Der Siegeszug des Verzichts – Online-Lesung mit Spektrum-Redakteur Steve Ayan

In Zeiten von Corona müssen wir auf vieles verzichten. Doch Verzicht kann auch etwas Positives sein. Wir können auch langfristig Verzicht lernen, um nachhaltiger zu leben.

6 Kommentare

  1. Verzicht ist ein gutes Thema für Gehirn&Geist, denn bei Verzicht geht es um psychologische, das Selbstbild und den Auftritt in der Peergruppe betreffende Phänomene wie die Fähigkeit zur Selbstkontrolle und die Beziehung zur Welt, wobei „Verzicht“ ja positiv konnotiert ist und man als „Verzichter“ zu den Guten gehört (sogar Google will gut sein).
    Weil Verzicht aber oft kompensiert wird (Wohlhabende ohne Auto fliegen nachgewiesenermassen häufiger, auch Wähler der Grünen gehören zu den Vielfliegern ). tut man mit Verzicht, der vor allem das Selbst- und Fremdbild polieren will, der Welt gar nicht so viel Gutes.
    Es gibt eine Alternative zum Verzicht: die Suffizienz, wobei ich hier vor allem den Aspekt „Entschleunigung und Abwerfen von Ballast“ betonen möchte. Zur Suffizienz gehört aber auch eine ethische Einstellung, nämlich der Wunsch etwa das eingesparte Geld bei einer suffizienten Lebensweise andern zugute kommen zu lassen – andern, denen das Geld fehlt. Der (Tierrechts-)Philosoph Peter Singer etwa sagt er gebe Gespartes an Entwicklungshilfeprojekte. Das finde ich gut und viel echter und wirkungsvoller als der Verzicht aus Selbst- und Fremdbildgründen.
    Allerdings teile ich Peter Singers Tierrechtsvorstellungen nur zum Teil. Fleisch essen ist für mich kein moralisches Problem, sondern es ist eine sinnvolle Nahrungskomponente, bei der es allerdings genügt, 1 bis 2 Mal im Monat davon Gebrauch zu machen. Wenig Fleisch essen ist für mich kein Verzicht und ich kann die nicht verstehen, die nach Fleisch🥩 lechzen. Unethisch finde ich aber die Ausrottung von Tierarten und falsch sind die immer grösseren Flächen der Erde, die nur der Nahrungserzeugung dienen, denn der Mensch ist für mich in der Tat nur ein Lebewesen unter anderen.

  2. Der VERZICHT ist wohl der größte Feind des Kapitalismus, denn dieser will Umsatz machen, Gewinne und Dividende. Wer verzichtet, konsumiert nicht, ist uninteressant, verzichtet auf materielle Werte, auf Spekulationen an der Börse, auf Raffgier, Besitzstreben, Luxusautos, Luxusvillen, dicke Bierbäuche, Fettleber etc….. kurz auf all das, was das Leben lebenswert macht, so jedenfalls die medialen Gebetsmühlen. Menschenverzichten erst, wenn ihnen das Wasser bis zum Halse steht, wenn die Saharasandstürme durch deutsche Großstädte wehen oder die Ostseewellen Berlin unterspülen. Bis dahin ist grenzenlose Party angesagt…

    • @Querdenker (Zitat):

      Der VERZICHT ist wohl der größte Feind des Kapitalismus

      Zustimmung. Aber anstatt Kapitalismus würde ich eher sagen, Verzicht und Genügsamkeit ist der grösste Feind von Vorwärtsstreben und der grösste Feind einer auf Schulden und Abzahlung von Schulden beruhenden Lebensweise.

      Wer verzichtet, der ist weniger von anderen und ihren Dienstleistungen abhängig und er schuldet damit auch weniger Gegenleistungen. Verzicht ist also Verzicht auf Begierde, auf Haben- und Besitzenwollen, auf das Bestreben, auf jeden Fall und um jeden Preis zu existieren. Und das ist letztlich ein buddhistischer Gedanke.
      Wer aber will auf alle Chancen in seinem Leben verzichten? Kaum jemand. Deshalb wird in unserer Gesellschaft Verzicht nur punktuell eingesetzt: man verzichtet auf das Steak um sich mit etwas anderem zu belohnen, man beweist mit temporärem Verzicht Willensstärke wie im von der Psychologie bekannten Marshmallow-Test, in dem ein Kind während 10 Minuten oder so auf einen Marshmallow verzichtet und als Belohnung dann zwei Marshmallows erhält.

