EntSchleunigung wird öffentlich
BLOG: Labyrinth des Schreibens

Die ZEIT habe ich lange nicht mehr gelesen. Aber als ich ein großes Plakat sah, das mit einem Dossier zum Thema “Entschleunigung” für das Wochenmagazin warb, konnte ich nicht widerstehen.
Ich wurde mit acht großformatigen Seiten und sechs lesenswerten Artikeln zu so disparaten Gebieten wie Börse, Politik, Physik, Leben (Bio-Wissenschaften), Psychologie und Verkehr belohnt. Der Tenor war jeweils: Da hat sich etwas enorm beschleunigt – und nun sehnen sich alle nach Verlangsamung. Nachdem ich den Neologismus Entschleunigung vor 33 Jahren in meinem Buch „Singles – Alleinsein als Chance“ eingeführt habe (was sogar die Wikipedia vermerkt), ist der Begriff also jetzt so richtig in der Öffentlichkeit angekommen. Dazu passt auch die Ausstellung zur Entschleunigung in Wolfsburg in diesem Jahr.
Entschleunigung im Schreiben
Von “Einladung zur Langsamkeit” und der “Suche nach der richtigen Geschwindigkeit” ist da die Rede sowie von der “Rückeroberung der Muße”. Was mich verwundert hat: All diesen Autoren und Journalisten, die mit so vielen klugen Beobachtungen und Gedanken zu diesem Dossier beigetragen haben, ist mit keinem Satz aufgefallen, dass ihr eigenes Metier, das Schreiben, EntSchleunigung* pur ist!
* Warum ich dieses Substantiv mit dem “S” als BinnenVersalie schreibe? Ganz einfach: Um die Aufmerksamkeit darauf zu lenken und seine Besonderheit als Neologismus zu betonen.
Ein starker Anreiz, demnächst mal zu zeigen, wie ich EntSchleunigung in meinen Schreib-Seminaren praktisch umsetze. Schreiben ist doch schon rein physisch eine Verlangsamung des Informationsflusses: Wir vermögen einfach nicht so schnell zu schreiben, wie wir reden oder gar denken können.Sobald wir beginnen, schriftlich zu formulieren, werden wir automatisch langsamer, entschleunigen wir.
Allgegenwart des Labyrinth-Mythos
Eine passende Überleitung zum Labyrinth-Thema fand ich in der ZEIT im Beitrag von Iris Radisch “Ein Tag 1000 Seiten”. Unter diesem Aspekt der Verlangsamung hatte ich den Ulysses bisher nicht betrachtet. Aber die Beobachtung von Radisch ist sehr überzeugend:
In der Schule haben wir gelernt, dass es einen Unterschied gibt zwischen »erzählter Zeit« und »Erzählzeit«. Die erste ist meistens sehr lang, die zweite viel, viel kürzer. Beispiel: Odysseus Irrfahrt nach Hause dauerte angeblich zehn Jahre, die Geschichte darüber hat man in ein paar Tagen gelesen. Die Literatur ist von alters her also ein Beschleunigungsmittel. Kaum ist jemand geboren, sinkt er ein paar Seiten weiter schon wieder ins Grab. Erst der moderne Roman tritt entschieden auf die Bremse. Das erste radikale Entschleunigungsbuch ist der Ulysses von James Joyce: Das Werk spielt an einem einzigen Tag: dem 16. Juni 1904, der auf rund tausend Seiten einfach nicht vergehen will, weil die innere Zeit ganz anders verläuft als die äußere. Aber auch die äußere Zeit lässt sich verlangsamen: Eine besonders faszinierende Zeitlupe ist der Homerun eines Baseballspielers der Giants im Spiel gegen die Dodgers im Jahr 1951; der amerikanische Autor Don DeLillo lässt den Ball in seinem Meisterwerk Unterwelt 60 Seiten lang über das Spielfeld und um die halbe Welt fliegen. Eine Hoffnung muss man jedoch enttäuschen: Entschleunigung hat in der modernen Literatur meistens nichts mit Ruhe und Beschaulichkeit zu tun. Im Gegenteil: Je langsamer die Zeit im Roman vergeht, umso schärfer sieht man, wie unglaublich viel andauernd passiert.
