Pottwal-Massenstrandung im Humber-Ästuar, England

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Gerade habe ich die Nachricht gesehen: im Humber-Ästuar sind fünf Pottwale gestrandet und natürlich verendet. Wenn solche Leviathane, deren Tagesgeschäft das Abtauchen in extreme Abgründe unserer Ozeane ist, wo sie in absoluter Dunkelheit und Kälte bevozugt Tintenfische jagen, hilflos am Strand liegen, fühle ich immer tiefe Trauer.

Auf den Bildern sind ihre zur Seite gekippten Körper zu sehen, die gewaltigen Fluken liegen im Sand, der Penis ist nach dem Erschlaffen der Muskulatur aus dem Körperinnern gerutscht.
Es sind junge Bullen, die von Norden auf dem Weg nach Süden, in wärmere Gewässer und zu den Weibchen mit den Familien waren. Bachelors werden sie genannt, sie sind noch nicht erwachsen und in kleinen Gruppen unterwegs. Die Schwanzwurzel ist noch schlank, sie werden vermutlich unter 14 Metern lang gewesen sein. Ältere Bullen werden breiter und ziehen allein.

Leider stranden sie gerade an den flachen Nordseeküsten seit historischen Zeiten regelmäßig.
Da bei Wal-Strandungen schnell Spekulationen durch die Medien gehen, möchte ich hier den Faktencheck bringen:

1. Die Pottwale sind junge Bullen, ihre Körper sind noch recht schlank.
Zum Vergleich: Voll ausgewachsen werden sie meistens 15, manchmal auch bis zu 18 Metern lang. Allerdings sind sie dann wesentlich breiter.
Die Tiere fallen beim Stranden durch ihre hochovale Körperform sofort auf die Seite.

2. Es ist eine Bachelor-Gruppe
Wenn sie ab ca 12 Jahren ihre Mütter und Geschwister in wärmeren Gewässern verlassen, schwimmen sie gemeinsam in Junggesellengruppen und schließen sich den älteren Bullen in kühleren Gewässern an. Ältere Männchen sind fast immer allein unterwegs.

3. Weibchen und Jungtiere der Pottwale leben als Familien in wärmeren Gewässern nahe des Äquators, z. B. vor den Azoren. Männchen verlassen diese Familiengruppen mit etwa 12 Jahren und schwimmen dann in kleinen Gruppen in kalte und gemäßigte Gewässer. Sie bilden dort, in nahrungsreichen Gebieten wie etwa vor Nord-Norwegen, eine lockere Ansammlung. Junge Bullen bleiben näher zusammen, ältere halten mehr Abstand. Zwischen März und November ziehen viele von ihnen in die wärmeren Gewässer, manche zur Paarung, andere einfach so.
Auf diesem Weg nach Süden verirren sie sich manchmal: Statt vor den Britischen Inseln nach Westen abzubiegen und im Atlantik zu bleiben, biegen sie nach Osten ab und finden sich in der Nordsee wieder.
Diese im März 2024 im Humber-Ästuar gestrandeten Tiere passen also in das zeitliche und räumliche Muster der Wanderungen.

4. Pottwale sind ausgesprochene Hochseebewohner und Tieftaucher, ihr leistungsstarkes Sonar ist an tiefe Gewässer angepasst. In der Nordsee oder anderen flachen Schelfmeerregionen versagt es – sie sind nicht gewohnt, in flachem Wasser zu navigieren. Außerdem wirft der schlammige, sandige Boden dort nur unscharfe Echos zurück. Die Wale finden aus der Sackgasse nicht wieder heraus – in der Nordsee schwimmen sie immer weiter in den “Trichter”, bis sie in den Wattengebieten oder im Kanal ankommen, in diesem Fall endete ihre Reise im Humber.

Warum die Pottwale in manchen Jahren falsch abbiegen, ist immer noch nicht vollständig bekannt.
Aber: Strandungen von Pottwal-Bullen sind in der Nordsee seit mehr als 500 Jahren dokumentiert.

Jan Saenredam, Beached Whale at Beverwijk, 1602 (Rijksmuseum)

Bei den Massenstrandungen gibt es immer schnell Spekulationen über die Gründe.
Davon kann man viele gleich vorab, ohne weitere Informationen etwa von der Nekropsie ausschließen:

A: Beifang, Schiffskollision: Fehlanzeige
Keines der Tiere zeigt die charakteristischen Verletzungen, die durch Fischernetze entstehen oder die Spuren einer Schiffskollision. “Entanglements” und Kollisionen treffen in der Regel einzelne Wale, nicht aber eine Gruppe.

B: Windkraft, Ölexploration: Fehlanzeige
Da diese Strandungen zu dieser Jahreszeit seit mehr als 500 Jahren bekannt sind, muss es Ursachen geben, die auch schon vor 500 Jahren existierten. Windkraft und Ölexploration sind aber wesentlich neuer.
Windkraft-Gegner instrumentalisieren gern tote Wale als Windkraft-Opfer, das ist allerdings wirklich Blödsinn, wie ich hier detailliert beschrieben habe.

C: Marine-Manöver: Fehlanzeige
Wale können durch den Einsatz neuartiger U-Boot-Waffen wie LFAS-Sonar getötet werden.
Ich bin sicher, dass sich herausstellen wird, dass dort kein solches Manover stattgefunden hat, das Wasser ist viel zu flach für U Boot-Jagd. Und ein Marinemanöver an dieser Stelle bleibt garantiert nicht unbeobachtet.

