Sind Orca-Männchen Muttersöhnchen?

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Orcas of various ages in Johnstone Strait, British Columbia
Orca-Gruppe aus Weibchen und Jungtieren in der Johnstone Strait, British Columbia (Wikipedia: Winky from Vancouver, Canada: “Orcas of various ages in Johnstone Strait, British Columbia”)

Die gerade in Current Biology publizierte Studie “Costly lifetime maternal investment in killer whales“ von einem Team um Michael M. Weiss (Research Director Center for Whale Research (CWR) dedicated to the study and conservation of the Southern Resident Killer Whale (Orca) population in the Pacific Northwest; University Exeter) hat einige überraschende Ergebnisse gebracht: Orca-Mütter reduzieren nach der Geburt eines Sohns ihre Reproduktion um 70%.

Die Orcas (Orcinus orca, Schwertwal, killer whale) vor der nordamerikanischen Pazifikküste sind schon lange unter wissenschaftlicher Beobachtung und gut erforscht: Die Southern Residents leben in von einer Matriarchin geführten Familiengruppen aus deren Söhnen und Töchtern, sowie dem Nachwuchs der Töchter. Diese matrilineare Familiengruppe löst sich erst auf, wenn die Matriarchin stirbt.
Dieser Orca-Clan lebt ganzjährig im Küstenbereich vor allem vor den Küsten Washingtons (USA) und British Columbias (Kanada) und gehört zum Ökotyp (Ecotype) „Fischfresser“ – sie sind spezialisiert auf den fetten Lachs, wie etwa den Chinook. Insgesamt bekommen sie nicht viel Nachwuchs, denn ein junger Orca braucht viel Aufmerksamkeit von der Mutter und der gesamten Gruppe. So lehren etwa Orca-„Omas“, die selbst bereits in der Menopause sind, ihre Enkel die besten Strategien, um die fettesten Lachse zu erwischen.

Dass bei verschiedenen langlebigen Säugetierarten Eltern und vor allem Mütter viel für ihren Nachwuchs opfern, ist nicht neu. Die Orca-Mütter sind allerdings extrem: Sie reproduzieren sich nach der Geburt eines männlichen Kalbes nur noch selten. „Wir wissen seit über einem Jahrzehnt, dass sich erwachsene männliche Killerwale auf ihre Mütter verlassen, um sie am Leben zu erhalten, aber es war nie klar, ob Mütter dafür etwas bezahlen“, sagte Michael N. Weiss gegenüber der Presse. Da diese Orca-Population seit 1976 vom Center for Whale Research beobachtet und erforscht wird, sind die einzelnen Familien und Individuen per Photo-ID bekannt, ihre charakteristischen Rückenflossen und die ebenfalls individuellen weißen „Sattelflecken“ sind so zuverlässige Merkmale wie Fingerabdrücke. Darum kennen die Forscher die Demographie der Wale gut genug, um solche Fragestellungen, wie sich die Fürsorge für Söhne und Töchter auf die Fortpflanzungschancen der Mütter auswirkte, zu untersuchen.

Orca-Mütter betreuen auch erwachsene Söhne

So fanden Weiss und seine KollegInnen heraus: Die Daten zeigen eine starke negative Korrelation zwischen der Anzahl der überlebenden entwöhnten Söhne der Weibchen und ihrer jährlichen Wahrscheinlichkeit, ein lebensfähiges Kalb zu gebären – Orca-Mütter gebären nach der Geburt eines Sohnes sehr viel seltener weitere Kälber. Und zwar auch dann nicht, wenn die Söhne erwachsen sind. Damit war der fehlende Nachwuchs auch nicht durch die energiezehrende Phase des Säugens erklärbar.
Darum stellen Weiss und die anderen Biologen jetzt die Hypothese auf, dass die Betreuung von Söhnen bis ins Erwachsenenalter hinein reproduktiv kostspielig für die Mutter ist (Kosten sind hier im biologischen Sinne als Aufwand und Verzicht gemeint). „Das Ausmaß der Kosten, die die Walmütter für die Pflege ihrer entwöhnten Söhne auf sich nehmen, war wirklich überraschend“, sagte Weiss. Die Biologen schätzen, dass jeder weitere Sohn die Chancen eines Orca-Weibchens auf weiteren Nachwuchs um mehr als 50 % verringert. Sie zahlen also einen hohen Preis für die Versorgung auch erwachsener Söhne. Weiss erklärt: „Weibchen gewinnen evolutionäre Vorteile, wenn ihre Söhne sich erfolgreich fortpflanzen können, und unsere Ergebnisse zeigen, dass diese Vorteile ausreichen, um die großen direkten Kosten aufzuwiegen“.

