Süßes Vermächtnis: Bin ich übergewichtig und zuckerkrank, weil meine Eltern es waren?

Wer sich ständig fett- und zuckerhaltig ernährt, verändert womöglich dauerhaft wichtige Schaltstellen in seinen Genen. Eltern erhöhen dadurch nicht nur ihr eigenes Risiko für Diabetes und Übergewicht, sondern auch das ihrer Kinder. Umgekehrt können Bewegung und gesunde Ernährung vor diesen Erkrankungen schützen.

Jeder kennt ihn, den Spruch: Du bist, was du isst.

Aber kennst du auch den: Du bist, was deine Eltern gegessen haben.

Okay zugegeben, der klingt nicht ganz so schneidig, aber er ist nicht umso weniger wahr. Zumindest laut einer Studie rund um Prof. Johannes Beckers vom Deutschen Zentrum für Diabetes-Forschung (DZD) und Helmholtz Zentrum München.

Die Forscher führten verschiedene Untersuchungen an den Lieblingsversuchstierchen von Wissenschaftlern durch – na klar den Mäusen. Aber nicht irgendwelchen Mäusen, sondern genetisch identischen Tieren, die also alle genau dieselbe Gen-Ausstattung in ihren Zellen haben.

Mäuse zeigen den Weg: Was ergibt Dick plus Dünn?

Die Mäuse teilten sie in grob zwei Gruppen: die einen wurden mit fettreichem Essen gemästet, ganz so als würden sie jeden Tag zu FastFood-Restaurants spazieren. Die anderen waren dagegen die modernen Foodtrendler und wurden mit ganz gesunder Mäusekost gefüttert.

Die erste Gruppe wurde mit der Zeit immer dicker und dicker und bekam schließlich die Zuckerkrankheit Diabetes Typ 2. Die zweite blieb fit und gesund. Die Forscher fragten sich: Was passiert, wenn man nun die Mäuse der beiden Gruppen mittels künstlicher Befruchtung miteinander verpaart?

Man bekommt vier verschiedene Arten von Mäusekindern: solche mit zwei übergewichtigen oder zwei schlanken Eltern und solche mit gemischten Elternpaaren. Das erstaunliche Ergebnis: „Wir konnten zum ersten Mal zeigen, dass Mäuse ihre Fettleibigkeit (…) auf die Nachkommen vererben“, erklärt einer der Forscher namens Dr. Martin Hrabe de Angelis*. Mäusenachkommen aus der reinen FastFood-Familie hatten dabei um 20%, diejenigen mit gemischten Elternpaaren immerhin noch zwischen 8-14% mehr Körperfett zugelegt als die Mäusekinder mit zwei schlanken, gesundheitsbewussten Eltern.

Sowohl übergewichtige Mäusemamas als auch Mäusepapas geben dabei die Dickmachereigenschaften weiter, es zeigen sich aber geschlechtsspezifische Unterschiede. Mütter haben generell einen etwas größeren Einfluss bei der Vererbung. Während die weiblichen Mäusekiddies insbesondere zu einer starken Fettleibigkeit neigten, waren die männlichen Nachkommen vor allem von einem veränderten Blutzuckerspiegel betroffen, was die spätere Entwicklung eines Diabetes begünstigt.

Epigenetik befasst sich mit der Ablesebereitschaft von Genen

Aber wie funktioniert das Ganze? „Über Epigenetik“, erzählt der Forscher. Was das genau ist, schauen wir uns jetzt an. Eine der großen Fragen der modernen Wissenschaft lautet nicht wie sich Hamlet aus Shakespeares Tragödie einst fragte „Sein oder Nicht sein?“, sondern „Gene oder Umwelt?“ – Was hat mehr Macht über unsere Gesundheit?