  3. “Wir können auch langfristig Verzicht lernen, um nachhaltiger zu leben.”

    Um nachhaltiger / wirklich-wahrhaftig zu leben, müssen wir lernen unser Zusammenleben global in Gemeinschaftseigentum OHNE die Symptomatik des “freiheitlichen” Wettbewerb zu organisieren – Ohne das zynisch-wettbewerbsbedingte Unternehmertum (Erpressung, Ausbeutung und Unterdrückung), werden wir die vor allem umweltbelastende Überproduktion von quantitativ-profitorientierten Kommunikationsmüll beenden, was bedeutet: Es wird konsequent nur nach ökologisch-ökonomischem Bedarf EINE Qualität auf neuesten Stand der Technik produziert, bzw. alle Werte ohne manipulative Schwankungen demokratisch verwaltet.

  4. Ich bin nicht wirklich optimistisch, dass die Menschen aus der Krise lernen werden und die Welt nach der Krise etwas besser sein wird.

    Nein, ich fürchte eher, dass es beim alten bleiben wird, wenn die Krise vorüber ist und es möglicherweise sogar ein klein wenig schlimmer sein wird.

    Michel Huellebecq hat dazu einen interessanten Essay geschrieben (ich weiß, der Mann ist ziemlich skandalträchtig und wird aller möglicher Dinge bezichtigt, von Bigamie bis zu einer reaktionären politichen Auffassung – ich persönlich halte ihn jedoch für eher “unpolitisch” bzw. für einen totalen “Politikerhasser”).

    In der deutschen Presse muss man leider dafür zahlen, die Übersetzung zu lesen, deswegen habe ich hier eine eigene Übersetzung von signifikanten Fragmenten des Textes beigefügt (das französische Original ist nämlich frei zugänglich):

    “Ein bisschen schlimmer

    Antworten an Freunde

    Es muss zugegeben werden: Die meisten E-Mails, die in den letzten Wochen ausgetauscht wurden, sollten in erster Linie überprüfen, ob der Gesprächspartner nicht tot war oder gerade dabei war zu sterben.

    Aber nachdem wir das überprüft hatten, versuchten wir immer noch, interessante Dinge zu sagen, was nicht einfach war, weil diese Epidemie das Kunststück vollbrachte, sowohl beängstigend als auch langweilig zu sein. Ein weit verbreitetes Virus, das nicht sehr prestigeträchtig schien und offenbar obskuren Influenzaviren verwandt ist, mit schlecht verstandenen Überlebens- und Übertragundsbedingungen, mit vagen Merkmalen, manchmal gutartig, manchmal tödlich, nicht einmal sexuell übertragbar: kurz gesagt, ein Virus ohne markante Eigenschaften.

    Diese Epidemie kann jeden Tag einige tausend Menschenleben auf der ganzen Welt fordern, man hat aber immer noch den seltsamen Eindruck, dass sie nicht als wirkliches Ereignis wahrgenommen zu werden scheint. […]

    Emmanuel Carrère (Schriftsteller und Philosoph Paris-Royan) fragt sich „Werden (ducrh diese Krise) interessante Bücher geboren, die von dieser Zeit inspiriert sind? Er fragt sich das tatsächlich!

    Ich frage mich das auch. Ich habe mir die Frage wirklich gestellt, aber tief im Inneren glaube ich nicht daran. Über die Pest hatten wir viele Dinge in der Literatur, im Laufe der Jahrhunderte hat die Pest Schriftsteller sehr interessiert/inspiriert.

    Hier habe ich allerdings Zweifel. Ich glaube noch nicht einmal eine halbe Sekunde lang an Aussagen wie “Nichts wird jemals wieder so sein wie zuvor”.

