Aufklärung und Freundschaft im 21. Jahrhundert

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Wien. Heidelberg. Berlin: ein israelischer Blick auf Deutschland
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Seit meiner Jugend bewege ich mich in sehr unterschiedlichen politischen Kreisen. Mehr als die Dogmen des jeweiligen Kreises interessieren mich die Schnittstellen, das Dazwischen. So habe ich sowohl Freunde und Bekannte, die man den “rechtsextremen” Kreisen zuordnen würde, wie auch solche, die man als “Linksextremisten” definieren würde – in Deutschland wie in Israel. Das führt manchmal zu Konflikten. Oder sind es eher Herausforderungen, Gelegenheiten zum persönlichen Wachstum?

Nachdem es an diesem Wochenende zwischen zwei politisch gegensätzlich eingestellten Freunden ziemlich gekracht hat, erinnere ich mich nun an Lessing und Mendelssohn – angeblich zwei Personen, die, wie unzählige in den Jahrhunderten vor ihnen, gar nicht Freunde hätten werden sollen, dürfen. Und dennoch hat ihnen die Aufklärung geholfen, sich über die Schranken des damals höchst Politischen, des Religiösen, hinwegzusetzen. Plötzlich erscheint die heutige Schnittstelle von Politik und Freundschaft als der Bereich schlechthin, in dem der Begriff der Aufklärung noch aktuell sein, eine Rolle spielen könnte. So wie Mendelssohn und Lessing ihre Aufklärung und ihre aufklärerische Toleranz auch und gerade in ihrer Freundschaft zum Ausdruck brachten, in jener Überwindung des damals noch herrschenden Abgrundes zwischen Jude und Christ.

In meiner Vorstellung steht “aufgeklärte Freundschaft” dafür, das Gegenüber jenseits des Politischen zu erkennen, durch das Politische hindurch zu dringen. Ein aufgeklärter Freund kann die Politik auch mal ruhen lassen. Er achtet mehr auf das Sein wie auf den Schein, mehr auf die Hauptsache, die persönlichen Charakteristika, als auf die Nebensachen. Er lässt es ihm folglich egal sein, dass andere über ihn lästern, dass er rechte/linke, jüdische/schwarze, hetero-/homosexuelle (usw. usf.) Freunde hat. Er bekennt sich freilich nicht zu ihren Ansichten, Lebenspraktiken etc. – Mendelssohn blieb lebenslang ein streng gläubiger Jude, und auch Lessing ließ sich seinerseits nicht beschneiden. Es kommt also nicht darauf an, in der umstrittenen Sache gemeinsamen Boden zu finden, sondern gerade umgekehrt – trotz der unüberbrückbaren Diskrepanz die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Der aufgeklärte Freund ist sich also der Diskrepanz durchaus bewusst, aber er reduziert die Freundschaft nicht auf solche Kriterien (ich weiß, das klingt alles sehr idealistisch und naiv, aber ich versuche wirklich mit meinen Freunden und bekannten so umzugehen).

Ein aufgeklärter Freund hält also die Politik im Rahmen, so wie er etwa die Religion eingeschränkt hält. Wie früher Lessing und Mendelssohn relativiert er seine persönliche Perspektive, die das Gegenüber moralisch zu verurteilen droht und ihm selbst freilich sehr überzeugend, ja sehr realistisch und vielleicht auch einzig wahr erscheint. Seine Aufgeklärtheit besteht in eben diesem Anstreben, sich immer wieder zu vergegenwärtigen, dass seine Perspektive für das Gegenüber genauso bekämpfenswert erscheinen mag. Früher sahen Juden in Christen Götzendiener, Christen in Juden wiederum die Mörder Gottes – so eingehüllt in der eigenen Perspektive war die Freundschaft natürlich kaum möglich. Sind wir heutzutage so reif, dass wir auch politisch nicht primitiv verurteilen müssten und selber verurteilt würden? Da habe ich große Zweifel: Es hat ungefähr zwei Millennia gedauert, bis es zur interreligiösen Freundschaft kommen konnte; vielleicht würde es genauso lange dauern bis interpolitische Freundschaften nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel werden.

