Plagiat oder Kryptomnesie?
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Frau Schavan ist zurückgetreten. Das ging schneller als gedacht. Und es ist wohl für alle die beste Lösung, sollte man meinen. Aber so einfach liegen die Dinge nicht. Die Zusammenhänge sind komplexer. Es gibt da noch anderes, was man beachten sollte.
(Vorbemerkung: Ich habe diesen Artikel insofern nach der Veröffentlichung hier in den SciLogs verändert, als ich ihn in zwei Beiträge aufgeteilt habe. Er erschien mir plötzlich viel zu kompliziert und verwirrend. Mea culpa. Der zweite Teil erscheint mit eigenem Titel “Kryptomnesie bei Sigmund Freud” in den nächsten Tagen.)
Die Affaire um Frau Schavan und die möglichen Folgen zeigen, dass in puncto Plagiate zunehmend eine Sensibilisierung stattfindet. Es besteht jedoch die Gefahr, dass das “Kind mit dem Bade ausgeschüttet” wird. Es muss nämlich nicht immer gleich ein Plagiat sein, wenn Plagiat draufgeschrieben wird. Mit KrUmfreQ und dem Zufall befasse ich mich in den nächsten Beiträgen. Diesmal geht es um die Kryptomnesie. Doch zunächst einmal etwas Vor-Geschichte.
Eine epochale Entdeckung, die keinen Nobelpreis bekam
Wenn Sie beim Zahnarzt sind und es so richtig weh tut – denken Sie dabei an Sigmund Freud? Wohl kaum. Aber spätestens dann, wenn die Schmerzen nachlassen, weil Ihnen eine wohltuende Spritze verabreicht wurde, sollten Sie des Begründers der Psychoanalyse gedenken. Der hatte nämlich als Erster die Idee der Lokalanästhesie. In den 1880er Jahren experimentierte er mit Kokain und entdeckte dabei die betäubende Wirkung des Alkaloids am Auge. Er setzte das segensreiche neue Verfahren unter anderem bei einer Glaukom-Operation seines eigenen Vaters am 5. April 1885 hilfreich ein. Dafür hätte man ihm in unseren Tagen wahrscheinlich den Nobelpreis zuerkannt. Nun, es ist anders gelaufen: Freud entdeckte und entwickelte die Psychoanalyse*.
* Schaut man genauer hin, entdeckt man allerdings verblüffende Analogien zwischen beiden Verfahren. Auch das Setting der Psychoanalyse ist so etwas wie eine Lokalanästhesie – wobei der Analytiker (allgemeiner: der Psychotherapeut) resp. die Übertragung vertrauensvoller Gefühle auf ihn eine Art zeitweilig angstmilderndes, gewissermaßen betäubendes Agens ist. Dieses hilft dem Analysanden auf der Couch, seinen Traumatisierungen nicht länger auszuweichen, sondern sich ihnen zu stellen und sie zu verarbeiten.
Die Chemiker entwickelten aus dem doch recht gefährlichen Kokain das Novocain und danach immer geeignetere, präziser wirkende (und vor allem nicht euphorisierende) Abwandlungen der Droge. Die Spritze, die Ihnen heutzutage der Zahnarzt setzt, ist sehr weit entfernt von dem, was Freud um 1885 verwendete. Aber nichtsdestotrotz ist er der Erfinder dieser segensreichen Medikaments; und das lange bevor er die Psychoanalyse entwickelte, die heute mit seinem Namen verbunden ist.
Doch Freuds Selbstversuche mit Kokain haben nach meinen Erkenntnissen (Details in meiner Studie Freud und das Kokain) noch etwas ganz anderes ausgelöst: Das, was er rund ein Jahrzehnt später, 1895, als Methode der Freien Assoziation bezeichnete und zu einem wesentlichen Element der Psychoanalyse machte.
(Eingebürgert hat sich seit Freud der Terminus Freie Assoziation; ich ziehe dem Freies Assoziieren vor, weil dies die tatsächliche Dynamik des Vorgangs besser hervorhebt.)
Die Kunst des Freien Assoziierens
Die Psychoanalyse ist in einer Zeit, in der an allen Ecken und Enden gespart wird, und man deshalb auch für psychische Störungen gerne Medikamente einsetzt, ziemlich in Misskredit geraten. Aber ich will mich hier nicht mit der fragwürdigen Meinung (Ideologie?), befassen, dass mit Medikamenten eine Behandlung verkürzt werden könnte von etwas, das sich in sehr langen Zeiträumen entwickelt hat – nämlich eine psychische Störung. Psychotherapie braucht Zeit und Geduld. Psychoanalysen brauchen Zeit und Geduld. Und sie brauchen vor allem angemessene Werkzeuge. Deren gibt es vor allem drei in der Psychoanalyse:
1. Die Arbeit mit dem Widerstand der Analysanden gegen genau die Einsichten, die für sie heilsam werden könnten.
2. Die Annahme (die sich bewährt hat), dass die Analysanden Gefühle von früher, aus Kindheit und Jugend, auf die sich entwickelnde Beziehung mit dem Therapeuten übertragen; man nennt dies dementsprechend Übertragung.
3. Mindestens so wichtig wie die Konzepte von Widerstand und Übertragung ist jedoch das Verfahren des Freien Assoziierens: Die Analysanden sollen, in einer Atmosphäre des Vertrauens, alles, was ihnen “durch den Kopf geht”, ohne jede Bewertung oder gar Veränderung aussprechen.
