Was im Gedächtnis bleibt – und was nicht

Diese Frau da vorne habe ich doch schon mal gesehen. Aber wo? Wer kennt es nicht, dass einem Menschen oder Dinge begegnen, die uns bekannt vorkommen. Aber woran erinnern wir uns und woran nicht? Vielleicht liegt das gar nicht nur an uns, sondern auch an dem, was wir im Gedächtnis speichern wollen. Manche Dinge finden ihren Weg in unsere Erinnerungen leichter als andere.

An welche dieser Bilder werden Sie sich später erinnern? Wahrscheinlich an die, an die sich andere Leserinnen und Leser auch erinnern. Welche dieser Bilder das sind, steht am Ende des übernächsten Absatzes.
Abbildung: Khosla, Raju, Torralba, & Oliva (2015). Understanding and Predicting Image Memorability at a Large Scale. 2015 IEEE International Conference on Computer Vision (ICCV), 2390–2398. Verfügbar unter http://hdl.handle.net/1721.1/112993 Lizenz: CC BY-NC-SA

Konzentrierten wir uns auf die Gesichtszüge der Zufallsbegegnung in der Straßenbahn oder waren wir vom Smartphone abgelenkt? Hat uns ein Bild emotional berührt oder an einen früheren Museumsbesuch erinnert? Dies sind Faktoren, die beeinflussen können, ob wir ein bestimmtes Ereignis später erinnern oder nicht. Doch statt zu fragen unter welchen Umständen uns etwas im Gedächtnis bleibt, kann man die Frage auch anders stellen: Gibt es bestimmte Dinge, die viele Menschen erinnern? Gibt es zum Beispiel Personen, deren Gesicht in der Straßenbahn ihren Mitbürgern häufiger bekannt vorkommt oder, im Umkehrschluss, Personen deren Gesichtszüge häufig vergessen werden? Solche Regelmäßigkeiten treten in der Gedächtnisforschung tatsächlich zutage.

Ein weit verbreiteter Versuchsaufbau untersucht die Fähigkeit der visuellen Wiedererkennung. Hier sieht die Teilnehmerin eine Reihe von Bildern oder Abbildungen, zum Beispiel Fotos von Gesichtern. Sie gibt per Knopfdruck an, ob sie glaubt, dass es sich bei einem Gesicht um ein neues Foto handelt oder ob sie dieses Foto im Verlauf des Experiments schon einmal gesehen hat. So können Prozesse im Gehirn untersucht werden, die dem erfolgreichen Speichern von Informationen im Gedächtnis zugrunde liegen oder die beim Vergessen auftreten. 

Schaut man jedoch nicht auf die Gedächtnisleistung des Einzelnen, sondern auf Regelmäßigkeiten im Verhalten vieler Teilnehmer, lässt sich beobachten, dass manche Gesichter häufiger erinnert werden als andere. Verblüffenderweise ähneln sich verschiedene Versuchsteilnehmer und -teilnehmerinnen darin, welche Bilder sie wiedererkennen und welche sie vergessen. Manche Dinge sind also besser erinnerbar als andere. So stammen die Bilder in der Abbildung aus einer Studie, in der für 60000 Fotos untersucht wurde, wie häufig Freiwillige sie wiedererkannten. Die hier gezeigten Bilder sind ihrer Erinnerbarkeit von links nach rechts geordnet, sodass die Wahrscheinlichkeit ein Bild zu erinnern von links nach rechts sinkt. Die Bilder auf der linken Seite wurden also von den meisten Teilnehmern wiedererkannt, die auf der rechten Seiten am häufigsten vergessen.

Warum Bilder gut oder schlecht erinnerbar sind, ist nicht abschließend geklärt. Klar ist, dass wohl verschiedene Merkmale dazu beitragen. Generell erinnern wir Bilder von Menschen eher als Naturaufnahmen. Bilder, die Emotionen wie Ekel und Angst, aber auch Belustigung auslösen, werden häufiger wiedererkannt, während solche, die Ehrfurcht oder Zufriedenheit hervorrufen, leichter vergessen werden. Ist der Inhalt eines Bildes untypisch, etwa ein Elefant mit Brille, bleibt es eher im Gedächtnis. Nimmt man alle bekannten Faktoren zusammen, lässt sich jedoch nicht vollständig erklären, welche Bilder einprägsam sind und welche nicht. 