Um das zu verstehen, muss man einen genaueren Blick auf die Orca-Community werfen: Zur Paarung treffen sich mehrere Familiengruppen, so dass sich die Männchen einer Gruppe mit den Weibchen einer anderen Familie fortpflanzen, wie Vaterschaftstests ergeben hatten. Der Nachwuchs wächst dann in der Familie der Mutter auf und wird dort auch von deren Brüdern und Vettern betreut, nicht aber vom biologischen Vater. Die Männchen haben innerhalb einer Familie oft auch andere wichtige Aufgaben: In vielen „mammal-eating“ Orca-Gruppen, die große Meeressäuger jagen, ist zu sehen, dass die Bullen aufgrund ihrer Größe und Masse Angriffe auf Großwale maßgeblich anführen – Männchen werden mit über 8 Metern Länge und über 6 Tonnen Gewicht deutlich größer und schwerer als Weibchen. Im letzten Jahr waren einige spektakuläre Orca-Jagden auf Blauwale beobachtet worden, wo große Männchen die „Speerspitze“ der Jagdgesellschaft bildeten. Da sie einen gejagten Bartenwal rammen und unter Wasser drücken, sind Größe und Masse tatsächlich wichtig für den Jagderfolg. Die Familienmitglieder teilen sich ihre erjagte Beute, auch wenn es dann für alle nur ein Häppchen gibt. Damit sorgen die Söhne also für Nahrung für die gesamte Familie und damit auch für Fitness und Reproduktionserfolg aller. Auch sie selbst haben dadurch vermutlich Vorteile, ihre Gene weiterzugeben, dazu gibt es allerdings noch keine Forschungsergebnisse.

Schwertwalmutter mit Jungtier, Südgeorgien
Schwertwalmutter mit Jungtier, Südgeorgien (Wikipedia: Christopher Michel)

Diese Forschungsergebnisse zeigen einmal mehr, wie elementar wichtig die Mutter-Sohn-Bindung ist, bis zum Tod der Mutter bleiben. In der Presse habe ich viele Artikel gelesen, die darauf fokussierten, dass die Orca-Mütter sich für ihre Söhne aufopfern, diese Beziehung wurde als Belastung dargestellt.
Das greift zu kurz: Wenn man sich die Familienstruktur und die Interaktionen innerhalb der Gruppen anschaut, wird ja deutlich, was der Benefit der Mütter und der ganzen Familie ist.

Southern Residents: Lachsfischerei und Ölpesten

Da die Southern Residents mit nur noch 73 Individuen zählen, ist dieser Aspekt auch wichtig für den Schutz dieser Sub-Population. Da Orcas sich aufgrund ihrer kulturellen Unterschiede und der damit verbundenen Kommunikation sich nur innerhalb ihrer Sub-Population fortpflanzen (die durch eine gemeinsame „Sprache“ eine gemeinsame Kultur hat), muss für ihr Management jede Sub-Population mit ihrem Ökotypen gesondert berücksichtigt werden.

Die Southern Residents sind die vermutlich besterforschte Säugetiergruppe der Welt, meint Weiss. Seit 1976 gibt es jedes Jahr eine vollständige Volkszählung der Population. Von den 40 Weibchen, deren Alter bekannt ist, haben die Biologen die Geburtenrate von 1982 bis 2021 analysiert: Es gab 67 dokumentierte Geburten. Aufgrund der hohen Neugeborenensterblichkeit in dieser Population eine Geburt galt für uns als „erfolgreich“, wenn das Kalb sein erstes Lebensjahr überstanden hat. Von den 67 Geburten überlebten 54 Kälber das erste Lebensjahr und sind damit Fälle erfolgreicher Reproduktion.

