Seelenkunde aus dem Geist der Seelsorge – Immanuel David Mauchart

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Denk-Geschichte(n) des Glaubens
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Pfarrer der letzten Jahrhunderte haben auf vielfältige Weise Anstöße und Beiträge zu verschiedensten wissenschaftlichen Bereichen eingebracht – in Naturwissenschaften, Geschichtswissenschaften, Humanwissenschaften. Oft neben ihrem Beruf her, zum eigenen Erkenntnisgewinn, oft auch um der Volksbildung willen. Sie waren gewiss nicht nur „Kandidaten des Jenseits“. Einer, der seine wissenschaftlichen Beiträge als notwendige Erfüllung seines Berufs sah, ist Immanuel David Mauchart, 1764–1826, schwäbischer Pfarrer und Pionier in psychologischer Forschung: Er hat Lebenserfahrungen, die er als Seelsorger und Pädagoge sammelte, verknüpft mit der „Erfahrungsseelenkunde“, wie die Psychologie damals hieß.
Darüber liegt jetzt in einem 900-seitigen Buch – mit weiteren fast 50 Seiten Bibliographie und Registern – eine Untersuchung vor: Peter Sindlinger, „Lebenserfahrung(en) und Erfahrungsseelenkunde oder Wie der Württemberger Pfarrer Immanuel David Mauchart die Psychologie entdeckt“.

Mauchart - Sindlinger

Sindlinger bettet seine Darstellung des Mauchartschen Lebenswerks ein in eine sehr detaillierte Schilderung der damaligen Zeit, der gesellschaftlichen Schichtungen und des geistigen Milieus im bildungsbeflissenen schwäbischen Bürgertum und der Akademikerschaft – zwischen Kanzel und Katheder, zwischen pietistischer Herzensfrömmigkeit und Aufklärung und deren durchaus bemerkenswerten Verschränkungen. Es ist so ein Beitrag zur Kirchengeschichte und zur Verarbeitung aufklärerischer Gedanken in der lebenspraktischen Umsetzung der Theologie jener Zeit.
Mauchart, aus Professorenfamilien stammend und durch eine relativ aufgeklärte Erziehung im bürgerlichen Milieu Tübingens selbstbewusst genug, ist schon als Student der Theologie und Philosophie, etwas außerhalb der vorgesehenen Curricula, dem in Berlin 1783–1793 von Karl Philipp Moritz herausgegebenen „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ begegnet. Dieses habe ihn „aus seinem ‚dogmatischen Schlummer’ “ aufgeweckt und angeregt dazu, genauer darauf zu sehen, wie und warum die konkreten Menschen anders sind als die idealtypischen. Er selber brachte sich dort mit Beiträgen ein und findet dafür in wichtigen Rezensionsorganen positive Anerkennung.
Ja, er wurde im Lauf seines Berufs, nahe bei den Menschen, durch eigenes Beobachten und Sammeln, auch kritische Selbstbeobachtung, und durch systematisches Ordnen zu einem Schrittmacher empirisch-wissenschaftlicher Psychologie:
Während vorher in der „Seelenkunde“ – als Unterdisziplin der Philosophie und unter deren Vorgaben – krankhafte Seelenzustände als merkwürdige Besonderheiten katalogartig erfasst und als Erkenntnis-, Gefühls- und Begehrungsvermögen systematisiert wurden, nahm Mauchart  die Kranken als geschädigte Menschen, als individuelle Persönlichkeiten ernst. Er lernte – zunächst durch das Werk Moritz’, dann immer mehr durch eigenes Beobachten, Hineinhören und Befragen der Lebensgeschichten und durch Zurückverfolgen bis zu den frühkindlichen Erfahrungen –, ihre Krankheiten aufgrund der biographischen, auch soziologischen Wirkzusammenhänge zu verstehen und zu analysieren. Und er fand hierfür unter Kommilitonen, Pfarrern, Ärzten und anderen Kollegen seines Standes Weggenossen und Mitstreiter. In Württemberg entstand so ein Netzwerk zur psychologischen Forschung, das in der vorliegenden Arbeit erstmals neben solche in Berlin, Jena oder Halle gestellt wird. 1792 wurde Mauchart zudem Mitglied in der „Literarischen Gesellschaft zu Halberstadt“, in der psychologische, philosophische, pädagogische und historische Werke diskutiert und veröffentlicht wurden.