Eine einfache Antwort darauf, ihr habt es bestimmt schon geahnt, gibt es nicht. Wie sehr sich körpereigene und äußere Umwelteinflusse überlagern und wechselseitig beeinflussen, das erforscht die Epigenetik. Diese Disziplin befasst sich mit jenen Eigenschaften von Genen, die nicht von der DNA selbst beeinflusst werden, sondern von ihrer Bereitschaft abgelesen zu werden, um den darin gespeicherten genetischen Code auszuführen.

Jedes Gen hat eine bestimmte epigenetische Signatur, die von Eltern an ihre Kinder vererbt werden kann. Es schreibt darin entweder: „Hey Leute, ihr dürft meinen Bauplan benutzen, um damit tolle Sachen in der Zelle zu machen!“ oder es gibt ein klares „Hier kommst du nicht rein! Dieser DNA-Abschnitt ist inaktiv und braucht seinen Schönheitsschlaf.“

Die epigenetische Signatur bestimmt mit, ob wir Menschen im Laufe unseres Lebens krank werden oder nicht. „Das kennen wir von eineiigen Zwillingen, die ja dieselbe genetische Ausstattung haben“, erklärt Annette Schürmann*, die am Deutschen Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke arbeitet.

„Selbst wenn die eineiigen Zwillinge im selben Haushalt aufwachsen und das Gleiche essen, kann einer im Laufe des Lebens einen Diabetes bekommen, während der andere verschont bleibt.“ Die Forscher haben sich lange gefragt warum das so ist. Auch bei Mäusen konnte man das Phänomen beobachten.

Das Geheimnis liegt in der Signatur von Genen

Schickt man genetisch identische Mäuse jeden Tag zum fettreichen FastFood-Buffet, entwickeln sich die Tiere unterschiedlich – obwohl sie das gleiche Essen bekommen und dieselben Gene haben. Manche Mäuse nehmen stärker zu als andere und bilden schon früh Erkrankungen wie eine Fettleber oder Diabetes aus, im Gegensatz zu ihren putzgesunden Geschwistern.

Die Forscher um Annette Schürmann haben herausgefunden, dass sich die epigenetischen Signaturen bei fast 500 Genen von gesunden und erkrankten Mäusen deutlich unterscheiden. Die betroffenen Gene waren Teil der Insulin-produzierenden Zellen der Bauchspeicheldrüse – dem Organ im Körper, das bei der Entwicklung eines Diabetes eine große Rolle spielt.

Auch die zugehörigen Bauprodukte der Gene waren in unterschiedlich hohen Konzentrationen in den Zellen vertreten, wie man es erwartet, wenn die entsprechenden Gene unterschiedlich stark abgelesen werden. Es gibt also einen offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Erkrankung mancher Mäuse und deren epigenetischer Signatur bestimmter Gene.

Aber alles schön und gut, denkt ihr jetzt vielleicht. Das mag bei Mäusen so sein. Doch selbst, wenn sie mit demselben Buchstaben anfangen, Mäuse und Menschen, die kann man doch nicht einfach so miteinander vergleichen?

Eine Glaskugel für Diabetiker

Und da habt ihr auch völlig recht. Deswegen untersuchten die Wissenschaftler ebenfalls menschliche Proben auf die epigenetischen Signaturen der Gene, die sich schon bei den Mäusen als Unglücksbringer herausgestellt haben.

Alle Menschen waren zum Zeitpunkt der Blutabnahme gesund. Im Rahmen einer Langezeitstudie namens EPIC wurden alle Testpersonen fünf Jahre später nochmals untersucht; die Hälfte von ihnen hatte in der Zwischenzeit einen Diabetes Typ 2 entwickelt.

Der Vergleich ihrer Anfangsblutproben zeigte das erstaunliche Ergebnis: Tatsächlich fanden die Forscher ganze 105 Gene, die bei den zuckerkranken Versuchsteilnehmern epigenetische Veränderungen aufwiesen. „Bei den später erkrankten Probanden hat sich also schon Jahre vorher im Blut ein Diabetes angekündigt“, so Annette Schürmann.