Sie gehören zum Ökotyp „fish-eater“. Um einen Orca mit seinem hohen Stoffwechsel satt zu machen, braucht es besonders fette oder besonders große Fische. Darum ernähren sich diese nordpazifischen Wale ausschließlich von Lachs, der über Jahrtausende reichlich vorhanden war. Sie haben ihre Jagdmethode und ihr Familienleben danach ausgerichtet. Darum können sie nicht einfach auf andere Fische ausweichen. Leider wird der Lachs durch Fischerei, Lebensraumzerstörung und Meeresverschmutzung immer knapper, so dass die Southern Residents mittlerweile in direkter Konkurrenz zu den menschlichen Fischern stehen. Gleichzeitig leiden sie in direkter Nähe der Küsten unter der starken Nutzung ihres Lebensraums durch Menschen. Von den etwa 300 Walen, die zwischen 1962 und 1977 im Nordpazifik lebendig für Show-Aquarien gefangen wurden, stammten 36 aus dieser Sub-Population, 11 davon starben. Bei so langlebigen Tieren hatte das katastrophale Auswirkungen auf die Familien, die sich untereinander kennen und enge Beziehungen pflegen. In den 1980-er Jahren erholte sich ihr Bestand ein wenig, um dann ab 2000 wieder abzusinken.
Sie leiden unter Schiffslärm und -verkehr sowie der chemischen Verschmutzung, die die Fortpflanzungsrate verringert. Neben der stetigen Verschmutzung kommen in dem dicht befahrenen Seegebiet auch immer wieder Ölpesten durch Öltanker-Havarien vor, die sich ebenfalls auf die Orcas auswirken. So hatte der alaskanische Wal-Experte Craig Matkin (North Gulf Oceanic Society in Homer, Alaska) mir in einem Interview berichtet, dass von den Orcas vor British Columbia, die 1989 von der 42 Millionen-Liter-Exxon Valdez-Ölpest betroffen waren, sich vermutlich nie davon erholen werden (mein Bild der Wissenschaft-Artikel dazu ist leider in Print erschienen, darum gibt es keinen link). Damals seien in einer Familie von 22 Walen 13 direkt nach dem Kontakt mit dem Öl gestorben, andere starben später. Bei den engen Familienbanden kommt es nicht vor, dass ein Tier einfach abwandert; beim Verschwinden eines Wals gehen die Biologen von dessen Tod aus. Da Wale kein Öl kennen, wird nach Ölunglücken immer wieder beobachtet, wie sie durch die Ölschlieren einfach hindurchschwimmen. Einige der toxischen Erdölkomponenten führen zu Organversagen, schnellem Tumorwachstum und Unfruchtbarkeit (dazu hatte ich im Kontext mit der Deepwater Horizon-Ölpest im Golf von Mexiko ausführlich recherchiert).

Darum sind die Ergebnisse dieser Arbeit auch ein wichtiger Aspekt für das Management der Southern Residents; sie sind stark gefährdet, dabei ist ihre niedrige Fortpflanzungsrate das größte Problem. Die neuen Ergebnisse zeigen einen wichtigen und bisher nicht erkannten entscheidenden Faktor für den Fortpflanzungserfolg weiblicher Orcas, um künftig noch bessere Analysen zur Populationslebensfähigkeit zu erstellen. Diese Studie ist eine in dem wachsenden Themenbereich zur Bedeutung der Sozialsysteme von Tieren bei der Bestimmung demografischer Muster aufzeigen. Sie zeigt klar, dass Orca-Fortpflanzung noch komplexeren Mechanismen unterliegt, als bislang auch nur jemand vermutet hatte.

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Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

6 Kommentare

  1. Wieder einmal ein lehrreicher Artikel über die Orcas. Danke.

    Zwei allgemeine Anmerkungen habe ich noch:
    1) Der vorletzte Absatz hört abrupt mit (dazu auf. Fehlt da noch ein Hinweis?
    2) Was ist mit dem html-Befehl unter dem letzten Absatz? Seiht für mich so aus, als ob ein Foto nicht richitg verlinkt wurde.

    • @RPGNo1: Danke! Hmpf. Ich finde den Gutenberg-Editor immer noch etwas gewöhnungsbedürftig und umständlich, weil er Texte und Überschriften als einzelne Blöcke annimmt. Beim Text Einfügen ist die letzte Zeile verloren gegangen. Jetzt stimmt es.
      Der img-html-Code war das Zähl-Pixelchen, der sollte im Frontnend natürlich verborgen sein.

  2. Auch beim Menschen scheint es lange verborgen gebliebene Effekte zwischen Müttern und Söhnen zu geben, die den Anschein von evolutionärer Ineffektivität zur Seite schubsen.

    in direkter Konkurrenz zu den menschlichen Fischern stehen

    Herrliche Formulierung!