Anders ausgedrückt: Ein aufgeklärter Freund akzeptiert dich, auch wenn du seiner Überzeugung nach auf dem Weg in die politische/religiöse/… Hölle bist. Und du akzeptierst ihn, auch wenn er deiner Meinung nach auf dem Weg in den sicheren Untergang ist. Kurzum, man lebt nach Voltaires berühmtem Prinzip der Meinungsfreiheit (aber vielleicht ohne das eigene Leben dafür einzusetzen…?).

Da wir uns in den letzten Jahrhunderten schon angeeignet haben, das Politikum der Religion, so mächtig es früher auch war, aufklärerisch zu relativieren, so müssten wir heute dasselbe mit anderen Manifestationen der Politik machen. Freundschaft zwischen Linken und Rechten, gerade zwischen Linken und Rechten – das ist das Gebot, das ist die Verwirklichung von Aufklärung im 21. Jahrhundert.

Ich denke dabei an Lessings Ringparabel: Natürlich kann man, wenn man will, das Umstrittene in den Mittelpunkt stellen; dann gibt’s eben keine Sympathie, keine Freundschaft mehr. Schließlich ist sich jeder sicher, dass sein Weg der richtige ist, sonst würde er ja einen anderen beschreiten. Aber man kann, im Sinne der Aufklärung, die innerliche Schwärmerei überwinden, es in der Freundschaft nicht auf die unbedingte Durchsetzung des eigenen Weges ankommen lassen, die Politik eben nur Politik sein lassen und nicht wichtiger machen als andere Lebensbereiche, wo eine Freundschaft durchaus möglich ist oder zumindest erscheint.

Denn es geht ja nicht darum, eine Freundschaft zu erzwingen. Wenn die persönliche Chemie nicht stimmt, gibt es keinen Grund, eine Freundschaft zu pflegen. Es geht vielmehr darum, eine gut funktionierende Freundschaft (oder Ehe, etc.) auch dann aufrechterhalten zu können, wenn es in der Politik keine Übereinstimmung gibt; oder zumindest, falls man sich noch nicht persönlich kennt, die anderen nicht aufgrund ihrer politischen/religiösen/sexuellen/etc. Orientierung von vornherein abzulehnen. Was ich damit sagen will, ist Folgendes: Wenn man als Linker rechte Freunde hat, nur weil er es wichtig findet, rechte Freunde zu haben, so ist das keine Tugend. Ich rede hier von echten Freundschaften, die eine politische Diskrepanz vertragen können.

Könnten also CDU- und NPD-Wähler auch gute Freunde sein wie Rabbiner und Pfarrer, die ihre jeweils persönliche Überzeugung nicht aufgeben und trotzdem Freunde bleiben? Gibt es das womöglich schon? Oder stecken wir in dieser Hinsicht noch im Mittelalter? Kann es auch in der Politik eine Aufklärung geben? Oder werden die Urenkelkinder der Aufklärung in ihrer eigenen Abgeschlossenheit ersticken? Das waren die Fragen, mit denen ich mich am heutigen Sonntag befasst habe.


In eigener Sache: Jewish Heritage Tours in Berlin


Veröffentlicht von

www.berlinjewish.com/

Mancherorts auch als der Rebbe von Krechzn* bekannt, heißt der Autor von "un/zugehörig" eigentlich Yoav Sapir. Er ist 5740 (auf Christlich: 1979) in Haifa, Israel, geboren und hat später lange in Jerusalem gelebt, dessen numinose Stimmung ihn anscheinend tief geprägt hat. Nebenbei hat er dort sein M.A.-Studium abgeschlossen, während dessen er sich v. a. mit dem Bild des Juden im Spielfilm der DDR befasst hat. Seit Sommer 2006 weilt er an akademischen Einrichtungen im deutschsprachigen Mitteleuropa: anfangs in Wien, später in Berlin und dann in Heidelberg. Nach einer Hospitanz im Bundestag arbeitet er jetzt selbstständig in Berlin als Autor, Referent und Übersetzer aus dem Hebräischen und ins Hebräische. Nebenbei bietet er auch Tours of Jewish Berlin. * krechzn (Jiddisch): stöhnen; leidenschaftlich jammern.