Sein Hauptwerk
trägt den Titel „Allgemeines Repertorium für empirische Psychologie und verwandte Wissenschaften“ und bietet in sechs Bänden und über 2000 Druckseiten ein bemerkenswertes Kaleidoskop an Fallgeschichten, die das menschlichen Innenleben und dessen Abgründe ausleuchten: Träume, Trunkenheit, Wahnsinn, Täuschung der Phantasie, Mord und Selbstmord sind einige Themen, die dargestellt und analysiert werden.  
Dies fand quer durch Deutschland in wissenschaftlichen Kreisen bemerkenswerte Beachtung. Merkwürdig, dass heute dennoch dieses Lebenswerk weithin vergessen ist und erst durch das gründliche Forschen Peter Sindlingers vor Ort, besonders im Studienumfeld Maucharts, in Tübingen, und am hauptsächlichen Wirkungsort (als Pfarrer und später Dekan) in Nürtingen – dazu  in Universitäts- und Staatsarchiven und im württembergischen Landeskirchlichen Archiv – wieder in seinen Zeit- und Denkverflechtungen breit dargestellt und als richtungweisend sowohl für die Psychologie und die Pädagogik als auch für die Seelsorge erkannt wurde. Dass mit Mauchart nicht nur eine große, heutzutage weitgehend unbekannte, Person der Wissenschaftsgeschichte sichtbar wird, sondern mit vorliegender Arbeit auch ein Stück Vorgeschichte des Deutschen Idealismus geschrieben wird, ist der Tatsache geschuldet, dass Mauchart als Repetent am Tübinger Stift auch Hegel, Hölderlin und Schelling unterrichtet hat.

Sicher, er hatte bei allem nicht nur ein starkes pädagogisches und aufklärerisches Interesse, sondern versuchte auch die obrigkeitlichen Erwartungen und die der kirchlichen Leitungsbehörde zu erfüllen, „die offenbar ein nachdrückliches Interesse an eine durch Menschenkenntnis und Seelenlehre ‚unterfütterten’, funktionierenden Seelsorge“ hatte. Dass da über manches die Zeit hinweg ging, ist vielleicht nicht sehr schade. Aber es ist an der Zeit zu erkennen, wie die Wurzeln späterer – und als bedeutender eingestufter – Psychologen zurückreichen auch zu dem, was dieser durch Menschenkenntnis Gelehrte in mühevoller Kleinarbeit und in aufmerksamem Sammeln erst einmal eruiert hat. Daraus konnten dann andere schöpfen und die großen Entwürfe in Psychologie und Pädagogik bringen.
So trägt das Buch Peter Sindlingers bei zum Respekt gegenüber einem schwäbischen Pfarrer, der eigentlich nichts anderes tun wollte als mit seinen psychologischen Forschungen seine Aufgaben als Seelsorger und Pädagoge recht zu erfüllen und Zeitgenossen in dieser Richtung hellsichtiger, aufmerksamer zu machen. Man hätte es auch mit „Die Geburt des Seelenkunde aus dem Geist der Seelsorge“ betiteln können.

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Veröffentlicht von

Hermann Aichele Jahrgang 1945. Studium evang. Theologie in Tübingen, Göttingen und Marburg (1964-70), Pfarrer in Württemberg, jetzt im Ruhestand. Hinter die Kulissen der Religion allgemein und besonders des in den christlichen Kirchen verkündeten Glaubens zu sehen, das war bereits schon in der Zeit vor dem Studium mein Interesse: Ich möchte klären, was gemeint ist mit den Vorstellungen des Glaubens, deren Grundmaterialien vor Jahrtausenden geformt wurden - mit deren Über-Setzung für uns Heutige man es sich keinesfalls zu leicht machen darf und denen gegenüber auch Menschen von heute nicht zu leicht fertig sein sollten.

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