichtetes Töten. Ihr letzte Satz oben über “gut argumentierte Prioritätssetzung” schien mir genau das zynisch zusammenzufassen, und darauf bezog sich mein Kommentar. Ich kann Ihre Hilflosigkeit angesichts mörderischer Gewalt Ihrer Nachbarn verstehen. Und ich kann mir leider nicht vorstellen, dass der Konflikt zwischen Ihren Ländern allein durch Israelis und Palästinenser gelöst werden kann – ob mit oder ohne Waffen. Die historischen Hintergründe und globalen politischen Interessen sind so komplex, dass Sie dort mit dauerhaftem Friedenswillen wohl vor der Quadratur des Kreises stehen.

    Zu der Frage nach legitimem Krieg als Mittel zur Konfliktlösung – und das schließt legitimes Töten ein – sage ich gern noch einmal meine Meinung: Kein Krieg, der immer auch unbeteiligte, ausgelieferte, schutzlose Menschen tötet, ist legitim. Solches Leid zu erfahren (stellen Sie sich ein Opfer Ihrer Wahl vor) oder zu verursachen (kennen Sie einen glücklichen Soldaten, der im Libanonkrieg war?) kann kein Mensch verwinden, der einer solchen Hölle entkommt. Es gibt meines Erachtens nichts Grausameres und Dümmeres als als das Töten von Menschen durch Menschen – aus welchen Gründen auch immer. Wir Menschen sind schlau genug für andere Antworten, und die gilt es zu finden.

  8. @ Stefan

    Hallo Stefan,

    vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Da es jetzt “droht”, keine Nebendiskussion mehr zu sein, lasse ich das erst mal so stehen. Vielleicht schreibe ich irgendwann einen Beitrag zur Todesstrafe, etwa unter Berücksichtigung jüdischer Quellen; dann hätten wir den angemessenen Rahmen, um darüber zu diskutieren.

    Viele Grüße
    Yoav

    PS. Zu einer deiner Aussagen kann ich aber doch nicht schweigen: “Gewalt löst generell Gegengewalt aus und hat im Laufe der Menschheitsgeschichte noch kein einziges Problem gelöst.” Das stimmt natürlich, denn wie wir alle wissen, konnte Neville Chamberlains Appeasement den II. Weltkrieg verhindern und der Judenverfolgung innerhalb der Reichsgrenzen ein Ende machen. Und selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätten die Amerikaner mit Hitler bestimmt einen Modus Vivendi finden können, um seine Gegengewalt nicht zu provozieren. Gott sei Dank also, dass Hitler freiwillig abgedankt hat. Jawohl, Gewalt löst nichts, und wenn die Deutschen diesseits und jenseits des Inns noch so einen Hitler hervorbrächten, müssten wir auch mit ihm verhandeln, denn Gewalt löst nichts, amen.

  9. @ Anita

    Du merkst es vielleicht nicht, aber eigentlich setzt du auch Prioritäten. Sagen wir mal, du wärest Israelin; dann ließe sich dein Standpunkt folgendermaßen zusammenfassen:

    Du willst auf jeden Fall vermeiden, dass bei Kriegshandlungen, die in deinem Namen durchgeführt werden, Zivilisten der anderen Seite umkommen, und bist vermutlich bereit, dafür Etliches in Kauf zu nehmen, wie z. B. die Verachtung des Lebens deiner eigenen Bevölkerung, für die du (nicht meiner Auffassung nach, sondern nach deiner – vermutlichen – Sichtweise) nicht selber verantwortlich bist, sondern die andere Seite.

    Wie sinnvoll oder legitim deine Prioritätssetzung ist, ist eine andere Frage, auf die ich nicht in der hiesigen Diskussion zur obigen These eingehen will. An dieser Stelle will ich nur, wie gesagt, darauf hinweisen, dass du Prioritäten gesetzt hast, die, wenn ich mich nicht irre, so aussehen: Es ist dir wichtig, nicht zu töten. Es ist dir vermutlich auch wichtig, das Leben der eigenen Bevölkerung zu schützen. Aber die Vermeidung von selber durchgeführter Tötung ist dir *wichtiger* als der Schutz der eigenen Bevölkerung, sodass du zu diesem Zweck nicht in Kauf nehmen willst, dass Zivilisten der anderen Seite umkommen.

    PS. Soldaten, die in diesem Krieg verwunden worden sind, bestehen darauf, tunlichst bald an die Front zurückzukehren, was sie auch tatsächlich tun. Viele kämpfen jetzt nicht nur, weil sie es müssen, sondern vor allem auch, weil sie es wollen. Bei der Einberufung von Reservisten (das sind oft Familienmenschen) sind jetzt 20% mehr erschienen als man einberufen hat. Kann sein, dass sie spüren, dass dieser Krieg gut und richtig ist? …habe ich nur geschrieben, um deine Hypothesen bzgl. der Haltung von Soldaten zu Kriegen zu relativieren.

