Tiefgefrorener Butler führt durch Labyrinth lederbesesselter Separees

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Jetzt würde ich gerne Ihr Gehirn scannen und erfahren, was der Titel dieses Beitrags in Ihnen für Phantasien ausgelöst hat. Ich fürchte nur, dass es nicht die waren, die ich vermitteln möchte. Aber so fängt die Geschichte nun einmal an, die ich Ihnen hier weitererzählen möchte:

Die Hamburger Fußgängerzone im Regen. Eine Passantin meint: "Zur Hansa-Lounge? Die ist hier irgendwo, ich glaube zwischen Boss, Cartier und Bulgari. Aber da ist "For Members Only." Stimmt. Ein tiefgefrorener Butler führt durch das Labyrinth lederbesesselter Separees. Darin gedämpftes Raunen von Pfeffersäcken. Plötzlich ein helles Lachen, gefolgt von bestens gelauntem Hochamerikanisch. John Wood ist auf den Tiefkühl-Butler gestoßen!

Es handelt sich um die einleitenden Sätze eines Interviews, das Bernd Graff von der Süddeutschen Zeitung mit einem sehr eindrucksvollen Menschen geführt hat. Dass das Labyrinth in diesem Zusammenhang auftaucht, ist einer dieser seltsamen Zufälle, auf die ich in diesem Kontext immer wieder gestoßen bin. Ich suche das L-Motiv ja nicht – ich finde es. Absichtslos (aber unbewusst natürlich schon danach suchend, klar). 

Alles, was ich eigentlich wollte, war, diesen Artikel und seinen Inhalt weiterzuempfehlen. Aber in diesen Labyrinth-Blog passt so etwas natürlich nicht! Und dann die Überraschung – das Zauberwort kommt vor! Und jetzt habe ich einen ganz legitimen Grund, hier über die ganze Sache zu berichten. Ist das nicht ein prächtige Koinzidenz? Denn der nun zu referierende Sachverhalt ist es m.E. in jedem Falle wert, ihm ein wenig Platz und Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken; allzu viele positive Meldungen dieser Art sind ja nicht unterwegs.

Dieses Interview hatte mich zur Lektüre verführt, weil über John Woods abenteuerliche Aussteiger/Einsteiger-Karriere vor einigen Wochen schon einmal ein Bericht im Wirtschaftsteil der SZ stand. Dieser Mann war Top-Manager bei Microsoft und scheffelte Millionen. Bis ihn Anfang 30 der Rappel packte und er sich eine Auszeit von 18 Tagen nahm (ein längeres Sabbatical ist in einer solchen Position und Firma nicht drin). Es war keine Midlife crisis, wie Wood im Interview betont – aber schon eine Art Sinnkrise. In diesen 18 Tagen machte er eine Reise als Rucksacktourist in ein entlegenes Tal in Nepal, "ohne e-Mail, Kalender, Telefon". Dabei stieß er in einem Dorf auf eine Schule, in der es für 450 Kinder nicht ein einziges brauchbares Schulbuch gab, nur zerfledderten Schund, den andere Touristen zurückgelassen hatten. Und plötzlich wusste er, was seine zukünftige Lebensaufgabe war:

Er stieg bei Microsoft aus (obwohl er den Job dort gern und gut machte) und gründete die Stiftung Room to Read. Diese hat sich zur Aufgabe gestellt, möglichst effizient Schüler in armen Gegenden mit ausreichendem Unterrichts- und Lesestoff zu versorgen und mit den dazugehörigen Bibliotheken – eben mit Raum zum Lesen.

Was Wood am stärksten motivierte, war wohl die Skepsis des Schulleiters in jenem Dorf, als der Amerikaner in seiner Betroffenheit über das literarische Vakuum sich mit dem Versprechen verabschiedete, er werde zurückkommen und gute Bücher dabeihaben.

"Klar", sagte der Schulleiter, "Sie kommen wieder. Wie all die anderen, die hier waren und wiederkommen werden."

Nun, John Woods kam tatsächlich wieder. Vorher schickte er Mails an alle Adressen, die er kannte und bat darum, an seine Heimatadresse "gute, gebrauchte Bücher" zu schicken, "So viel ihr könnt. Und bitte für alle Schulfächer."

Als er nach sechs Wochen (über einen Abstecher zu seiner Arbeit in Peking) nach Amerika kam, fand er in der Garage seiner Eltern 3000 gespendete Schulbücher vor. Die nahm er mit nach Nepal – und machte sich dann mit acht schwer bepackten Maultieren mit all diesen Büchern auf in jenes Dorf: "Die musste ich selber hinbringen. Ich hatte es versprochen. Und außerdem wollte ich das Gesicht des Schulleiters sehen."

Aus diesem pädagogischen Abenteuer wurde für Woods eine völlig neue Lebensaufgabe. Er kündigte bei Microsoft und gründete die Stictung Room to Read. Er macht nun nichts anderes mehr, als weltweit Spenden zu sammeln und Bibliotheken zu gründen:

Wir finanzierten im ersten Jahr zwei Schulen. In diesem Jahr werden es 155 sein. Mehr als drei pro Woche. Im nächsten Jahr werden es mehr als 200 sein. Das sind fast vier pro Woche. Mittlerweile besuchen 1,5 Millionen Kinder Schulen, die von Room to Read finanziert wurden. Insgesamt konnten wir dabei helfen, mehr als 440 Schulen und mehr als 5000 Bibliotheken zu bauen. Wir, das sind mittlerweile 200 feste Mitarbeiter und mehr als tausend Freiwillige.

Wie man sieht, ist Wood keineswegs aus seinem Beruf als Manager ausgstiegen – er hat nur die Firma gewechselt. Er ist erreichbar über eMail: jwood@roomtoread.org 

Ich finde das Ganze eine großartige Idee – Labyrinth hin oder her. Aber wenn ich es genau bedenke, passt so ein Unternehmen auch sonst recht gut in den L-Kontext: Wo vorher die Hilflosigkeit armer Schulkinder ohne Unterstützung herrschte, ein pädagogisches Yrrinthos gewissermaßen, beginnt jemand mit seinem engagierten Handeln, einen klaren Weg heraus aus der Misere zu schaffen. Sehr eindrucksvoll.

Literatur
Graff, Bernd: "Wenn sich Ihr Geld langweilt, geben Sie ihm meine Emailadresse" (Interview). Online-Version des Berichts in der Südd. Zeitung vom 11. Jan 2008
Wood, John: Von Microsoft in den Himalaya. Hamburg 2007 (Murmann Verlag)

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

1 Kommentar

Schreibe einen Kommentar