Auch andere Studien kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Ein echter Durchbruch für die Forscher! Sie können jetzt quasi in die Glaskugel schauen und den Ausbruch einer Zuckerkrankheit schon mehrere Jahre im Voraus vorhersagen!

Das eröffnet völlig neue Möglichkeiten für die Vorbeugung und Therapie dieser Erkrankung. Die Forscher wollen als nächsten Schritt die fünf bis zehn wichtigsten Gene mit epigenetischen Veränderungen auswählen und als Vorhersagemarker für die Erkrankung zu nutzen.

Bewegung und gesunde Ernährung beeinflussen epigenetische Signaturen

„Wir könnten anhand dieser Marker auch die Wirksamkeit von Therapien und Ernährungsweisen testen. Das hilft uns zu beurteilen durch welche Maßnahmen und bei welchen Menschen sich epigenetische Veränderungen rückgängig machen lassen. Und das könnte vielleicht dazu beitragen, dass die drohende Erkrankung bei ihnen doch nicht ausbricht“, erklärt Annette Schürmann sichtlich begeistert.

Helfen beispielsweise Sport und gesunde Ernährung dabei die epigenetischen Ampeln von rot auf grün zu setzen und damit dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen und sein eigenes Erkrankungsrisiko zu bekämpfen? Vieles deutet darauf hin. Auch wollen die Forscher untersuchen, ob sich durch bestimmte biotechnologisch hergestellte Medikamente die epigenetischen Muster unserer Zellen umprogrammieren lassen.

Martin Hrabe de Angelis vom Helmholtz Zentrum München sieht in den Ergebnissen von Schürmanns Gruppe auch einen möglichen Erklärungsansatz warum seit den 1960er Jahren weltweit immer mehr Menschen an Fettleibigkeit und Diabetes erkranken. „Veränderungen der Gene selbst können diesen enormen Anstieg nicht erklären. Nun haben wir eine weitere wichtige Ursache gefunden: die epigenetische Vererbung einer durch Fehlernährung erworbenen Stoffwechselstörung.“

Er erklärt aber auch: „Wir wissen, dass sich epigenetische Muster verändern lassen – sie sind reversibel! Jeder Mensch kann durch eine gesunde Lebensführung sein Schicksal selbst in die Hand nehmen“.

Du bist eben doch, was du isst. Selbst wenn unsere Eltern uns durch ihre Ernährung ungünstige epigenetische Signaturen mit in die Wiege gelegt haben, haben wir letztlich selbst die Macht über unsere Gesundheit. Ich glaube, ich sollte jetzt erstmal eine Runde joggen gehen.

 

*SYNERGIE – Forschen für die Gesundheit, Nr. 1/2021, S. 14-16.

Weitere Leseempfehlungen: https://www.riffreporter.de/de/wissen/epigenetische-vererbung, https://www.riffreporter.de/de/wissen/sport-wirkt

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Dr. med. Marlene Heckl arbeitet als approbierte Ärztin und hat an der Technischen Universität München und Ludwig-Maximilians-Universität studiert und promoviert. Seit 2012 schreibt die Preisträgerin des "Georg-von-Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus" für Ihren Blog "Marlenes Medizinkiste" und veröffentlicht Science-Videos auf Youtube und modernen social-media Plattformen, für die sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Für Spektrum der Wissenschaft, Die Zeit, Thieme, Science Notes, DocCheck u.a. befasst sie sich mit aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Themen, die ihr am Herzen liegen. Kontakt: medizinkiste@protonmail.com

6 Kommentare

  1. Ja, die Epigenetik erklärt wohl einen Grossteil der über den Lebenslauf eines Menschen veränderten Genaktivität.
    Das bedeutet, dass auch unsere Alterung, der Alterungsprozess mit abgeschalteten, mindestens aber herunterregulierten Genen zu tun hat. Das genau ist Epigenetik: eine mehr oder weniger dauerhafte Ausschaltung/Herunterregulierung von Genen. Eine zukünftige Medizin kann möglicherweise die ausgeschalteten/herunterregulierten Gene wieder reaktivieren mit dem Resultat, dass Alterungsprozesse teilweise rückgängig gemacht werden und der Stoffwechsel wieder „jugendlich“ wird.