    Im Gegenteil, alles wird genau gleich bleiben. Der Verlauf dieser Epidemie erscheint irgendwie bemerkenswert normal. Der Westen ist nicht für die Ewigkeit von Rechts wegen das reichste und am weitesten entwickelte Gebiet der Welt.
    Das ist nun vorbei, all das ist seit einiger Zeit keine Sensationsmeldung mehr. Wenn wir uns das genauer ansehen, geht es Frankreich etwas besser als Spanien und Italien, aber weniger gut als Deutschland. Dies ist auch keine große Überraschung.

    Andererseits erwartet man wohl, dass das Coronavirus als Hauptergebnis bestimmte laufende Veränderungen beschleunigen wird. Seit einigen Jahren haben alle technologischen Entwicklungen, ob geringfügig (Video on Demand, kontaktloses Bezahlen) oder groß (Telearbeit, Internet-Shopping, soziale Netzwerke), hauptsächlich zur Folge (für welches Hauptziel?), das direkte Kontakte und insbesondere Kontakte zwischen Menschen verringert werden.

    Die Coronavirus-Epidemie bietet einen großartigen Grund für diesen starken Trend: eine gewisse Produktveralterung, die die menschlichen Beziehungen zu beeinträchtigen scheint, wird beseitigt.

    Das erinnert mich an einen luziden Vergleich, den ich in einem „Anti-Künstliche-Befruchtung-und-in-vitro-Fertilisations-Text“ einer Gruppe von Aktivisten namens “Die Schimpansen der Zukunft” notiert habe – ich habe diese Leute im Internet entdeckt; Ich habe nie gesagt, dass das Internet nur Nachteile hat.

    Also zitiere ich sie: „Bald wird es so unpassend sein, eigene Kinder kostenlos, auf natürlichem Weg und zufällig zu haben, wie per Anhalter ohne Webplattform zu reisen.” Fahrgemeinschaften, Mitbewohner, wir haben die Utopien, die wir verdienen, lass uns weitermachen.

    Es wäre ebenso falsch zu sagen, dass wir das Tragische, den Tod, die Endlichkeit usw. wiederentdeckt haben.

    Der von Philippe Ariès gut beschriebene Trend seit mehr als einem halben Jahrhundert besteht darin, den Tod so weit wie möglich zu vertuschen.

    Nun, der Tod war noch nie so ruhig wie in den letzten Wochen. Menschen sterben allein in ihrem Krankenhaus oder in ihren Alters- oder Pflegeheim-Zimmern, sie werden nach ihrem Ableben sofort begraben (oder werden sie verbrannt? Die Verbrennung ist wohl eher im Geiste der Zeit), ohne dass es dafür heimliche Zeugen gibt .

    Die Opfer, die ohne Beweise an dem Virus gestorben zu sein, tot sind, beschränken sich in der täglichen Corona-Todesstatistik praktischerweise auf eine einzige Einheit, und die Angst, die sich mit zunehmender Gesamtzahl an Verstorbenen in der Bevölkerung ausbreitet, ist auf merkwürdige Weise abstrakt.

    Eine andere Zahl wurde in diesen Wochen sehr wichtig, die des Alters der Kranken. Wie lange sollte man sie wiederbeleben und behandeln? Bis 70, 75, 80 Jahren? Es hängt anscheinend von der Region der Welt ab, in der wir leben; aber niemals hatte man mit so ruhiger Schamlosigkeit die Tatsache zum Ausdruck gebracht, dass das Leben aller nicht den gleichen Wert hat; Ab einem bestimmten Alter (70, 75, 80?) ist es, als ob Sie bereits tot wären.

    Alle diese Trends, sagte ich, existierten bereits vor dem Coronavirus; sie manifestieren sich jetzt bloß mit neuer Evidenz.

    Wir werden nach der Entbindung nicht in einer neuen Welt aufwachen; es wird das gleiche sein, NUR EIN BISSCHEN SCHLIMMER.

    Michel Huellebecq (Übersetz von W. Seidel-Guyenot)

    Ich habe die ausgewählten Textfragmente übrigens sehr “wortwörtlich'” übersetzt um dessen Authentizität zu bewahren. Deshalb liest er sich hier teilweise etwas “holperig”.

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