Dazu passt auch, dass Versuchsteilnehmer nicht gut einschätzen können, was sie später erinnern werden – und was nicht. Ihre Einschätzungen hängen eher damit zusammen, wie interessant und ästhetisch ansprechend sie es finden. Doch trotzdem ähneln sie sich darin, was sie später wiedererkennen und was nicht. Diese Erkenntnis zeigt, dass es – obwohl unsere Erfahrungswelten so subjektiv und einzigartig sind – Regelmäßigkeiten in unseren Erinnerungen gibt. Was sich eine Person merkt, lässt sich mit beachtlicher, wenn auch nicht hundertprozentiger Genauigkeit, daraus vorhersagen, was sich andere Menschen behalten.

Diese Erkenntnis birgt Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen: So könnte eine Filmproduzentin eine Hauptdarstellerin auswählen, deren Gesicht gut im Gedächtnis bleibt, während für den Geheimdienst vielleicht insbesondere die Kandidaten geeignet scheinen, an die sich der Betrachter selten erinnert. Auch politische Kampagnen oder Werbeagenturen könnten versuchen, um ihre Botschaften mit Bildmaterial zu versehen, das gut im Gedächtnis haftet.

Vielleicht gibt es also wirklich Personen, deren Gesicht auf der Straße vielen ihrer Mitmenschen bekannt vorkommt, während mehrfache Zufallsbegegnungen mit Anderen unbemerkt bleiben. Doch unser Gedächtnis ist weit mehr als die Fähigkeit etwas wiederzuerkennen. Zum Beispiel wollen wir verschiedene Erlebnisinhalte miteinander im Gedächtnis verknüpfen. So wollen wir eine Person nicht nur wiedererkennen, sondern beim nächsten Treffen auch beim Namen nennen können. Aber ob es einfacher ist sich den Namen zu merken, wenn das Gesicht einprägsam ist? Das ist zurzeit noch unerforscht.

Weiterführende Literatur (Übersichtsarbeiten in englischer Sprache)
Bainbridge, W. A. (2019). Chapter One – Memorability: How what we see influences what we remember. In K. D. Federmeier & D. M. Beck (Eds.), Psychology of Learning and Motivation (Vol. 70, pp. 1–27). Academic Press. https://doi.org/10.1016/bs.plm.2019.02.001 [PDF via Website der Autorin]
Rust, N. C., & Mehrpour, V. (2020). Understanding Image Memorability. Trends in Cognitive Sciences, 24(7), 557–568. https://doi.org/10.1016/j.tics.2020.04.001 [PDF]

Ich bin ein kognitiver Neurowissenschaftler und erforsche das menschliche Gedächtnis. In meiner Forschung nutze ich virtuelle Realität und Hirnscans, um zu untersuchen, wie das Navigationssystem des Gehirns unser Denken steuert. Ich habe in den Niederlanden und Norwegen promoviert und arbeite nun in der Abteilung Psychologie des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig.

7 Kommentare

  1. zur Fähigkeit vom Namen-merken gibt es zwei Gruppen:

    A) Es gibt Leute, welche beim Grüßen immer den Namen anfügen – z.B. ´Guten Tag Herr/Frau XY´
    B) Und andere Leute grüßen meist ohne Namenszusatz – z.B. ´Guten Tag´

    Dieses Beispiel zeigt, dass das Namen-merken weniger mit der Gesichtserkennung zu tun hat, sondern eher ein Lerneffekt ist. Wer den Namen von Personen beim Grüßen immer wieder ausspricht, prägt sich diesen besser ein. Wiederholen = Lernen

  2. Zitat Jacob Bellmund:

    Diese Erkenntnis birgt Anwendungsmöglichkeiten in verschiedenen Bereichen: So könnte eine Filmproduzentin eine Hauptdarstellerin auswählen, deren Gesicht gut im Gedächtnis bleibt, …

    Ja. Eine solche Hauptdarstellerin, bei der sowohl das Gesicht als auch der Name gut im Gedächtnis bleibt/blieb ist Beth Harmon in der Netflix-Miniserie Damengambit. Diese Miniserie handelt von Schach ♟ und hat trotzdem einen riesigen Erfolg beim Publikum, was so weit geht, dass gerade deutlich mehr Schachbretter gekauft werden. Es liegt an der Kombination Frau mit markantem Gesicht, interessantem Namen, interessanter Kindheit, interessantem Suchtproblem (Beruhigungspillen+Alkohol) und einer doch recht glaubhaften, wenn auch unglaublichen Geschichte von Erfolg in einer Männerwelt, die diesen Schachfilm zum Erfolg machte.