    Hier ein paar Sätze dazu aus dem in Nature publizierten Artikel The ageing epigenome and its rejuvenation (Übersetzt von Google Translate):

    Das Altern ist gekennzeichnet durch den funktionellen Abbau von Geweben und Organen und ein erhöhtes Risiko für altersbedingte Erkrankungen. Es wurden mehrere „verjüngende“ Interventionen vorgeschlagen, um das Altern und das Einsetzen von altersbedingtem Rückgang und Krankheiten zu verzögern, um die Gesundheit und Lebensdauer zu verlängern. Diese Interventionen umfassen metabolische Manipulation, partielle Reprogrammierung, heterochrone Parabiose, pharmazeutische Verabreichung und Ablation seneszenter Zellen. Da der Alterungsprozess mit veränderten epigenetischen Mechanismen der Genregulation wie DNA-Methylierung, Histon-Modifikation und Chromatin-Remodelling sowie nicht-kodierenden RNAs verbunden ist, ist die Manipulation dieser Mechanismen von zentraler Bedeutung für die Wirksamkeit altersverzögernder Interventionen.

    Beurteilung: Alterungsprozesse werden ohne Zweifel in Zukunft verzögert oder gar umgekehrt werden können. Doch das wird neue Probleme mit sich bringen. Beispielsweise werden wirksame Krebstherapien dadurch noch wichtiger. Ein Überhandnehmen von über Hundertjährigen wird auch gesellschaftliche Probleme schaffen, selbst wenn sich diese wie junge Schnösel verhalten und sogar so aussehen und ein „Greis“ beispielsweise dem Sohn die Freundin ausspannt.

  2. Epigenetik and Cloning
    Dolly war 1996 das erste geklonte Schaf. Gewonnen aus Körperzellen eines Schafes sollte man erwarten, dass Dolly eine exakte Kopie des Schafes ist/war, aus dem die Körperzelle entnommen wurde.
    Doch spätestens als man Haustiere wie Katzen und Hunde klonen und damit beispielsweise die alte geliebte HausKatze wiederaufleben lassen wollte, wurde klar, dass das nicht stimmt, dass die Klone keine Kopien der alten Katze, sondern in vieler Hinsicht andere Katzen waren. Als Grund wurden später epigenetische Veränderungen ausgemacht.
    Unter Breaking Barriers: Cloning Made Easier by Erasing Epigenetic Marks liest man dazu (übersetzt von google translate):

    Seit dem Schaf Dolly wurden rund 20 Säugetierarten durch somatischen Zellkerntransfer (SCNT) geklont. Bei dieser Technik wird ein Zellkern aus einer differenzierten Zelle entnommen und in eine leere Eizelle injiziert. Wenn alles gut geht, wird der Kern auf Totipotenz umprogrammiert, fügen Sie eine Leihmutter hinzu, und voila, Sie haben ein Rezept für die Herstellung eines Klons. Die Effizienz des reproduktiven Klonens ist jedoch bei den meisten Arten gering (ca. 1-5%), und dies wurde auf nicht charakterisierte epigenetische Barrieren zurückgeführt, die die Aktivierung des zygotischen Genoms in SCNT-Embryonen verhindern.

    Rückgängigmachen der epigenetischen Veränderungen führte anschliessend tz grösserem Cloning-Erfolg.

    Fazit: Das Genom des Erwachsenen ist nicht mehr dasselbe wie das Genom des Embryos und Neugeborenen und dies nicht weil Gene verloren gehen, sondern weil Gene im Laufe des Lebens inaktiviert werden.

