Geschichte als Konvention

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Im letzten Text habe ich erklärt, wie groß in der Geschichtsschreibung die Rolle von Konventionen ist. Da kein Historiker alles erforschen, alles in Zweifel ziehen kann, braucht jeder einen Anhaltspunkt, eine Grundlage, auf die er seine eigene These stützt. Doch wir haben auch gesehen, dass diese Grundlage sich (wie im Fall Kurras) auch ändern kann, wodurch jede Geschichte, die auf ihr basiert, teilweise oder auch ganz ihre Gültigkeit verlieren kann. Somit ist jede Geschichte (d.h. letzten Endes alles historische Wissen) eine Geschichte auf Vorbehalt; ihre Gültigkeit ist immer eine relative, die sich aus der Relation zu den Grundlagen ergibt, auf denen sie aufgebaut ist.

Nun will ich erklären, was ich mit diesen unvermeidlichen Konventionen meine und wie allgegenwärtig sie in der Geschichtsschreibung sind. Einfachheitshalber will ich das mit einem kleinen Beispiel erklären, das meinen Lesern vielleicht etwas pingelig erscheinen könnte; es dient aber nur der Veranschaulichung eines Prinzips, das auch für Wesentliches gilt (wie eben im Fall Kurras).

In unzähligen Geschichten über das 20. Jahrhundert finden wir die Vorstellung vom »Ersten Weltkrieg«: ein Begriff, der eigentlich eine Konvention ist, die bei genauem Hinsehen sich als anachronistisch erweist, weil man im Ersten Weltkrieg natürlich nicht wusste, dass später die Konvention entstehen sollte, ihn so zu bezeichnen. Trotzdem benutzen wir diese Konvention, weil sie uns bei der Kommunikation hilft, also dabei, schnell und einfach eine abstrakte Vorstellung zu vermitteln. Das ist ja der Sinn von Konventionen.

Auch die Vorstellung vom »Zweiten Weltkrieg« ist natürlich eine Konvention, welche die Kommunikation über das, was mit ihr gemeint ist, vereinfacht und beschleunigt. Doch nicht nur Begriffe sind Konventionen, sondern auch Daten. Auf den ersten Blick erscheint es wie selbstverständlich, dass der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Angriff gegen Polen begonnen hat. Aber muss es so verstanden werden? Ist das eine alternativlose Sicht auf die Geschehnisse jener Tage – oder eben eine Konvention, die wir meistens bequemlichkeitshalber nicht in Frage stellen, solange wir nicht direkt darüber, sondern über andere Aspekte des »Zweiten Weltkrieges« kommunizieren wollen?

Auf die Frage, wann der 2. Weltkrieg ausbrach, gibt es eigentlich keine einzig richtige Antwort. Nimmt man den 1. September 1939 als den Beginn eines »Weltkrieges« wahr, so geht man davon aus, dass Deutschland bereits mit dem Angriff auf Polen einen »Weltkrieg« eröffnete. Bedenkt man aber, dass der Krieg erst mit der Kriegserklärungen Englands und Frankreichs am 3. September überhaupt mehr wurde als nur zweiseitig, so erscheint der 1. September wenig tauglich für den Beginn eines »Weltkrieges«.

Allerdings folgte auf die Kriegserklärungen vom 3. September noch kein Krieg im eigentlichen Sinne des Wortes; der erste Staat, der nach Deutschland und Polen mit richtiger Kriegsführung zur dritten Partie wurde, war die Sowjetunion – und zwar am 17. September. Doch wissen wir inzwischen, dass diese Entwicklung von zwei- zu dreiseitigen Kampfhandlungen auf das damals geheime Zusatzprotokoll des Paktes vom 23. August zurückgeht. So ist auch dieses Datum ein legitimer Kandidat für den eigentlichen Beginn der Katastrophe.

Dennoch beziehen sich alle diese Daten nur auf Europa; seine wirklich globale Dimension nahm der Krieg nicht auf der Westerplatte am 1.9.1939, sondern erst in Pearl Harbor am 7.12.1941 an. Doch wenn wir schon so weit nach Osten schauen, müssen wir bedenken, dass der Angriff in Pearl Harbor keineswegs aus dem nichts kam; tatsächlich begannen die Kampfhandlungen in dieser Region bereits 1937 mit dem Überfall Japans auf China – einer ebenso zweiseitigen Situation wie diejenige zwischen Deutschland und Polen am 1.9.1939.