Wie ich andernorts schon gezeigt habe, verwendet Joyce Labyrinth-Motive auf vielfache Weise. So widmet er das zehnte der 18 Kapitel des Romans ausdrücklich dem Thema Labyrinth; darüberhinaus verweist der Name der zweiten Hauptfigur des Romans, Stephen Dedalus auf eine der wichtigsten Figuren der Labyrinthiade – nämlich auf den genialen Erfinder Daidalos Während ich mich durch die umfangreiche ZEIT kämpfte (was entschleunigt viel zu lange gedauert hätte – ich machte dies deshalb schnellstmöglich), begegnet mir das Labyrinth-Thema gleich mehrmals ganz direkt:
So regt sich der Herausgeber Josef Joffe darüber auf , dass die 7,5 Milliarden €uro, welche das Öffentlich-Rechtliche Fernsehen (sprich: ARD und ZDF) jährlich verpulvern darf, nicht sehr sinnvoll ausgegeben werden:
Über Geschmack lässt sich trefflich streiten, und die Bildungsnahen dürfen sich wahrlich über Arte freuen. Nur ist eines so gewiss wie die Zwangsabgabe: Wer sein Geld nicht selber verdienen muss, wird es verschwenden und unaufhörlich wachsen. Wer sich an einem Freitagnachmittag in einer solchen Anstalt verirrt, wird nicht wieder hinausfinden. Erstens reiht sich da ein Anbau an den nächsten. Zweitens sitzt in den Bürofluchten um diese Zeit niemand mehr, der den Ausweg aus dem Labyrinth weist.
Vollends belohnt werde ich mit meinem Lesefleiß im Feuilleton beim Schwerpunktthema “Computerspiele”:
Anders als in den Computerspielen ergeben die Drehungen und Wendungen der filmischen und literarischen Narration das, was man ein unikursales Labyrinth nennt. Ein Labyrinth, in dem wir den Ariadnefaden nicht brauchen, weil die Erzählung nur einen linear verlaufenden Weg kennt. Vom 19. Jahrhundert an haben Literaten begonnen, das als Einengung zu empfinden. Sie griffen auf ausufernde Fußnoten zurück – die aber nur vom Hauptstrang abzweigende Sackgassen sein konnten. Im 20. Jahrhundert stellten Schriftsteller verschiedene Texte nebeneinander, wie Nabokov in Pole Fire und Jacques Derrida in Glas, sodass der Leser nach Gutdünken hin und her springen kann. Raymond Queneau ersann eine Art Sonett-Maschine, die aus 10 mal 14 Zeilen bestand und Cent Mille Milliards de Poèmes für den Leser ergeben konnte, wie es der Buchtitel verspricht. Mark Saportas Composition No 1 kam schließlich als eine Art Kartenspiel daher. Man mischt die Seite und liest sie in der Reihenfolge, die sich ergibt. Auch der Hypertext der neunziger Jahre steht in dieser Tradition: Literatur auf elektronischen Datenträgern oder im Netz, bei der sich die Erzählung über Links ständig verzweigt. Ein Publikum, das über einen kleinen Kreis von Eingeweihten hinausging, haben diese Versuche allerdings nie gehabt. Erst die Computerspiele konnten auf überzeugende populäre Weise den Traum verwirklichen, das multukursale Labyrinth mit seinen unzähligen Abzweigungen, das domus Daedali* der Antike auf die narrative Ebene zu heben. [… Das Computerspiel] Grand Theft Auto: Ein jeder wird diese Spielwelt anders durchqueren und selbst das Endziel ist futsch – vergleichbar einem Flipperautomaten, wo es nur darum geht, den Ball möglichst lang in einem potenziell unendlichen Spiel zu halten.