  3. “Diese Frau da vorne habe ich schon mal gesehen…”
    Kann verschiedene Ursachen haben. So verarbeitet unser Unterbewusstsein sehr viel mehr Sinneswahrnehmungen-die uns nicht bewusst sind- als unser Tagesbewusstsein. Diese im Unterbewusstsein abgespeicherten Bilder entziehen sich also unserem Bewusstsein .Andererseits kann es eine Täuschung sein, da diese Frau mich an eine bestimmte Frau aus meiner Vergangenheit erinnert. Erinnerung in dem Sinne, dass nur einige Gesichtszüge mich erinnern lassen. Das Gehirn baut sich dann von selbst daraus diese Erinnerung. Oft reichen die Augen bzw. der Blick oder Frisur etc…

  4. Der Namenszusatz hat psychologisch gesehen mehrere Ursachen.
    1. Er betont die Rangordnung.
    2. Er betont die Wertschätzung wenn man eine Person lange Zeit nicht gesehen hat und soll zeigen, dass man deren Namen nicht vergessen hat.

    Kennt man die Person gut, z.B. der Nachbar, dann würde der Namenszusatz zum Denken Anlass geben, weil das nicht üblich ist.

    Was im Gedächtnis bleibt ist auch davon abhängig, ob man ein bildhaftes Gedächtnis hat, ein akustisches Gedächtnis oder man erinnert sich an Situationen, an Umstände.

    Frauen wissen instinktiv, dass ein auffallender Hut Aufmerksamkeit erregt.
    Männer machen akustisch auf sich aufmerksam oder sie geben sich charmant oder kumpelhaft.

  5. Sich Dinge wie Gesichter, Namen, Fakten und Ereignisse merken kostet eine gewisse geistige Energie, was sich etwa in Äusserungen kundtut wie “heute war mein erster Tag bei … und ich ganz müde von den vielen neuen Eindrücken.“
    Wer weiss, dass er Dinge im Bedarfsfall in einem Buch oder im Internet nachschlagen kann, der merkt sich diese nachschlagbaren Dinge auch weniger. Das wurde übrigens bereits beim Übergang zur Schriftlichkeit von einigen bemerkt (und beklagt) und geht heute so weit, dass viele ihre eigene Telefonnummer nicht kennen, denn 1) telefoniert man sich nicht selbst und 2) kann man bei Bedarf im Adressbuch des eigenen Internets nachschauen.

    Ein gutes Gedächtnis wird jedoch von Anderen meist positiv beurteilt und als Zeichen der Aufmerksamkeit und Achtsamkeit gesehen. Besonders gut kommt es an, wenn jemand den Namen des Anderen präsent hat. Im alten Rom hatten Senatoren deshalb oft Sklaven deren Aufgabe es war, dem Senator den Namen von Entgegenkommenden zuzumurmeln. In Zukunft aber könnte diese Aufgabe von Smart Glasses übernommen werde, also von Videobrillen mit eingebauter Intelligenz. Solche Smart Glasses könnten gerade für ältere Menschen mit beginnenden kognitiven Einschränkungen wertvolle Dienste leisten. Dazu müssen sie aber noch unauffälliger und leistungsfähiger werden als es die Prototypen von Google waren.

  6. Ein relativ einfaches Experiment von Giovanni Caputo zeigte, dass wir uns an Gesichter nicht als Ganzes erinnern – sondern dass diese Erinnerung aus Teilinformationen rekonstruiert wird:
    Die Versuchspersonen betrachteten bei diesem Versuch das eigene Gesicht einige Minuten lang, bei schlechter Beleuchtung, in einem Spiegel.
    Ein großer Teil der Versuchspersonen ´sah´ nach kurzer Zeit das eigene Gesicht zu einer Fratze verzerrt oder erkannte sogar ein völlig anderes Gesicht.
    Quelle:
    DOI: 10.1068/p6466 Strange face in the mirror illusion

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