  3. Was Marlene Heckl hier vorstellt, nämlich die Vererbung von erworbenen Eigenschaften (beispielsweise die „Vererbung“ des „schlechten“ Stoffwechsels der ungesund lebenden Eltern) nennt man mit dem Fachterminus
    Transgenerational epigenetic inheritance oder zu deutsch: Generationenübergreifende epigenetische Vererbung. Übersetzt aus der englischsprachigen DNA:

    Genetisch identische Mäuse mit unterschiedlichen DNA-Methylierungsmustern verursachen Knicke im Schwanz des einen, aber nicht des anderen [1].
    Transgenerationale epigenetische Vererbung ist die Übertragung epigenetischer Marker von einem Organismus zum nächsten (dh vom Elternteil zum Kind), die die Merkmale der Nachkommen beeinflusst, ohne die Primärstruktur der DNA (dh die Nukleotidsequenz) zu verändern [2]: 168 [3 ] —Mit anderen Worten, epigenetisch. Der weniger präzise Begriff “epigenetische Vererbung” kann sowohl den Zell-Zelle- als auch den Organismus-Organismus-Informationstransfer umfassen. Obwohl diese beiden Ebenen der epigenetischen Vererbung bei einzelligen Organismen gleichwertig sind, können sie bei mehrzelligen Organismen unterschiedliche Mechanismen und evolutionäre Unterschiede aufweisen.

    Umweltfaktoren können die epigenetischen Markierungen (epigenetische Markierungen) für einige epigenetisch beeinflusste Merkmale induzieren, [2] während einige Markierungen vererbbar sind, [2] was einige zu der Annahme veranlasst, dass die moderne Biologie mit der Epigenetik die Vererbung erworbener Merkmale nicht mehr so stark ablehnt (Lamarckismus) ) wie einst. [3]

    Erstaunlich scheint mir bei wie vielen Krankheiten des Menschen inzwischen epigenetische Vererbung eine Rolle zu spielen scheint. Gemäss Wikipedia gehören dazu:
    – Während des niederländischen Hungerwinters waren die während der Hungersnot geborenen Nachkommen kleiner als die im Jahr vor der Hungersnot geborenen. Die Auswirkungen dieser Hungersnot auf die Entwicklung hielten bis zu zwei Generationen an.
    – Es wurde festgestellt, dass der Verlust der genetischen Expression, der zum Prader-Willi-Syndrom oder Angelman-Syndrom führt, in einigen Fällen durch epigenetische Veränderungen (oder “Epimutationen”) auf beiden Allelen verursacht wird und nicht durch eine genetische Mutation. In allen 19 aufschlussreichen Fällen waren die Epimutationen, die zusammen mit der physiologischen Prägung und damit dem Silencing des anderen Allels diese Syndrome verursachten, auf einem Chromosom mit spezifischem Eltern- und Großelternursprung lokalisiert. Insbesondere das väterlicherseits abgeleitete Chromosom trug eine abnorme mütterliche Markierung am SNURF-SNRPN, und diese abnorme Markierung wurde von der Großmutter väterlicherseits geerbt.
    – In ähnlicher Weise wurden Epimutationen auf dem MLH1-Gen bei zwei Individuen mit einem Phänotyp von erblichem kolorektalem Karzinom ohne Polyposis und ohne eine offene MLH1-Mutation gefunden, die ansonsten die Krankheit verursacht. Dieselben Epimutationen wurden auch auf den Spermatozoen eines der Individuen gefunden, was auf eine mögliche Übertragung auf Nachkommen hinweist.
    – Neben Epimutationen des MLH1-Gens wurde festgestellt, dass bestimmte Krebsarten wie Brustkrebs während der fetalen Stadien innerhalb der Gebärmutter entstehen können.[52] Darüber hinaus haben Beweise, die in verschiedenen Studien mit Modellsystemen (d. h. Tieren) gesammelt wurden, gezeigt, dass eine Exposition während der Elterngenerationen zu einer multigenerationalen und transgenerationalen Vererbung von Brustkrebs führen kann.
    – Abgesehen von krebsbedingten Erkrankungen, die mit den Auswirkungen der transgenerationalen epigenetischen Vererbung verbunden sind, wurde kürzlich die transgenerationale epigenetische Vererbung mit dem Fortschreiten der pulmonalen arteriellen Hypertonie (PAH) in Verbindung gebracht [54]. Jüngste Studien haben ergeben, dass die transgenerationale epigenetische Vererbung wahrscheinlich am Fortschreiten der PAH beteiligt ist, da aktuelle Therapien für PAH die mit dieser Krankheit verbundenen irregulären Phänotypen nicht reparieren [54]. Gegenwärtige Behandlungen für PAH haben versucht, die Symptome von PAH mit Vasodilatatoren und antithrombotischen Protektoren zu korrigieren, aber keine von beiden hat die Komplikationen im Zusammenhang mit den mit PAH verbundenen beeinträchtigten Phänotypen wirksam gelindert [54]. Die Unfähigkeit von Vasodilatatoren und antithrombotischen Schutzmitteln, PAH zu korrigieren, legt nahe, dass das Fortschreiten der PAH von mehreren Variablen abhängt, die wahrscheinlich eine Folge der transgenerationalen epigenetischen Vererbung sind.
    – Zusätzliche Studien, die die Wirkung von Diethylstilbestrol (DES), einem endokrinen Disruptor, untersuchen, haben ergeben, dass die Enkel (dritte Generation) von DES-exponierten Frauen die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Enkel eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) entwickeln, signifikant erhöht haben. [59] Dies liegt daran, dass Frauen, die während der Schwangerschaft endokrinen Disruptoren wie DES ausgesetzt sind, mit neuronalen Entwicklungsdefiziten über mehrere Generationen in Verbindung gebracht werden können.[59] Darüber hinaus weisen Tierstudien darauf hin, dass endokrine Disruptoren einen tiefgreifenden Einfluss auf Keimbahnzellen und die neuronale Entwicklung haben.[59] Es wird postuliert, dass die Ursache für die Auswirkungen von DES auf mehrere Generationen das Ergebnis biologischer Prozesse ist, die mit der epigenetischen Reprogrammierung der Keimbahn verbunden sind, obwohl dies noch geklärt werden muss.