7 Kommentare

  1. AUFKLÄRUNG – mit Erkenntnis und eindeutiger Wahrheit, oder mit zweifelsfrei-befriedeter Freundschaft, hat dieses Wort nichts am Hut, denn diese AUF-/-KLÄRUNG ist systembedingt!

  2. “Könnten also CDU- und NPD-Wähler auch gute Freunde sein wie Rabbiner und Pfarrer, …!

    – GANZ SCHLECHTES Beispiel, denn so wie sich die Beispielpaare systemrational in dieser realistischen UNWAHRHEIT bewegen, geht DAS allemal 🙂

    “Oder stecken wir in dieser Hinsicht noch im Mittelalter?”

    Im Mittelalter war der geistige Stillstand SICHER nicht so konsum- und profitautistisch bewußtseinsbetäubend geregelt, nicht so wettbewerbsbedingt symptomatisch, nicht so offensichtlich VERKOMMEN in denkfauler Kompromissbereitschaft und leichtfertig-kapitulativer Konfusion von “Wer soll das bezahlen?” und “Arbeit macht frei” – wenn dort das herrschende Establishment zu starken Druck ausübte, konnte Mann / Frau die Freiheit noch ziemlich großartig im Wald finden, oder auf einer einsamen Insel, ohne den geringsten Kompromiss zur “Vernunft” in der heuchlerischen “Aufklärung” 😉

  3. “Denn es geht ja nicht darum, eine Freundschaft zu erzwingen.”

    ZWANG / ZWÄNGE – Bei den systemrelevanten “Freundschaften”, wenn die Chemie auch nur OBERFLÄCHLICH stimmt und somit absolut nicht kompatibel ist, geht es in dieser Welt- und “Werteordnung” von Ausbeutung und Unterdrückung IMMER darum!

    Bis in die Tiefen des “Individualbewußtsein”, gibt es heute deutliche Signale der Suche nach dem befriedenden und fusionierenden Selbstbewußtsein, was SYSTEMBEDINGT ABER NICHT in geistig-heilende Bahnen läuft, sondern WIEDER zunehmend und eskalierend, brutal-egoisierend, spaltend, entfremdend, entmenschlichend, in stets systemrationaler LOGIK VERWIRKLICHT wird!

    “Gott ist Geist, und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.” Joh., 4,24

    – denn wir sind alle im SELBEN Maß durchströmt vom Geist der Gott ist, für ein Zusammenleben “wie im Himmel all so auf Erden”, WENN MÖGLICH, bzw. wenn Mensch in Raum und Zeit die Relativität …!? 🙂

  4. “… zum persönlichen Wachstum?”

    NICHTS gehört dem “EINZELNEN” wirklich-wahrhaftig / GRUNDSÄTZLICH allein. Sogar seine Gedanken nicht, weil diese auch IMMER in Abhängigkeit von der sonstwie gearteten / verWEISEnde Gemeinschaft BEGRENZT “wachsen” / GEPRÄGT werden!?

  5. FREUNDSCHAFT ist auch so ein Wort, welches wir aus dem Gebrauch streichen sollten, weil es zu oft mißbraucht wird und der Kategorisierung dient. Wo diese Kategorisierung hinführt, daß kann man an der Menschheitsgeschichte doch wohl deutlich genug ablesen!? 🙁

  6. Als X-Extreme werden in der Regel diejenigen bezeichnet, die aktiv diejenigen Systeme bekämpfen, die mit Hilfe der Ideen und Werte der Aufklärung politisch implementiert haben.
    Sie werden im Gegensatz zu X-Radikalen von den dafür vorgesehenen Einrichtungen bekämpft, während jene nur die o.g. Systeme abgeschafft sehen möchten, aber sozusagen auf der faulen Haut sitzen bleiben, dafür aber toleriert werden, wenn auch manchmal wie oben beschrieben beobachtet.

    Mit Trägern der üblichen politischen Meinung, sei sie nun bspw. liberal, links, rechts oder ökologistisch, ist eine “aufgeklärte Freundschaft” möglich.

    MFG
    Dr. W (der es aber auch schon mit Linksradikalen versucht hat, mit mangelhaftem Erfolg)

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