Konzentrationsprobleme oder ADHS?

Die Unterscheidung ist nicht immer einfach.

Du bekommst oft von anderen Leuten zu hören dein Kopf sei ganz wo anders?

Du schaltest mitten im Gespräch ab?

Du beginnst viele Projekte, oft mehrere gleichzeitig, führst sie aber nie zu Ende?

So beginnen viele der Videos, die in den sozialen Medien über ADHS aufklären.

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist eine inzwischen immer häufiger diagnostizierte neurologisch-psychiatrische Erkrankung, die schon in der Kindheit beginnt. Klassische Zeichen sind Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität bei Betroffenen, die den Alltag stark einschränken können.

Die meisten Menschen stellen sich einen unruhigen Jungen vor, der im Unterricht stört, wenn sie an ADHS denken. Aber im Erwachsenenalter kommt es häufig zu anderen Symptomen. Nur etwa 5% zeigen hyperaktives oder impulsives Verhalten. Dagegen sind Vergesslichkeit, Schwierigkeiten bei der Konzentration und Organisation von Aufgaben bei erwachsenen Betroffenen viel häufiger.

Diese Zeichen sind häufig viel subtiler, sodass ADHS oft übersehen oder fälschlicherweise als andere psychiatrische Erkrankung diagnostiziert wird. ADHS-Patienten, die Schwierigkeiten mit der Emotionsregulation haben können unter Stimmungsschwankungen und übermäßiger Angst leiden. Depressionen, Zwangs- und Angsterkrankungen findet sich nicht selten als primäre Diagnose im Rahmen derer die Konzentrationsprobleme erklärt werden – auch wenn die zugrundeliegende Störung eigentlich ein ADHS ist.

ADHS – En Vogue in den sozialen Medien

Dank den sozialen Medien wird immer mehr über die Erkrankung aufgeklärt. Videos über den Alltag von Betroffenen fluten seit Neuestem die App TikTok – unter dem Hashtag #adhd gab es bereits über 17 Milliarden Aufrufe!

Viele junge Leute berichten über ihren Umgang mit der Erkrankung und von ihren Symptomen. Sie helfen dabei für psychische Erkrankungen zu sensibilisieren.

Nicht alle jedoch leiden an ADHS. Und viele erzählen von angeblichen Diagnosekriterien, die es medizinisch gar nicht gibt. So eine Userin, die von einer Hypersensibilität gegenüber Kleidungsetiketten berichtet oder ein User, der Burnout zu den Symptomen zählt.

Eine Studie im Canadian Journal of Psychiatry zeigt, dass mehr die Hälfte der ADHS-Videos auf TikTok irreführend sind.

Videos in den sozialen Medien verführen zur Selbstdiagnose. Schwierigkeiten bei der Konzentration? Ablenkung im Gespräch? Prokrastination? – Auch Gesunde können ähnliches erleben.

Laut Joel Nigg, Psychiatrieprofessor an der Oregon Health & Science University, sind viele der ADHS Symptome Verhaltensweisen, die jeder irgendwann einmal erlebt. Um ADHS wirklich zu diagnostizieren, muss jedoch der Nachweis erbracht, dass es das tägliche Leben stark beeinträchtigt wird. Diese Nuancen gehen in den sozialen Medien oft verloren.

Für die Diagnosestellung sind vor allem drei Hauptfragen entscheidend: Wie viele Symptome hast du? Hattest du sie schon in der Kindheit? Und beeinflussen sie mehrere Bereiche deines Lebens? Dr. Craig Surman vom Massachusetts General Hospital betont, dass besonders die letzten zwei Fragen entscheidend sind.

Erwachsene werden immer öfter diagnostiziert

Im Rahmen der ärztlichen Diagnostik werden Grundschulzeugnisse bewertet – hier gibt es in den Freitexten oft bereits Hinweise auf die Erkrankung. Auch Eltern oder andere Verwandte werden zum Verhalten in der Kindheit befragt. Die Symptome müssen bereits vor dem siebten Lebensjahr vorhanden gewesen sein. In objektiven Tests wird außerdem die aktuelle kognitive Leistungsfähigkeit erfasst. ADHS sollte mehrere Bereiche des Lebens – beruflich wie privat beeinflussen.