Wenn es etwas gibt, das die Psychoanalyse zu dem großartigen Werkzeug macht, das sie im günstigen Fall sein kann, dann ist es dieses Freie Assoziieren. Freud hat diese (meines Erachtens wichtigste seiner Entdeckungen / Erfindungen) nicht völlig allein, quasi aus dem Nichts heraus, erschaffen. Da gibt es durchaus eine Vorgeschichte, und zwar eine sehr komplexe:
Der Assoziationsversuch. . . war von Francis Galton (1822 – 1911) erfunden und von Wilhelm Wundt zur Feststellung von Gedankenverbindungen benutzt worden. Auch war eine Traumsymbolik zumindest seit der Romantik bekannt […] und konnte sich sogar auf eine ältere Kulturgeschichte berufen. Aber die sich später als so folgenreich erweisende Verbindung beider war eine vollkommen neue Idee*. (Peters 1989)
*C.G. Jungs Assoziations-Experiment, seine Dissertation, wäre hier ebenfalls erwähnenswert. Als Freud seine Methode entwickelte, kannte er C.G. jedoch noch gar nicht und seine Dissertation wohl auch nicht.
Ähnlichkeit mit der zen-buddhistischen Haltung der Absichtslosigkeit
Das Freie Assoziieren verwendet eine geistig-seelische Haltung, die auch im Mittelpunkt der zen-buddhistischen Meditationstechniken steht: die Absichtslosigkeit. Wer sich selbst einmal einer Psychoanalyse unterzogen hat und mit Zen ein wenig vertraut ist, wird mir zustimmen, dass beides äußerst schwierig zu erreichen und nur über einen kurzen Zeitraum aufrecht zu erhalten ist. Aber man kann es trainieren.
In meinen Schreib-Seminaren habe ich dies zu einem wesentlichen Tool gemacht: beispielsweise in der Art, dass man vor dem Schreiben einige Minuten mit geschlossenen Augen in bequemer Sitzhaltung versucht, absichtslos zu werden, bis es gewissermaßen wie “von selbst schreibt”: Ja, es schreibt, ich Autor führe nur das Schreibwerkzeug, den Stift, über das Papier.
Diese Absichtslosigkeit findet man bei der Improvisation des Jazz, beim Dada und beim Surrealismus. Schon ab 1895 verwendete Freud etwas Ähnliches bei der Bearbeitung eigener Träume im Rahmen seiner Selbstanalyse und parallel dazu in der von ihm entwickelten Methode der Psychoanalyse.
Einer seiner Biographen, Fritz Wittels, machte Freud später darauf aufmerksam, dass ein verblüffend ähnliches Verfahren schon Jahre vorher von einem Journalisten beschrieben worden sei. Dieser Ludwig Börne* schrieb 1862 einen kleinen Aufsatz, den er nannte: “Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden”. Er rät darin angehenden Dichtern, einen “originellen” Stil zu entwickeln, indem sie einfach drauflos schreiben, was ihnen gerade so in den Sinn kommt.
*Börne ist auch heutzutage noch eine bekannte Figur – so etwas wie einer der ersten deutschsprachigen Intellektuellen. Der nach ihm benannte Börne-Preis wurde dieser Tage an den Philosophen und Essayisten Peter Sloterdijk verliehen.
War dies ein Plagiat Freuds?
Nein.
Es handelt sich um die geheimnisvolle Kryptomnesie – ein unbewusstes Erinnern an einen Inhalt , den man selbst entdeckt zu haben glaubt.
Quellen
anon (DPA): “Börne-Preis für Peter Sloterdijk”. In: Südd. Zeitung Nr. 44 vom 21. Feb 2013, S. 12
Cameron, James (Regie): Avatar – Aufbruch nach Pandora. USA 2009 (Warner Bros.)
Harrison, Harry: Deathworld 1. New York 1960 (Bantam TB)
Scheidt, Jürgen vom: “Blindheit”. In: Das Monster im Park. München 1970 (Nymphenburger Verlagshandlung)
Scott, Ridley (Regie): Alien. USA 1979
Simak, Clifford D.: “Desertion”. In: ders., City. New York 1952 ((Simon and Shuster)
Vogt, Alfred E.: “Discord in Scarlet”. Astounding Sceince Ficiton 1939 (Diese Novelle wurde Teil des Romans The Voyage of the Space Beagle. New York 1950 (Simon and Shuster)
Wittels, Fritz: Sigmund Freud – der Mann, die Lehre, die Schule. Leipzig 1924 (Thieme)
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BloXikon: Freie Assoziation, Kryptomnesie, Plagiat
v4-1
Freies Assoziieren ist in der Tat ein Problem, das eng mit dem Plagiat zusammenhängt. In der Diskussion des Problems habe ich schon oft festgestellt, dass Studenten auch einfach zu unsicher sind, inwiefern freies Assoziieren oder – damit einhergehend – indirekter Quellengebrauch legitim und erlaubt sind.
Daher halte ich es für nötig, den Plagiatsbegriff disziplinspezifisch zu klären und deutlich abzugrenzen. In der Germanistik geht freie Assoziation oder Entlehnen mit ganz anderen Methoden einher als etwa in der Physik oder im Maschinenbau. Demgemäß muss auch in allen Fächern der Plagiatsvorwurf völlig unterschiedlich definiert werden – sofern man ihn denn erheben will. Wer vorab nicht erklärt hat, was der Student darf und inwiefern er sich auch unbewusste Aktionen immer wieder vor Augen halten sollte, der darf sich auch am Ende nicht über Resultate beschweren.