  3. Interessante Studien, Danke dafür! Nun muss ich aber ja wieder fragen: Dass die Southern Residents ausschliesslich Lachs futtern will ich gern glauben. Dass sie aber nichst anderes fangen können, das kann ich kaum glauben, denn dazu sind andere Orca-Jagd-Strategien viel zu ausgefeilt und flexibel. Wir haben im vergangenen November die Herings-Orcas in Nordnorwegen besucht und erlebt, wie diese jagen – wenn denn Hering verfügbar ist. Ausserhalb der Saison aber jagen diese Orcas auch andere Fische oder Meeressäuger.

    Daher nochmal meine Frage, ob es denn inzwischen Studien gibt, die, z.B. über den Mageninhalt gestrandeter Orcas, tatsächlich die überwiegend einseitige Ernährung ortstreuer Populationen belegen? Ansonsten basiert die Annahme des Mutterinvests ja zunächst auf Spekulationen bzw. die Theorie, dass die Mütter den Jungs so lange etwas beibringen müssen erscheint etwas flach, auch wenn es Gründe geben mag, warum die Muttersöhnchen selten noch jüngere Geschwister bekommen. Vielleicht gibt es dafür ja auch noch andere Gründe…

    • @Remmer: Ja, die norwegischen Orcas sind Offshore-Transients, die haben ihr Nahrungsspektrum angepaßt. Allerdings haben sie nur im Winter Hering gefressen. Im Sommer waren sie dann im offenen Ozean, niemand weiß, was sie dort gejagt haben. Sie leben in einem riesigen Gebiet und der Nordatlantik ist hoch produktiv mit viel Nahrung. Die Residents leben in einem recht kleinen Küstenbereich, das offene Meer ist das Reich der Transient-Orcas. Die jagen im Nordpazifik vor allem Meeressäuger. Beide Gruppen gehen sich aus dem Weg. Die Residents sind hochgradig kommunikativ, die Residents halten meist Funkstille, weil die Meeressäuger sie ja hören würden. Beide verhalten sich extrem unterschiedlich, in ihrer Interaktion und gegenüber Menschen. Darum könnten die Residents wohl nicht so einfach auf Meeressäuger-Menüs umsteigen. Schließlich müsen sie in der Lernphase auch von etwas leben.
      Mit anderen Fischen ist es nicht so einfach: Orcas haben einen hohen Stoffwechsel und brauchen viel und fette Beute, jeden Tag. Lachse sind relativ groß und fettreich, davon werden sie satt. Die anderen Fische, die dort leben, sind nicht so groß und fett oder/und kommen nicht in so großen Schwärmen vor. Darum scheint es für die Transients schwierig, dort andere Beute in ausreichender Menge zu finden.
      https://scienceblogs.de/meertext/2021/04/26/sind-orcas-waehlerisch-beim-essen/

      Andere Orca-Populationen oder Individuen können sehr wohl Neues lernen:
      Das Pärchen in der südafrikanischen Walfisbay hat gelernt, sich an fetten Hailbern sattzufressen – Große weiße Haie haben das Gebiet mittlerweile verlassen, so dass der Hai-Tourismus dort zusammengebrochen ist.

      Die Gibraltar-Orcas sind jetzt zur Konfrontation übergegangen und verteidigen ihre Familie – dabei geht es um Thunfisch und verletzte und tote Orcas durch die Thunfischerei
      https://scienceblogs.de/meertext/2022/06/29/orcas-die-jachten-rammen/

      Auch antarktische Typ C Orcas haben Probleme durch Fischerei, es geht um antarktischen Seehecht:
      die https://scienceblogs.de/meertext/2016/02/03/die-orcas-der-antarktische-seehecht-und-wir/
      Sie scheinen ebenfalls Probleme mit der Suche nach Alternativen zu haben, obwohl das Südpolarmeer sehr produktiv ist und sich etwa fette Meeressäuger anbieten würden. Andere antarktische Orca-Ökotypen fressen ja auch anderes.

      Wenn sie und die nordpazifischen Residents sich nicht auf andere Nahrung umstellen, könnten sie aussterben. Die Frage ist, wie hoch der Druck zur Verhaltensänderung ist und wie findig die jeweiligen Clans sind. Vielleicht schaffen ja einige jüngere Tiere eine innovative Jagdmethode und unterrichten dann die anderen. Wer sich nicht ändert, stirbt aus. Für Evolutionsbiologen sind Orcas jedenfalls extrem spannend.

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