    Fazit: Erstaunlich viele erworbene Krankheitszustände können epigenetisch weiterverarbeitet werden. Das heisst, nicht nur die Gene, sondern auch was die Vorfahren mit ihren Genen gemacht haben, kann schliesslich vererbt werden.

  4. Epigenetische Therapien
    Zitat aus dem englischsprachigen Artikel Epigenetic therapy:

    Epigenetische Therapie ist die Verwendung von Medikamenten oder anderen epigenombeeinflussenden Techniken zur Behandlung von Erkrankungen. Viele Krankheiten, darunter Krebs, Herzkrankheiten, Diabetes und psychische Erkrankungen, werden durch epigenetische Mechanismen beeinflusst.[1] Die epigenetische Therapie bietet eine potenzielle Möglichkeit, diese Signalwege direkt zu beeinflussen.

    Abgeschaltete/herunterregulierte Gene scheinen die Ursache vieler Krankheiten zu sein und ein Rückgängigmachen der Abschaltung würde Heilung von der Krankheit bedeuten. Solch ein Rückgängimachen der Abschaltung von Genen nennt man epigenetische Therapie. Im Artikel von Marlene Herzl wird die (gesunde) Lebensführung und das Verhalten (z.b. Sport treiben) als Mittel für das Rückgängigmachen oder das Verhindern von epigenetischen Veränderungen erwähnt und empfohlen.