* Das Labyrinth hier latinisiert zu “Haus des Daedalus”
In seiner Besprechung des Spiels Dishonored meint gleich danach David Hugendick:
Der Reiz des Spiels besteht darin, all diese Fertigkeiten einzusetzen, sie zu kombinieren, um die Orte zu infiltrieren, die nun einmal infiltriert werden müssen, wenn die alte Ordnung wiederhergestellt werden soll. Das ist mit großer Spannung inszeniert. Corvos Aufträge gleichen labyrinthischen Parcours, in denen der Spieler alle Fähigkeiten einsetzen muss, um sie unerkannt zu lösen, um hier ein Artefakt zu entdecken, dort etwas Munition. Auch alte Tugenden der Videospiele werden wiederbelebt: Man muss die Wege der Gegner analysieren, im richtigen Moment loslaufen, klettern, sich verstecken und den Kopf einziehen, falls man nicht plötzlich in einer adrenalisierten, blendend arrangierten Verfolgungsjagd landen möchte, umstellt von einer Übermacht feindlicher Soldaten und retrofuturistischem Kriegsgerät.
Last but not least: Eine der bekanntesten und erfolgreichsten Herstellerfirmen für Computerspiele heißt nicht zufällig Daedalic – Daidalos, der Erbauer des Labyrinths und griechisches Erfindergenie, lässt grüßen. (Bulban und Trotier 2012).
Mag sein, dass ich auch in weiteren Artikeln dieser Ausgabe der ZEIT noch fündig geworden wäre. Aber ich habe es einfach nicht geschafft, Ulrich Greiners Ermunterung “Mehr Zeit für die Zeit” auf S. 64 zu folgen – mit der er die Beschwerde eines Lesers zu entkräften versucht, dass “unsere Zeitung zu dick ist”. Sie ist definitiv zu dick – aber Greiner erlaubt mir ja, das “Blatt nicht zur Gänze” zu lesen.
Von der Entschleunigung zur Absichtslosigkeit
In einigen meiner nächsten Beiträge werde ich zeigen, wie diese EntSchleunigung in meinen Seminaren ganz praktisch vonstatten geht. Das Ziel ist dabei, eine Absichtslosigkeit ähnlich der zu erreichen, die der Adept des Zen-Buddhismus anstrebt. Ich meine jenen Zustand, im dem man vorübergehend nur eine Art ausführendes Instrument ist und man das Gefühl hat, dass “es von selbst schreibt”.
Wer das selbst nie erlebt hat, wird dies für Unsinn halten. Wer es kennt, dem muss ich das nicht weiter erklären. In meinen Seminaren lässt es sich kennenlernen und üben. Doch davon demnächst mehr.
Quellen
Bulban, Franziska und Kilian Trotier: “Wir können auch Kunst!” In: Zeit Nr. 50 vom 06. Dez 2012, S. 66 (Feuilleton: Schwerpunkt Computerspiele)
Greiner, Ulrich: “Mehr Zeit für die Zeit”. In: Zeit Nr. 50 vom 06. Dez 2012, S. 64 (Dossier “Entschleunigung”)
Hugendick, David: “Pazifismus lohnt sich”. In: Zeit Nr. 50 vom 06. Dez 2012, S. 66 (Feuilleton: Schwerpunkt Computerspiele)
Joffe, Josef: “Hartz IV fürs Fernsehen”. In: Zeit Nr. 50 vom 06. Dez 2012, S. 16 (Politik) Probst, Maximilian: “Ballern ist nicht alles”. In: Zeit Nr. 50 vom 06. Dez 2012, S. 65 (Feuilleton: Schwerpunkt Computerspiele) Radisch, Iris: “Ein Tag 1000 Seiten”. In: Zeit Nr. 50 vom 06. Dez 2012, S. 57-64 (Dossier “Entschleunigung”)
Scheidt, Jürgen vom: Singles: Alleinsein als Chance. München 1979 (Heyne TB), Unterkapitel “Entschleunigung” auf S. 98
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