  10. Als Moral sehe ich eher die Abwesenheit von Unmoral. Unmoralisches Handeln ist die unverhältnismäßige Schädigung anderer Interessen wegen geringer eigener Vorteile. Es ist nicht automatisch unmoralisch das Leben anderer bei der Wahrung eigener wesentlicher Interessen (Leben, Selbstbestimmung) zu gefährden oder zu beenden. Wir beenden auch im Zivilleben regelmäßig durch technische Systeme, Verkehr oder das frei Rumlaufen von Mördern und Kinderschändern das Leben Unschuldiger wegen anderer Prioritäten oder Kosten. Ich halte es auch grundsätzlich für zulässig, dass ich gegen einen Aggressor die gleichen Mittel einsetze die er selbst einsetzt, es sei denn, ich kann meine Interessen mit anderen Möglichkeiten wahren, wieder eine Frage der Verhältnismäßigkeit.

  11. Agumentation in die Leere

    Hallo Yoav,

    mit genau dieser Reaktion habe ich natürlich gerechnet. 😉 Weshalb? Du schriebst allgemein theoretisierend und ich antwortete ebenso. Alles klar?!

    Viele Grüße

    Stefan

  12. @Anita Leyh

    Yoav hat mit den “mörderischen Prioritäten” ein wichtiges Thema präsentiert. Bedenklich finde ich, daß Sie überlegen, ob es an “dieser Stelle” diskutiert werden sollte. Bedenklich finde ich auch, daß Sie ihm, statt auf die Argumentation einzugehen, “Hilflosigkeit” als Ursache für seine Aussagen unterstellen.

    Yoav hat, denke ich, zutreffend darauf geantwortet. Wenn unser zentraler Wert ist, Menschen nicht zu töten (und ich glaube, hierin sind wir uns einig), dann geraten wir in einen Zielkonflikt, wenn wir mit Menschen zu tun haben, die das anders sehen, und müssen Prioritäten setzen. Übrigens nicht nur in Israel, sondern auch z.B. im Kongo, Rusanda, Sri Lanka, etc. Wir können die Prioritäten anders setzen und lieber rot als tot sein wollen, aber den Zielkonflikt einfach leugnen ist nicht hilfreich. Und es ist auch nicht hilfreich, einer von der eigenen verschiedenen Priotitätensetzung mit der Attidüde moralischer Überlegenheit zu begegnen.

    Ich stimme zu, daß es möglich sein kann, das Ausmaß zwischenmenschlicher Gealt zu reduzieren. Die relative Seltenheit von Mord in den westlichen Gesellschaften in den letzten Jahren ist vielleicht kein Zufall. Gründe hierfür mögen u.a. sein:
    – das Überwinden Hobbesscher Fallen durch ein staatliches Gewaltmonopol. Daß das von Kant vorgeschlagene Äquivalent einer “Weltregierung” auf zwischenstaatlicher Eebene tatsächlich von der UNO dargestellt wird, bin ich nicht so sicher.
    – der Wohlstand erhöht die Kosten der Gewaltanwendung.
    – allgmeine Menschenrechte machen Gewalt gegen Menschen grundsätzlich illegitim, auch wenn sie anderen Kulturen angehören.

    Das scheinen mir plausiblere Kanditaten als die Ursprunstexte der Religionen, die Yoav in seinem vorigen Blog vorgeschlagen hat.

    Über das Ziel des “Ewigen Friedens” sind wir vermutlich einig. Wenn wir die Existenz von Zielkonflikten und Prioritätensetzungen anerkennen und moralische Empörung vermeiden, können wir konstruktiver darüber diskutieren, wie wir unserem gemeinsamen Ziel näherkommen können.

    P.S.: Ich freue mich schon auf das nächste Braincast!

  13. @ Stefan

    Die Beiträge gestalte ich eher als theoretisches Input, damit sie die Diskussion nicht vorwegnehmen, sondern als Anregung dafür dienen.

    Ob aber allgemein in den Beiträgen oder spezifisch in der Diskussion selbst, versuche ich nur Thesen aufzustellen bzw. Meinungen zu vertreten, die ich verfechten, d.h. in intersubjektiv nachvollziehbarer Weise erklären kann.

    …anscheinend im Gegensatz zu dir, wenn du manchmal wirklich absichtlich “fehlschießt”.

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