    Zu den Krankheiten bei denen epigenetische Veränderungen eine wichtige Rolle spielen werden im referenzierten Wikipedia-Artikel folgende gezählt:
    – die diabetische Retinopathie, also die Veränderung der kleinen Blutgefässe bei Diabetikern, die zur Blindheit führen kann
    – Angsstörungen, darunter auch das posttraumatische Syndrom scheinen mit epigenetischen Veränderungen assoziiert
    – mehrere Herzfehlfunktionserkrankungen hehen mit epigenetischen Veränderungen einher
    – Viele Krebsformen schalten mit epigenetischen Methoden Gene aus, welche das Krebswachstum hemmen
    – bei Schizophrenie lassen sich mehrere epigenetisch herunterregulierte Gene nachweisen

    Fazit: Epigenetische Therapien könnten eine Vielzahl von chronischen Krankheiten heilbar machen.

  5. Liebe Kollegin Heckl, danke für den spannenden Beitrag.

    Die eingangs erwähnte Studie ist allerdings recht alt. Sie stammt aus 2016 und nur für den Fall, dass jemand tiefer einsteigen möchte, hier ein paar Empfehlungen: Ich hatte damals ausführlich im Newsletter Epigenetik über die Studie berichtet: (Link deaktiviert). Noch etwas ausführlicher ein damaliger Zeitungsartikel von mir, der u.a. in der Stuttgarter Zeitung erschienen ist: (Link deaktiviert).

    Auch in meine Vorträge zur Epigenetik baue ich die Studie bis heute gerne ein, da sie als erste von sehr vielen ähnlichen Studien zeigen konnte, dass es eine intergenerationelle epigenetische Vererbung auch über die weibliche Linie gibt. Anders als Sie in ihrem Blog schreiben, wurden die Mäuse nämlich nicht verpaart. Die Nachkommen wurden per künstlicher Befruchtung (IVF) gezeugt und von gesunden sowie gesund ernährten „Leihmüttern“ ausgetragen. Das ist sehr aufwändig aber auch sehr wichtig, um den Einfluss der perinatalen Programmierung auszuschießen. (In der Regel werden in Studien zur epigenetischen Vererbung bei Nagetieren deshalb immer nur die Vatertiere zB fehlernährt oder traumatisiert.)

    Anders als Herr Holzherr schreibt, geht es hier übrigens nicht um transgenerationelle epigenetische Vererbung. Dann müsste der Effekt noch mindestens zwei weitere Generationen anhalten. Ohnehin sollte man sehr vorsichtig sein, wenn es um die Interpretation epigenetischer Studien geht. Nicht immer, wenn man epigenetische Unterschiede misst, haben diese auch eine physiologische Relevanz. Außerdem sind Korrelationen noch lange keine Belege für kausale Zusammenhänge.

    Zu den Unterschieden zwischen perinataler Programmierung, intergenerationeller und transgenerationeller epigenetischer Vererbung empfehle ich einen (Link deaktiviert), der ebenfalls unter Mitwirkung von Johannes Beckers entstand. Dort wird sehr gut der Stand der Forschung zum Thema epigenetische Vererbung von Übergewicht und Diabetes aufgearbeitet. Ausführlich berichtet habe ich darüber im RiffReporter „Epigenetische Vererbung von Übergewicht: Nicht nur Schwangere tragen Verantwortung“ (Link deaktiviert)

    Zuletzt noch eine Anmerkung zu Ihrem Ausstiegssatz: Ist doch immer wieder lustig, wie uns Journalist*innen die gleichen – zugegeben nahe liegenden – Ideen kommen. In meinem kostenfreien Artikel „Wie Sport wirkt“, über die epigenetischen Veränderungen in Körperzellen durch regelmäßige Bewegung, habe ich jedenfalls eine ganz ähnliche Pointe gewählt, weshalb ich mir erlaube, auch diesen Beitrag Ihren Leser*innen ans Herz zu legen.

    Herzliche Grüße,
    Ihr Peter Spork 

    • Danke für Ihren Kommentar Herr Spork, sie haben Recht, dass ich das unpräzise formuliert habe mit der Verpaarung der Mäuse. Ich habe Ihren Hinweis entsprechend angepasst 🙂
      Herzliche Grüße, Ihre Marlene Heckl

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