So erschließen sich neben dem »konventionellen« 1. September 1939 auch ganz andere, ebenso plausible Alternativen für ein scheinbar einfaches »Faktum« wie den Beginn des Weltkrieges. Jede Wahl eines Datums (und nicht der anderen) bedeutet eine andere Wahrnehmung, eine andere Betonung eines Geschehens (nicht der anderen). Somit steckt in jeder Wahl auch schon ein Stück Deutung drin, hinter jedem Datum steckt ein Stück Geschichte. Da wir nun wissen, dass Geschichte nicht objektiv sein kann, sondern immer eine Frage der Perspektive ist, brauchen wir uns auch gar nicht um eine einzige Antwort bemühen: Aus unserer europäischen Perspektive kann es 1939 sein, während für die US-Amerikaner 1941 das passende Jahr ist.

Umso deutungsträchtiger sind die Begriffe, die man oft unreflektiert, also eben als scheinbar wertneutrale Konventionen benutzt, obwohl sie in Wahrheit sehr viel Interpretation in sich bergen. Allein die Verwendung von Ordinalzahlen (»Erster«, »Zweiter«) konstruiert eine Reihenfolge und somit auch einen Zusammenhang (wie der erste und zweite Akt ein- und desselben Theaterstücks). Dieser Zusammenhang konnte natürlich während des »Ersten Weltkrieges« noch gar nicht da sein; der Begriff sagt also wenig über diesen Krieg aus, dafür aber viel über unsere Wahrnehmung dieses Krieges.

Doch um die Wirkung solcher Begriffe kommen wir nicht herum. Ob sie nun wie die obigen Beispiele als vermeintlich wertneutrale Konventionen in Erscheinung treten oder nicht so populär sind: Historische Begriffe sind immer im Spiel, wenn es um Geschichte geht. Denn es ist, wie hier schon früher erklärt, eben die Sprache, mit der wir uns die Vergangenheit vorstellen und auf die wir alternativlos angewiesen sind. Über ihre Wirkung sprechen wir im nächsten Beitrag.

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www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

3 Kommentare

  1. Auf den ersten Blick erscheint es wie selbstverständlich, dass der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Angriff gegen Polen begonnen hat. Aber muss es so verstanden werden?

    Nein, das muss nicht so verstanden werden.

    Edgar Dahl (“The Libertarian”, eine -unter uns betrachtet, zumindest: solide Kraft), seine Texte scheinen nicht mehr auf den Scilogs.de verfügbar zu sein, hat sich gelegentlich anders oder ergänzend ausgesprochen oder ausgeschrieben.

    “Ein wenig blöd” war vielleicht, dass er die Interessenlage Polens, das seinerzeit kein demokratischer Staat war, solid beleuchtet hat, aber Kriegsschuldfragen sozusagen unabhängig von der nationalsozialistischen Rassenlehre betrachtet hat, auch diese Problematik mit den Slawen als sogenannte Untermenschen.

    Der Kriegsgrund müsste in der Feststellung des Untermenschentums anderer gelegen haben, auch Polen betreffend.
    Sollte dies nicht der aus heute zweifelsfrei festzustellende Grund gewesen sein, würde Ihr Kommentatorenfreund auch einfach “Schweine” als eigentlichen Kriegsgrund des Dritten Reichs feststellen wollen; nicht immer in der eigentlichen Intention.

    MFG
    Dr. W (der natürlich annimmt, dass dies hier sowieso bekannt)

  2. Die Geschichte von Kriegen und anderen geschichtlichen Entwicklungen könnte man auch auf eine multidimensionale Datenbasis abstützen – als Alternative zum direkten Vergeben von Labels (wie 1./2.Weltkrieg): Dabei würde die quantitativ erfasste zeitliche und räumliche Entwicklung in möglichst velen Bereichen die Datenbasis darstellen. Datenquellen wären beispielsweise die Anzahl Gefallener, der Export und Import von Gütern über Landesgrenzen hinweg und viele andere ökonomische Daten. Man könnte mit diesen Daten eine Art dynamische Landkarte aufbauen und diese dann als Grundlage für die Begriffs- und die Theoriebildung heranziehen.
    Ich denke mir, dass dies nicht einmal etwas völlig neues ist, denn jeder der Geschichtsforschung betreibt, macht das ja, nur macht es jeder wohl wieder von neuem. Die Grundidee dahinter wäre die gleiche wie bei Big Data, wo statistische Auswertungsvefahren zum Zuge kommen und vielfältige Fragen mittels Data Mining beantwortet werden können.
    Der Blickwinkel würde sich durch solche einen Zugang wohl verschieben, viele wichtige Aspekte der Geschichtsschreibung und Theorienbildung wären durch Data Mining wohl nicht abgedeckt. Es wäre aber eine Ergänzung zum bisherigen Vorgehen.

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