50 Karteikarten und ein literarischer Konflikt
BLOG: Labyrinth des Schreibens
Vladimir Nabokov (1899-1977), berühmter Verfasser von Lolita und einigen anderen bedeutenden Werken, hat seinen Erben ein schwieriges Problem hinterlassen: Das Fragment eines Romans mit dem Arbeitstitel: The Original of Laura.
In seinem Testament verfügte er, dass dieses unvollendete Manuskript in Form von 50 Karteikarten nach seinem Tod zu verbrennen sei. Dem widersetzte sich schon seine Witwe Vera (verstorben 1991); immerhin handelt es sich um ein – wenn auch unfertiges – Werk eines der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.
Sein Sohn Dmitiri hat sich dieser väterlichen Verfügung bislang ebenfalls widersetzt. Doch nun droht er, diese 50 Karten zu vernichten, die außer ihm noch niemand gelesen hat. Er ist nämlich verärgert darüber, wie manche Literaturwissenschaftler das bislang schon veröffentlichte Werk seines Vaters interpretieren. Einerseits macht er die Welt neugierig, indem er behauptet, es handle sich um das Brillanteste, was Nabokov sen. geschrieben habe – andrerseits droht er eben diese Kostbarkeit zu zerstören. Der seltsame Konflikt veranlaßt Iloma Mangold in der Süddeutschen Zeitung zu folgender Überlegung:
Große Literatur eröffnet unabsehbare Interpretationsräume. Natürlich auch Interpretationslabyrinthe, in denen man sich verlaufen kann. Diese kann man nicht blockieren, indem man mit einem Geheimwissen ex cathedra die einzig wahre Lehre verkündet.
Die Welt ist voller Überraschungen: So etwas wie ein Interpretationslabyrinth ist mir in all den Jahren meiner Labyrinthomania noch nicht begegnet.
Bemerkenswert finde ich außerdem die ungewöhnliche Schreibtechnik des Alttmeisters. Karteikarten sind mir vertraut als praktische Datenträger für Notizen – aber einen ganzen Roman darauf schreiben! (Naja – es wird ein sehr kurzer roman sein – oder vielleicht nur die exposéartigen Skizzen dazu? Aber kann man daraus auf die Brillanz des fertigen Produkts schließen? Seltsame Geschichte.)
Quelle: Mangold, Iloma: "Lesen ist Macht". In: Südd. Zeitung vom 18. Jan 2008