Minotauros-Story neu gestaltet
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Könnte man den abenteuerlichen Zweikampf von Theseus mit dem Stiermenschen im Labyrinth auch anders verstehen und gestalten als üblich? Das wurde ja schon oft variiert.
In der aktuellen Ausgabe von epoc (Heft 1/2008, S. 90) wird das flott modernisiert. Man bekommt in Ernst F. Grillinskis "Im Labyrinth des Minotaurus" einen guten Eindruck von der archaischen Auseinandersetzung, bis hin zu dem tragischen Mißverständnis, welches Theseus´ Vater das Leben kostet. Das bringt den Plot jedenfalls auf den Punkt:
Verwinkelte Gänge, unzureichend beleuchtet, und irgendwo in der Finsternis ein unbekannter Schrecken –
Das ist es doch, was den Begriff Labyrinth zu einem solchen Reizwort macht, dieses Grauen in der Dunkelheit! Friedrich Dürrenmatt hat das auch schon in packende dichterische Worte gefaßt, außerdem noch adäquat mit eigenhändigen Aquatinta-Skizzen illustriert: Minotaurus. Eine Ballade. Ein wunderbares Sammlerstück, 1985 im Diogenes-Verlag erschienen.
Federico Fellinio hat in seinem Satyricon eine völlig andere Variante entdeckt. Eine Schlüsselszene des Films zeigt die Begegnung des Helden mit dem Minotaurus in den verwinkelten Gängen einer Arena. Das Ungeheuer entpuppt sich allerdings als sehr ängstlicher Mensch mit Stiermaske, der froh ist, das der Held ihn gerade nicht tötet.
Als Fan spannender Unterhaltungsliteratur hat mich die düstere Seite des Mythos immer schon stark angesprochen. Ich war deshalb sehr verblüfft, als ich 1982 eine nochmals völlig andere Lesart kennenlernte – nicht bei einem Tiefenpsychologen oder Psychotherapeuten, wie man meinen sollte, sondern bei einem Juristen und Kunstwissenschaftler. In seinem Meisterwerk Labyrinthe hat der leider viel zu früh verstorbene Hermann Kern dies als Motto in eigenen Worten vorangestellt:
Im Labyrinth verliert man sich nicht
Im Labyrinth findet man sich
Im Labyrinth begegnet man nicht dem Minotauros
Im Labyrinth begegnet man sich selbst
Ich denke, das wird in Zukunft eine wirklich moderne Lesart der Minotauros-Geschichte sein: Das Ungeheuer – tiefenpsychologisch – als symbolische Darstellung des eigenen Schattens im Unbewußten zu verstehen. Kann man den aber töten? Oder wäre es nicht weit sinnvoller, ihn zu integrieren – ja seine urtümliche Kraft sich sogar nutzbar zu machen?
(Das ist jetzt fast ein Wort zum Sonntag geworden. Paßt zum vierten Advent).
Literatur
Dürrenmatt, Friedrich: Minotauros. Eine Ballade. Zürich 1985 (Diogenes)
Fellini, Federico (Regie): Satyricon. Italien 1968 (Grimaldi)
Kern, Hermann: Labyrinthe. Erscheinungsformen und Deutungen – 5000 Jahre Gegenwart eines Urbilds. München 1982 (Prestel)