D: Sonnenflecken-Aktivität: Fehlanzeige
Vanselow et al haben 2009 postuliert, dass eine erhöhte Sonnenfleckenaktivität zu Veränderungen im Erdmagnetfeld führt und die Wale deshalb in die Irre schwimmen könnten.
https://benthamopen.com/contents/pdf/TOMBJ/TOMBJ-3-89.pdf
Eine umfassende Studie mit Modellrechnungen durch Pierce, Santos, Smeenk et al von 2007 negiert den Einfluss der Sonnenfleckenaktivität auf die Strandungshäufigkeit von Pottwalen. Die Zeiträume stimmen nicht überein.

E: Ozeanographische Veränderungen: wahrscheinlichster Grund
Pierce, Santos, Smeenk et al (2007) kommen zu dem Ergebnis:
„We show that long-term interannual variation in the incidence of sperm whale strandings on North Sea coasts is related to positive temperature anomalies: the incidence of strandings was higher in warmer periods. The effect of temperature anomalies explains between 8 and 9% of variation in the strandings series. Inclusion of sunspot cycle length as an additional predictor did not significantly improve this model. It is suggested that this link with positive temperature anomalies may reflect changes in the distribution of the sperm whales’ main squid prey”.
Die Gründe für den Irrweg der Pottwale sind besonders wahrscheinlich in ozeanographischen Änderungen zu suchen: Durch Veränderungen der Wassertemperatur verändern die Kalmare des Nordatlantiks ihren Aufenthaltsort. Und die Pottwale schwimmen ihrer Lieblingsbeute, dem Kalmar Gonatus fabricci, der den größten Teil ihres Mageninhalts ausmacht, hinterher.
Auch die Pottwalstrandungen von 2016 schienen mit einem Warmwasservorstoß ins Polarmeer zusammenzuhängen. Die Pottwal-Experten A. und W. Steffen hatten dazu umfassend recherchiert. Das ist zwar noch keine wissenschaftliche Publikation, ist aber sauber zusammengetragen und paßt ins Bild.
Die Veterinärin Lonneke IJsseldijk der Uni Utrecht kam nach den gehäuften Massenstrandungen 2016 ebenfalls zu dem Ergebnis: “We found no evidence of manmade trauma”. Hier geht es zur Pressemitteilung, hier zur Publikation.

Es ist nicht auszuschließen, dass von Menschen verursachte Störfaktoren wie viel Schiffsverkehr, Ölbohr-Plattformen und andere mit ihrer Geräuschkulisse die Pottwale zusätzlich verwirren.
Aber sie sind nicht die Ursachen für die Strandungen.
Die Strandungen von Pottwal-Bullen in der Nordsee sind leider ein natürlicher Vorgang.
und seit mehr als 500 Jahren dokumentiert.
Die Massenstrandungen in den 1990-er Jahren und 2016 könnten auch ein Hinweis darauf sein, dass die Pottwalbestände sich in der Nach-Walfangära erholen.

Allerdings geht es den Tieren nicht gut – von 2016 13 an der deutschen Küste nahe Tönning gestrandeten Pottwalen hatten alle Plastikmüll im Magen. Teilweise sogar erhebliche Mengen! Die Veterinäre und Biologen waren bei der Nekropsie ziemlich entsetzt, weil sie so etwas in den 1990-er Jahren noch nicht gesehen hatten. Wale verwechseln Kunststoff oft mit Beute von ähnliche Dichte und schlucken dann den Plastikmüll. Der bleibt oft im Magen liegen, ist der Magen mit Plastik gefüllt, verhungert der Wal. Einige der untersuchten Exemplare wären vermutlich schließlich daran qualvoll verendet. Für die Wale hat sich also durch die rapide zunehmende Meeresverschmutzung ihre Meeresumwelt zum Schlechteren verändert.

Ich hoffe, dass auch diesmal Nekropsien durchgeführt werden und bin gespannt, was dabei herauskommt.
Und ich hoffe, dass keine weiteren Wale stranden.
Für einen angespülten Pottwal gibt es keine Rettung.
Die Tiere sterben meist während oder kurz nach der Strandung an Streß und Überhitzung.
Sie haben keine Überlebenschance. Ein so großes und schweres Tier kann man leider nicht einfach wieder ins Wasser schieben oder ziehen. Außerdem bliebe dann immer noch die Frage, wie man den Wal wieder auf Kurs bekommt…

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Auf dem Science-Blog „Meertext“ schreibe ich über meine Lieblingsthemen: Biologie, Zoologie, Paläontologie und das Meer. Wale, Fische und andere Meeresgetüme. Tot oder lebendig. Fossile Meere, heutige Meere und Meere der Zukunft. Die Erforschung, nachhaltige Nutzung und den Schutz der Ozeane. Auf der Erde und anderen Welten. Ich berichte regelmäßig über Forschung und Wissenschaft, hinterfrage Publikationen und Statements und publiziere eigene Erlebnisse und Ergebnisse. Außerdem schreibe ich über ausgewählte Ausstellungen, Vorträge, Bücher, Filme und Events zu den Themen. Mehr über meine Arbeit als Biologin und Journalistin gibt´s auf meiner Homepage “Meertext”.

2 Kommentare

  1. Der Humber öffnet sich zur Nordsee, nicht zur Irischen See.
    Die Tiere haben wohl die erste scharfe Biegung nach Westen genommen, die sich ihnen anbot, und das war fatal.

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