Gefangen im Yrrinthos der Rechtschreib-Deform – knicke ich ein

BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die Suche nach dem roten Faden
Labyrinth des Schreibens

Keine Bange: dies wird kein zwischenfeiertägliches Nachtreten (in den Hintern der Rechtschreib-Deformer), sondern passend zum Labyrinth-Blog: Ein Gang durch den Irrgarten der deutschen Sprache anno 2007, mit einigen scharfen esss.

Ich knicke ein und mache nun doch mit (wenn auch mit Zähneknirschen und in der Tasche geballter Faust).

Woher meine Vorbehalte rühren? Sie stammen aus der diktatorischen, absolut undemokratischen Vorgehensweise, mit der diese unsägliche Geschichte durchgezogen wurde (s.u.). Sie stammen aus der totalen Verunsicherung, was nun maßgeblich sein soll:

° Der Duden (oh mein Gott: Tausende von roten und gelben Alternativen!!!), nach dem sich die Süddeutsche Zeitung richtet,

° oder der Wahrig, dem sich die Frankfurter Allgemeine unterwirft?

Wobei beide Zeitungsredaktionen – und jedes andere Medium und jeder Verlag – sich hauseigene Abweichungen vorbehalten!

Diese Deform strotzt ja, wie alle wissen, nur so von Ungereimtheiten (Photo, Photographie, Phantasie wird beibehalten – aber Foto und Fotografie ist auch richtig, desgl. Fantasie und Phantasie – und dann erst der Tollpatsch – eigentlich jemand, der ein wenig unbeholfen ist und keineswegs toll – stammt ja aus dem Ungarischen: tolpatsch.)

Das Bescheuertste ist jedoch die Art, wie mit dem ß umgegangen wird: Bei den scharf ausgesprochenen Wörtern wie Faß und Haß heißt es nun Fass und Hass – und bei den weich ausgesprochenen wie Gruß muss man das scharfe s (sic!) = ß verwenden! "Heiß begehrt" heißt es nun – obwohl dieses heiß genauso scharf ausgesprochen wird wie der Hass. Aber wenn man sich erkältet, wird man heiser und leidet unter Heiserkeit. Das ist eine Logik . . .

Völlig absurd wird es, wenn man die Internet-Tauglichkeit des "ß" betrachtet: es existiert dort nicht, wird immer schon als "ss" geschrieben.

Wie sagt man so treffend? "Ist es auch Irrsinn – so hat es doch (keine) Methode." Qod erat demonstrandum – oder auf Deutsch: Was zu beweisen war – für die RechtschReibReform.

Ich sollte es halten wie die Schweizer und alles mit ss schreiben; weil die auf ihren Schreibmaschinen resp. Computertastaturen gar keine ß haben. Bin ja schließlich mit einer Schweizerin verheiratet.

"Schließlich"? – nein, wird bestimmt "schliesslich" geschrieben, wird ja scharf gesprochen, oder? Nein: "schießlich" steht im Duden. Aber ich habe ja nur die Ausgabe von 1969 – schöner Vertipper: muss natürlich 1996 heissen. Gleich morgen kaufe ich mir einen neuen Duden. Ich will ja im Neuen Jahr alles richtig machen. Und der Duden-Verlag freut sich: schon wieder ein Exemplar verkauft.  (Nachtrag vom 3/12/2008: Ich habe ihn gekauft. Gut gemachtes Buch, sehr übersichtlich. Danke.)

Die ganze Chose ist ein unglaubliches Beispiel dafür, wie eine Diktatur funktioniert: Eine kleine Gruppe, die weiß was sie will, setzt sich durch – jeder Widerstand läßt sich nach kurzem Gemaule wehrlos im Keim ersticken – durch Mangel an Zivilcourage.

Das Ganze ist aber ebenso ein Beispiel für einen klassischen neurotischen Abwehrmechanismus: Verdrängung durch Ablenkung auf ein anderes Ziel: Statt diese gigantische Menge an Energie* in eine echte Schulreform zu investieren – weicht man auf einen Nebenschauplatz aus.

* Auf eine Milliarde vergeudeter Arbeitsstunden schätze ich das Abenteuer dieser Murkserei: nämlich rund 100.000.000 x 10 = rund hundert Millionen Deutschschreibende, die im Durchschnitt mindestens zehn Stunden mit dieser Umstellung verbringen müssen. Aber wahrscheinlich werden es ein paar Millionen Stunden mehr sein.

So – und wie finden wir da möglichst rasch wieder raus, aus diesem Yrrinthos? Wir könnten ja Jack Nichelson im oregonischen Labyrinth -nein: Irrgarten anrufen und ihn bitten, mal wieder seine Axt zu schultern (s. Eintrag vom 22. Nov 2007). Wäre das nicht einen Rechschreib-Killer-Krimi wert? Aber es geht auch einfacher: in den nächsten Eintrag blättern. Viel Vergnügen. Mit der neuen deutschen Schreibe. Der auch ich mich nun, zähneknirschend und die Faust in der Tasche geballt (Kotau), ab sofort unterwerfen werde. Ab 2008.

Und auch sonst alles Gute im neuen Jahr (und nie wieder ein Wort über die RRR, versprochen, großes – grosses? – Indianer-Ehrenwort.)

Ihr L-Blogger
Jürgen vom Scheidt

"Zwei Seelen wohnen a(u)ch in meiner Brust." Das Schreiben hat es mir schon in der Jugend angetan und ist seitdem Kern all meiner Tätigkeiten. Die andere „zweite Seele“ ist die praktische psychologische Arbeit plus wissenschaftlicher Verarbeitung. Nach dem Psychologiestudium seit 1971 eigene Praxis als Klinischer Psychologe. Zunächst waren es die Rauschdrogen, die mich als Wissenschaftler interessierten (Promotion 1976 mit der Dissertation "Der falsche Weg zum Selbst: Studien zur Drogenkarriere"). Seit den 1990er Jahren ist es das Thema „Hochbegabung“. Mein drittes Forschungsgebiet: Labyrinthe in allen Varianten. In der Themenzentrierten Interaktion (TZI) nach Ruth C. Cohn fand ich ein effektives Werkzeug, um mit Gruppen zu arbeiten und dort Schreiben und (Kreativitäts-)Psychologie in einer für mich akzeptablen Form zusammenzuführen. Ab 1978 Seminare zu Selbsterfahrung, Persönlichkeitsentwicklung und Creative Writing, gemeinsam mit meiner Frau Ruth Zenhäusern im von uns gegründeten "Institut für Angewandte Kreativitätspsychologie" (IAK). Als "dritte Seele" könnte ich das Thema "Entschleunigung" nennen: Es ist fundamentaler Bestandteil jeden Schreibens und jedes Ganges durch ein Labyrinth. Lieferbare Veröffentlichungen: "Kreatives schreiben - HyperWriting", "Kurzgeschichten schreiben", "Das Drama der Hochbegabten", "Zeittafel zur Psychologie von Intelligenz, Kreativität und Hochbegabung", "Blues für Fagott und zersägte Jungfrau" (eigene Kurzgeschichten), "Geheimnis der Träume" (Neuausgabe in Vorbereitung). Dr. Jürgen vom Scheidt

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