Eine Person muss verschiedene im offiziellen psychiatrischen Diagnosehandbuch ICD-10 aufgeführte Symptome aufweisen. Diese Symptome lassen sich grob in drei Kategorien einteilen: Unaufmerksamkeit (Erklärungen kann schwer gefolgt werden, ungeliebte Aufgaben werden vermieden, Gegenstände werden verloren); Hyperaktivität (Stillsitzen bereitet Probleme, körperliches Unruhegefühl); und Impulsivität (häufiges Unterbrechen von anderen, Schwierigkeiten zu warten).

Die Aufmerksamkeit für das Thema in den sozialen Medien führt zu immer mehr Diagnosen. Auffallend häufig werden sie erst im Erwachsenenalter gestellt. Das ist verwunderlich, da die Erkrankung eine neurologische Entwicklungsstörung ist und schon früh beginnt – noch während sich das Gehirn ausbildet.

„Einige Menschen haben als Kind möglicherweise Unterstützung erhalten oder anderweitig ihre Symptome kompensiert, ohne es zu merken“, erklärt Nigg. Die Mutter, die tägliche Erinnerungen für Hausaufgaben gegeben und dadurch durch die Schule geholfen hat, ohne dass die Lehrer eine relevante Einschränkung bemerkten. Oder die zahlreichen Zettel, die auf dem Kühlschrank, die an alle wichtigen Aufgaben erinnern sollten. Betroffene investieren oft viel Zeit und Mühe in ihre Selbstorganisation und manche konnten in der Kindheit eine so gute Struktur aufbauen, dass keiner Auffälligkeiten bemerkte.

Frauen bekommen die Diagnose oft später

Solche Menschen erkennen nicht, dass etwas nicht stimmt, bis die Anforderungen und Verantwortlichkeiten des Erwachsenenlebens das mühsam aufgebaute Kompensationssystem zum Versagen bringen.

Besonders bei Frauen wird ADHS erst spät erkannt. Jungen werden in der Kindheit etwa doppelt so häufig mit ADHS diagnostiziert wie Mädchen, da die Symptome von Mädchen auch in jungem Alter eher unaufmerksam als hyperaktiv sind. Mädchen mit ADHS könnten daher in der Schule nur leichte Probleme haben oder als stille Träumerinnen angesehen werden, entgehen jedoch der Diagnose, weil sie im Unterricht oder zu Hause nicht auffällig störend sind.

Wichtig zu bedenken ist jedoch, dass es nicht immer ADHS ist. „Viele Menschen gehen ohne ADHS-Diagnose wieder nach Hause“, berichtet Dr. Jahn*, der in einer ADHS-Tagesklinik arbeitet. Ihre Probleme werden durch ein anderes medizinisches oder psychologisches Problem verursacht – Stress, Traumata, Depressionen, Schlafstörungen, Substanzmissbrauch oder andere psychiatrische Erkrankungen können ähnliche Symptome verursachen. „Wichtig ist eine umfassende Abklärung, um die Ursache für die Konzentrationsprobleme zu finden und die richtige Behandlung einzuleiten“.

ADHS-Paralyse oder Prokrastination?

Wie bei vielen psychiatrischen Erkrankungen können die Symptome einer ADHS-Erkrankung stark variieren. Und gerade bei Erwachsenen ist die Erkrankung nicht sehr gut untersucht. Die meisten Studien zu ADHS werden an Kindern durchgeführt.

Plattformen wie TikTok können nicht nur zur Aufklärung beitragen, sondern durch Erfahrungsberichte Betroffener auch die unterschiedlichen Ausprägungsformen der Erkrankung genauer beleuchten. Ein häufig beschriebenes Phänomen in den sozialen Medien ist beispielsweise die „ADHS-Paralyse“. Dies ist kein wissenschaftlich-medizinischer Begriff, beschreibt aber etwas, das viele Betroffene erleben:

Stell dir vor, du sitzt im Fahrersitz eines glänzenden, brandneuen Rennwagens. Du bist bereit für das Rennen deines Lebens, der Motor summt vor Vorfreude und du kannst das Adrenalin bereits spüren. Aber als der Startschuss fällt und du das Gaspedal durchtrittst, merkst du: Der Gang ist nicht eingelegt.

Trotz aller PS-Stärken kommst du keinen Millimeter voran.

Diese Frustration, diese unerklärliche Blockade, ist vergleichbar mit dem, was als Betroffene als ADHS Paralyse beschreiben. Viele Betroffene berichten von einem Gefühl, das einer Lähmung für Handlungen gleicht. Trotz des klaren Wunsches und der Fähigkeiten, eine Aufgabe zu beginnen oder fortzuführen, klappt es nicht. Es handelt sich dabei nicht um schlichte Prokrastination.  Es ist eine Art tiefe mentale Blockade, die das Handeln erheblich behindert, auch bei alltäglichen oder dringenden Aufgaben. So als ob das Gehirn manchmal einen kleinen Denkfehler hat und vergisst, den richtigen Gang für den Alltagsrhythmus einzulegen.

Soziale Medien als Anstoß für die Wissenschaft

Die Ursachen können vielfältig sein. Menschen mit ADHS haben oft die Herausforderung, häufig abgelenkt zu werden oder Schwierigkeiten zu haben, sich auf bestimmte Dinge zu fokussieren. In dieser unangenehmen Situation schaltet das Gehirn in einen Modus des Erstarrens. “In dem Moment, in dem man sich überwältigt fühlt, scheint es so, als gäbe es keine Handlung, die ein Mensch ergreifen könnte, um das Problem zu lösen”, erklärt Dr. Manos von der Cleveland Clinic.

Eine andere Art, über die ADHS-Lähmung nachzudenken, ist sie als eine kognitive Überlastung zu betrachten. ADHS beeinflusst unter anderem die exekutiven Funktionen des Gehirns: die Fähigkeit, eine Aufgabe zu beginnen, zu organisieren und kontinuierlich daran zu arbeiten. Wer als ADHS Betroffener vor zu vielen Entscheidungen für eine Handlung steht, könnte durch eine Art Kurzschluss im Frontallappen des Gehirns in die Handlungslähmung geraten.

Dieses spezielle Phänomen ist in der wissenschaftlichen Literatur weitgehend unerforscht. Berichte in den sozialen Medien können helfen für verschiedene Ausprägungsformen von ADHS zu sensibilisieren und Studien in dem Bereich anzustoßen. Trotz der Möglichkeit von Desinformationen, können Internetplattformen auch einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung leisten und Betroffenen helfen. Und es ist wichtig die Erkrankung ernst zu nehmen. Unbehandelt haben Menschen mit ADHS ein höheres Risiko für einen frühen Tod, sowohl durch Unfälle als auch durch Suizid. Sie sind auch eher anfällig für Probleme mit ihren Finanzen, Substanzgebrauch und unsicheres Fahren. Doch mit der richtigen Diagnose kann auch eine effektive Behandlung eingeleitet werden, die diese Risiken drastisch reduziert.

Weitere Quellen:

Barkley, R. A. (1997). Behavioral inhibition, sustained attention, and executive functions: Constructing a unifying theory of ADHD. Psychological Bulletin.

Martinussen, R. et al. (2005). A meta-analysis of working memory impairments in children with attention-deficit/hyperactivity disorder. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry.

Tantillo, M. et al. (2016). The effects of exercise on children with attention-deficit hyperactivity disorder. Medicine & Science in Sports & Exercise.

*Name geändert

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Dr. med. Marlene Heckl arbeitet als approbierte Ärztin und hat an der Technischen Universität München und Ludwig-Maximilians-Universität studiert und promoviert. Seit 2012 schreibt die Preisträgerin des "Georg-von-Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus" für Ihren Blog "Marlenes Medizinkiste" und veröffentlicht Science-Videos auf Youtube und modernen social-media Plattformen, für die sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Für Spektrum der Wissenschaft, Die Zeit, Thieme, Science Notes, DocCheck u.a. befasst sie sich mit aktuellen medizinisch-wissenschaftlichen Themen, die ihr am Herzen liegen. Kontakt: medizinkiste@protonmail.com

Schreibe einen Kommentar


E-Mail-Benachrichtigung bei weiteren Kommentaren.
-- Auch möglich: Abo ohne Kommentar. +